Kapitel II

Das Volkstribunat und die Decemvirn

[264] Die Altbürgerschaft war durch die neue Gemeindeordnung auf gesetzlichem Wege in den vollen Besitz der politischen Macht gelangt. Herrschend durch die zu ihrer Dienerin herabgedrückte Magistratur, vorwiegend im Gemeinderate, im Alleinbesitze aller Ämter und Priestertümer, ausgerüstet mit der ausschließlichen Kunde der göttlichen und menschlichen Dinge und mit der ganzen Routine politischer Praxis, einflußreich in der Gemeindeversammlung durch den starken Anhang fügsamer und den einzelnen Familien anhänglicher Leute, endlich befugt jeden Gemeindebeschluß zu prüfen und zu verwerfen, konnten die Patrizier die faktische Herrschaft noch auf lange Zeit sich bewahren, eben weil sie rechtzeitig auf die gesetzliche Alleingewalt verzichtet hatten. Zwar mußten die Plebejer ihre politische Zurücksetzung schwer empfinden; allein von der rein politischen Opposition hatte der Adel unzweifelhaft zunächst nicht viel zu besorgen, wenn er es verstand die Menge, die nichts verlangt als gerechte Verwaltung und Schutz der materiellen Interessen, dem politischen Kampfe fern zu halten. In der Tat finden wir in der ersten Zeit nach der Vertreibung der Könige verschiedene Maßregeln, welche bestimmt waren oder doch bestimmt schienen den gemeinen Mann für das Adelsregiment besonders von der ökonomischen Seite zu gewinnen: es wurden die Hafenzölle herabgesetzt, bei hohem Stand der Kornpreise große Quantitäten Getreide für Rechnung des Staats aufgekauft und der Salzhandel zum Staatsmonopol gemacht, um den Bürgern Korn und Salz zu billigen Preisen abgeben zu können, endlich das Volksfest um einen Tag verlängert. In denselben Kreis gehört die schon erwähnte Vorschrift hinsichtlich der Vermögensbußen (S. 248), die nicht bloß im allgemeinen dem gefährlichen Brüchrecht der Beamten Schranken zu setzen [264] bestimmt, sondern auch in bezeichnender Weise vorzugsweise auf den Schutz des kleinen Mannes berechnet war. Denn wenn dem Beamten untersagt ward an demselben Tag denselben Mann um mehr als zwei Schafe und um mehr als dreißig Rinder außer mit Gestattung der Provokation zu büßen, so kann die Ursache dieser seltsamen Ansätze wohl nur darin gefunden werden, daß für den kleinen nur einige Schafe besitzenden Mann ein anderes Maximum nötig schien als für den reichen Rinderherdenbesitzer – eine Rücksichtnahme auf Reichtum oder Armut der Gebüßten, von der neuere Gesetzgebungen lernen könnten. Allein diese Ordnungen halten sich auf der Oberfläche; die Grundströmung geht vielmehr nach der entgegengesetzten Richtung. Mit der Verfassungsänderung leitet in den finanziellen und ökonomischen Verhältnissen Roms eine umfassende Revolution sich ein. Das Königsregiment hatte wahrscheinlich der Kapitalmacht prinzipiell keinen Vorschub getan und die Vermehrung der Bauerstellen nach Kräften gefördert; die neue Adelsregierung dagegen scheint von vornherein auf die Zerstörung der Mittelklassen, namentlich des mittleren und kleinen Grundbesitzes, und auf die Entwickelung einerseits einer Herrschaft der Grund- und Geldherren, anderseits eines ackerbauenden Proletariats ausgegangen zu sein.

Schon die Minderung der Hafenzölle, obwohl im allgemeinen eine populäre Maßregel, kam vorzugsweise dem Großhandel zu gute. Aber ein noch viel größerer Vorschub geschah der Kapitalmacht durch das System der indirekten Finanzverwaltung. Es ist schwer zu sagen, worauf dasselbe in seinen letzten Gründen beruht; mag es aber auch an sich bis in die Königszeit zurückreichen, so mußte doch seit der Einführung des Konsulats teils der schnelle Wechsel der römischen Beamten, teils die Erstreckung der finanziellen Tätigkeit des Ärars auf Geschäfte, wie der Ein- und Verkauf von Korn und Salz, die Wichtigkeit der vermittelnden Privattätigkeit steigern und damit den Grund zu jenem Staatspächtersystem legen, das in seiner Entwickelung für das römische Gemeinwesen so folgenreich wie verderblich geworden ist. Der Staat gab nach und nach alle seine indirekten Hebungen und alle komplizierteren Zahlungen und Verrichtungen in die Hände von Mittelsmännern, die eine Bauschsumme gaben oder empfingen und dann für ihre Rechnung wirtschafteten. Natürlich konnten nur bedeutende Kapitalisten und, da der Staat streng auf dingliche Sicherheit sah, hauptsächlich nur große Grundbesitzer sich hierbei beteiligen, und so erwuchs eine Klasse von Steuerpächtern [265] und Lieferanten, die in dem reißend schnellen Wachstum ihrer Opulenz, in der Gewalt über den Staat, dem sie zu dienen schienen, und in dem widersinnigen und sterilen Fundament ihrer Geldherrschaft den heutigen Börsenspekulanten vollkommen vergleichbar sind. Aber zunächst und am empfindlichsten offenbarte sich die vereinbarte Richtung der finanziellen Verwaltung in der Behandlung der Gemeindeländereien, die so gut wie geradezu hinarbeitete auf die materielle und moralische Vernichtung der Mittelklassen. Die Nutzung der gemeinen Weide und der Staatsdomänen überhaupt war ihrer Natur nach ein bürgerliches Vorrecht; das formelle Recht schloß den Plebejer von der Mitbenutzung des gemeinen Angers aus. Da indes, abgesehen von dem Übergang in das Privateigentum oder der Assignation, das römische Recht feste und gleich dem Eigentum zu respektierende Nutzungsrechte einzelner Bürger am Gemeinlande nicht kannte, so hing es, so lange das Gemeinland Gemeinland blieb, lediglich von der Willkür des Königs ab den Mitgenuß zu gestatten und zu begrenzen, und es ist nicht zu bezweifeln, daß er von diesem seinem Recht oder wenigstens seiner Macht häufig zu Gunsten von Plebejern Gebrauch gemacht hat. Aber mit der Einführung der Republik wird der Satz wieder scharf betont, daß die Nutzung der Gemeinweide von Rechts wegen bloß dem Bürger besten Rechts, das heißt dem Patrizier zusteht; und wenn auch der Senat zu Gunsten der reichen in ihm mitvertretenen plebejischen Häuser nach wie vor Ausnahmen zuließ, so wurden doch die kleinen plebejischen Ackerbesitzer und die Tagelöhner, die eben die Weide am nötigsten brauchten, in dem Mitgenuß beeinträchtigt. Es war ferner bisher für das auf die gemeine Weide aufgetriebene Vieh ein Hutgeld erlegt worden, das zwar mäßig genug war um das Recht auf diese Weide zu treiben immer noch als Vorrecht erscheinen zu lassen, aber doch dem gemeinen Seckel eine nicht unansehnliche Einnahme abwarf. Die patrizischen Quästoren erhoben dasselbe jetzt säumig und nachsichtig und ließen allmählich es ganz schwinden. Bisher hatte man, namentlich wenn durch Eroberung neue Domänen gewonnen waren, regelmäßig Landauslegungen angeordnet, bei denen alle ärmeren Bürger und Insassen berücksichtigt wurden; nur dasjenige Land, das zum Ackerbau sich nicht eignete, ward zu der gemeinen Weide geschlagen. Diese Assignationen wagte man zwar nicht ganz zu unterlassen und noch weniger sie bloß zu Gunsten der Reichen vorzunehmen; allein sie wurden seltener und karger und an ihre Stelle trat das verderbliche Okkupationssystem, das [266] heißt die Überlassung der Domänengüter nicht zum Eigentum oder zur förmlichen Pacht auf bestimmte Zeitfrist, sondern zur Sondernutzung bis weiter an den ersten Okkupanten und dessen Rechtsnachfolger, sodaß dem Staate die Rücknahme jederzeit freistand und der Inhaber die zehnte Garbe oder von Öl und Wein den fünften Teil des Ertrages an die Staatskasse abzuliefern hatte. Es war dies nichts anderes als das früher beschriebene Precarium (S. 189) angewandt auf Staatsdomänen und mag, namentlich als transitorische Einrichtung bis zur Durchführung der Assignation, auch früher schon bei dem Gemeinlande vorgekommen sein. Jetzt indes wurde dieser Okkupationsbesitz nicht bloß dauernd, sondern es griffen auch, wie natürlich, nur die privilegierten Personen oder deren Günstlinge zu und der Zehnte und Fünfte ward mit derselben Lässigkeit eingetrieben wie das Hutgeld. So traf den mittleren und kleinen Grundbesitz ein dreifacher Schlag: die gemeinen Bürgernutzungen gingen ihm verloren; die Steuerlast stieg dadurch, daß die Domanialgefälle nicht mehr ordentlich in die gemeine Kasse flossen; und die Landauslegungen stockten, die für das agrikole Proletariat, etwa wie heutzutage ein großartiges und fest reguliertes Emigrationssystem es tun würde, einen dauernden Abzugskanal gebildet hatten. Dazu kam die wahrscheinlich schon jetzt beginnende Großwirtschaft, welche die kleinen Ackerklienten vertrieb und statt deren durch Feldsklaven das Gut nutzte; ein Schlag, der schwerer abzuwenden und wohl verderblicher war als alle jene politischen Usurpationen zusammengenommen. Die schweren zum Teil unglücklichen Kriege, die dadurch herbeigeführten unerschwinglichen Kriegssteuern und Fronden taten das übrige, um den Besitzer entweder geradezu vom Hof zu bringen und ihn zum Knecht, wenn auch nicht zum Sklaven seines Schuldherrn zu machen, oder ihn durch Überschuldung tatsächlich zum Zeitpächter seiner Gläubiger herabzudrücken. Die Kapitalisten, denen hier ein neues Gebiet einträglicher und mühe- und gefahrloser Spekulation sich eröffnete, vermehrten teils auf diesem Wege ihr Grundeigentum, teils ließen sie dem Bauer, dessen Person und Gut das Schuldrecht ihnen in die Hände gab, den Namen des Eigentümers und den faktischen Besitz. Das letztere war wohl das Gewöhnlichste wie das Verderblichste; denn mochte damit für den einzelnen der äußerste Ruin abgewandt sein, so drohte dagegen diese prekäre von der Gnade des Gläubigers jederzeit abhängige Stellung des Bauern, bei der derselbe vom Eigentum nichts als die Lasten trug, den ganzen Bauernstand zu demoralisieren[267] und politisch zu vernichten. Die Absicht des Gesetzgebers, als er statt der hypothekarischen Schuld den sofortigen Übergang des Eigentums auf den Gläubiger anordnete, der Überschuldung zuvorzukommen und die Lasten des Staats den wirklichen Inhabern des Grundes und Bodens aufzuwälzen (S. 157), ward umgangen durch das strenge persönliche Kreditsystem, das für Kaufleute sehr zweckmäßig sein mochte, die Bauern aber ruinierte. Hatte die freie Teilbarkeit des Bodens schon immer die Gefahr eines überschuldeten Ackerbauproletariats nahegelegt, so mußte unter solchen Verhältnissen, wo alle Lasten stiegen, alle Abhilfen sich versperrten, die Not und die Hoffnungslosigkeit unter der bäuerlichen Mittelklasse mit entsetzlicher Raschheit um sich greifen.

Der Gegensatz der Reichen und Armen, der aus diesen Verhältnissen hervorging, fällt keineswegs zusammen mit dem der Geschlechter und Plebejer. War auch der bei weitem größte Teil der Patrizier reich begütert, so fehlte es doch natürlich auch unter den Plebejern nicht an reichen und ansehnlichen Familien, und da der Senat, der schon damals vielleicht zur größeren Hälfte aus Plebejern bestand, selbst mit Ausschließung der patrizischen Magistrate die finanzielle Oberleitung an sich genommen hatte, so ist es begreiflich, daß alle jene ökonomischen Vorteile, zu denen die politischen Vorrechte des Adels mißbraucht wurden, den Reichen insgesamt zu gute kamen und der Druck auf dem gemeinen Mann umso schwerer lastete, als durch den Eintritt in den Senat die tüchtigsten und widerstandsfähigsten Personen aus der Klasse der Unterdrückten übertraten in die der Unterdrücker. – Hierdurch aber ward die politische Stellung des Adels auf die Dauer unhaltbar. Hätte er es über sich vermocht gerecht zu regieren und den Mittelstand geschützt, wie es einzelne Konsuln aus seiner Mitte versuchten, ohne bei der herabgedrückten Stellung der Magistratur durchdringen zu können, so konnte er sich noch lange im Alleinbesitz der Ämter behaupten. Hätte er es vermocht die reichen und ansehnlichen Plebejer zu voller Rechtsgleichheit zuzulassen, etwa an den Eintritt in den Senat die Gewinnung des Patriziats zu knüpfen, so mochten beide noch lange ungestraft regieren und spekulieren. Allein es geschah keines von beiden: die Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit, die eigentlichen und unverlierbaren Privilegien alles echten Junkertums, verleugneten sich auch in Rom nicht und zerrissen die mächtige Gemeinde in nutz-, ziel- und ruhmlosem Hader.

[268] Indes die nächste Krise ging nicht von den ständisch Zurückgesetzten aus, sondern von der notleidenden Bauerschaft. Die zurechtgemachten Annalen setzen die politische Revolution in das Jahr 244 [510], die soziale in die Jahre 259 [495] und 260 [494]; sie scheinen allerdings sich rasch gefolgt zu sein, doch ist der Zwischenraum wahrscheinlich länger gewesen. Die strenge Übung des Schuldrechts – so lautet die Erzählung – erregte die Erbitterung der ganzen Bauerschaft. Als im Jahre 259 für einen gefahrvollen Krieg die Aushebung veranstaltet [495] ward, weigerte sich die pflichtige Mannschaft dem Gebot zu folgen. Wie darauf der Konsul Publius Servilius die Anwendung der Schuldgesetze vorläufig suspendierte und sowohl die schon in Schuldhaft sitzenden Leute zu entlassen befahl als auch den weiteren Lauf der Verhaftungen hemmte, stellten die Bauern sich und halfen den Sieg erfechten. Heimgekehrt vom Schlachtfeld brachte der Friede, den sie erstritten hatten, ihnen ihren Kerker und ihre Ketten wieder; mit erbarmungsloser Strenge wandte der zweite Konsul Appius Claudius die Kreditgesetze an und der Kollege, den seine früheren Soldaten um Hilfe anriefen, wagte nicht sich zu widersetzen. Es schien, als sei die Kollegialität nicht zum Schutz des Volkes eingeführt, sondern zur Erleichterung des Treubruchs und der Despotie; indes man litt was nicht zu ändern war. Als aber im folgenden Jahr sich der Krieg erneuerte, galt das Wort des Konsuls nicht mehr. Erst dem ernannten Diktator Manius Valerius fügten sich die Bauern, teils aus Scheu vor der höheren Amtsgewalt, teils im Vertrauen auf seinen populären Sinn – die Valerier waren eines jener alten Adelsgeschlechter, denen das Regiment ein Recht und eine Ehre, nicht eine Pfründe dünkte. Der Sieg war wieder bei den römischen Feldzeichen; aber als die Sieger heimkamen und der Diktator seine Reformvorschläge dem Senat vorlegte, scheiterten sie an dem hartnäckigen Widerstand des Senats. Noch stand das Heer beisammen, wie üblich vor den Toren der Stadt; als die Nachricht hinauskam, entlud sich das lange drohende Gewitter – der Korpsgeist und die geschlossene militärische Organisation rissen auch die Verzagten und Gleichgültigen mit fort. Das Heer verließ den Feldherrn und seine Lagerstatt und zog, geführt von den Legionskommandanten, den wenigstens großenteils plebejischen Kriegstribunen, in militärischer Ordnung in die Gegend von Crustumeria zwischen Tiber und Anio, wo es einen Hügel besetzte und Miene machte in diesem fruchtbarsten Teil des römischen Stadtgebiets eine neue Plebejerstadt zu gründen. Dieser Abmarsch [269] tat selbst den hartnäckigsten Pressern auf eine handgreifliche Art dar, daß ein solcher Bürgerkrieg auch mit ihrem ökonomischen Ruin enden müsse; der Senat gab nach. Der Diktator vermittelte das Verträgnis; die Bürger kehrten zurück in die Stadtmauern; die äußerliche Einheit ward wieder hergestellt. Das Volk nannte den Manius Valerius seitdem ›den Großen‹ (maximus) und den Berg jenseit des Anio ›den heiligen‹. Wohl lag etwas Gewaltiges und Erhebendes in dieser ohne feste Leitung unter den zufällig gegebenen Feldherren von der Menge selbst begonnenen und ohne Blutvergießen durchgeführten Revolution, und gern und stolz erinnerten sich ihrer die Bürger. Empfunden wurden ihre Folgen durch viele Jahrhunderte; ihr entsprang das Volkstribunat.

Außer den transitorischen Bestimmungen, namentlich zur Abstellung der drückendsten Schuldnot und zur Versorgung einer Anzahl Landleute durch Gründung verschiedener Kolonien, brachte der Diktator verfassungsmäßig ein Gesetz durch, welches er überdies noch, ohne Zweifel um den Bürgern wegen ihres gebrochenen Fahneneides Amnestie zu sichern, von jedem einzelnen Gemeindeglied beschwören und sodann in einem Gotteshause niederlegen ließ unter Aufsicht und Verwahrung zweier besonders dazu aus der Plebs bestellter Beamten, der beiden ›Hausherren‹ (aediles). Dies Gesetz stellte den zwei patrizischen Konsuln zwei plebejische Tribune zur Seite, welche die nach Kurien versammelten Plebejer zu wählen hatten. Gegen das militärische Imperium, das heißt gegen das der Diktatoren durchaus und gegen das der Konsuln außerhalb der Stadt, vermochte die tribunizische Gewalt nichts; der bürgerlichen ordentlichen Amtsgewalt aber, wie die Konsuln sie übten, trat die tribunizische unabhängig gegenüber, ohne daß doch eine Teilung der Gewalten stattgefunden hätte. Die Tribune erhielten das Recht, welches dem Konsul gegen den Konsul und umso mehr gegen den niederen Beamten zustand (S. 247), das heißt das Recht jeden von den Beamten erlassenen Befehl, durch den der davon betroffene Bürger sich verletzt hielt, auf dessen Anweisung durch ihren rechtzeitig und persönlich eingelegten Protest zu vernichten und ebenso jeden von einem Beamten an die Bürgerschaft gerichteten Antrag nach Ermessen zu hemmen oder zu kassieren, das ist das Recht der Interzession oder das sogenannte tribunizische Veto.

Es lag also in der tribunizischen Gewalt zunächst das Recht die Verwaltung und die Rechtspflege willkürlich zu hemmen, dem Militärpflichtigen es möglich zu machen sich straflos der Aushebung [270] zu entziehen, die Klageerhebung und die Rechtsvollstreckung gegen den Schuldner, die Einleitung des Kriminalprozesses und die Untersuchungshaft des Angeschuldigten zu verhindern oder aufzuheben und was dessen mehr war. Damit diese Rechtshilfe nicht durch die Abwesenheit der Helfer vereitelt werde, war ferner verordnet, daß der Tribun keine Nacht außerhalb der Stadt zubringen dürfe und Tag und Nacht seine Tür offen stehen müsse. Weiter lag es in der Gewalt des Volkstribunats der Beschlußfassung der Gemeinde, die ja andernfalls kraft ihres souveränen Rechts die von ihr der Plebs verliehenen Privilegien ohne weiteres hätte zurücknehmen können, durch ein einziges Wort eines einzelnen Tribunen Schranken zu setzen. – Aber diese Rechte wären wirkungslos gewesen, wenn nicht gegen den, der sich nicht daran kehrte, insonderheit gegen den zuwiderhandelnden Magistrat dem Volkstribun eine augenblicklich wirkende und unwiderstehliche Zwangsgewalt zugestanden hätte. Es ward ihm diese in der Form erteilt, daß das Zuwiderhandeln gegen den seines Rechts sich bedienenden Tribun, vor allen Dingen das Vergreifen an seiner Persönlichkeit, welche auf dem heiligen Berg jeder Plebejer Mann für Mann für sich und seine Nachkommen geschworen hatte für jetzt und alle Zukunft vor jeder Unbill zu schützen, ein todeswürdiges Verbrechen sein sollte und die Handhabung dieser Kriminaljustiz nicht den Magistraten der Gemeinde, sondern denen der Plebs übertragen ward. Kraft dieses seines Richteramts konnte der Tribun jeden Bürger, vor allem den Konsul im Amte, zur Verantwortung ziehen, ihn, wenn er nicht freiwillig sich stellte, greifen lassen, ihn in Untersuchungshaft setzen oder Bürgschaftstellung ihm gestatten und alsdann auf Tod oder Geldbuße erkennen. Zu diesem Zweck standen die beiden zugleich bestellten Ädilen des Volkes den Tribunen als Diener und Gehilfen zur Seite, zunächst um die Verhaftung zu bewirken, weshalb auch ihnen dieselbe Unangreifbarkeit durch den Gesamteid der Plebejer versichert ward. Außerdem hatten die Ädilen selbst gleich den Tribunen, aber nur für die geringeren mit Bußen sühnbaren Sachen, richterliche Befugnis. Ward gegen den tribunizischen oder ädilizischen Spruch Berufung eingelegt, so ging diese nicht an die Gesamtbürgerschaft, mit der zu verhandeln die Beamten der Plebs überall nicht befugt waren, sondern an die Gesamtheit der Plebejer, die in diesem Fall nach Kurien zusammentrat und durch Stimmenmehrheit endgültig entschied. – Dies Verfahren war allerdings mehr ein Gewalt- als ein Rechtsakt, zumal wenn es gegen einen Nichtplebejer [271] angewandt ward, wie dies doch eben in der Regel der Fall sein mußte. Es war weder mit dem Buchstaben noch mit dem Geist der Verfassung irgend zu vereinigen, daß der Patrizier von Behörden zur Rechenschaft gezogen ward, die nicht der Bürgerschaft, sondern einer innerhalb der Bürgerschaft gebildeten Assoziation vorstanden, und daß er gezwungen ward, statt an die Bürgerschaft, an eben diese Assoziation zu appellieren. Dies war ursprünglich ohne Frage Lynchjustiz; aber die Selbsthilfe vollzog sich wohl von jeher in Form Rechtens und wurde seit der gesetzlichen Anerkennung des Volkstribunats als rechtlich statthaft betrachtet. – Der Absicht nach war diese neue Gerichtsbarkeit der Tribune und der Ädilen und die daraus hervorgehende Provokationsentscheidung der Plebejerversammlung ohne Zweifel ebenso an die Gesetze gebunden wie die Gerichtsbarkeit der Konsuln und Quästoren und der Spruch der Centurien auf Provokation; die Rechtsbegriffe des Verbrechens gegen die Gemeinde (S. 148) und der Ordnungswidrigkeit (S. 149) wurden von der Gemeinde und deren Magistraten auf die Plebs und deren Vorsteher übertragen. Indes diese Begriffe waren selbst so wenig fest und deren gesetzliche Begrenzung so schwierig, ja unmöglich, daß die auf diese Kategorien hin geübte Justizpflege schon an sich den Stempel der Willkür fast unvermeidlich an sich trug. Seit nun aber gar in den ständischen Kämpfen die Idee des Rechts sich selber getrübt hatte und seit die gesetzlichen Parteiführer beiderseits mit einer konkurrierenden Gerichtsbarkeit ausgestattet waren, mußte diese mehr und immer mehr der reinen Willkürpolizei sich nähern. Namentlich traf dieselbe den Beamten. Bisher unterlag derselbe nach römischem Staatsrecht, solange er Beamter war, überhaupt keiner Gerichtsbarkeit und wenn er auch nach Niederlegung seines Amtes rechtlich für jede seiner Handlungen zur Verantwortung hatte gezogen werden können, so lag doch die Handhabung dieses Rechts in den Händen seiner Standesgenossen und schließlich der Gesamtgemeinde, zu der diese ebenfalls gehörten. Jetzt trat in der tribunizischen Gerichtsbarkeit eine neue Macht auf, welche einerseits gegen den höchsten Beamten schon während der Amtsführung einschreiten konnte, anderseits gegen die adligen Bürger ausschließlich durch die nicht adligen gehandhabt ward, und die umso drückender war, als weder das Verbrechen noch die Strafe gesetzlich formuliert wurden. Der Sache nach ward durch die konkurrierende Gerichtsbarkeit der Plebs und der Gemeinde Gut, Leib und Leben der Bürger dem willkürlichen Belieben der Parteiversammlungen preisgegeben. – In [272] die Ziviljurisdiktion haben die plebejischen Institutionen nur insofern eingegriffen, als in den für die Plebs so wichtigen Freiheitsprozessen den Konsuln die Geschwornenernennung entzogen ward und die Sprüche hier erfolgten von den besonders dafür bestimmten Zehnmänner-Richtern (iudices decemviri, später decemviri litibus iudicandis). – An die konkurrierende Jurisdiktion schloß sich weiter die Konkurrenz in der gesetzgebenden Initiative. Das Recht die Mitglieder zu versammeln und Beschlüsse derselben zu bewirken stand den Tribunen schon insofern zu, als ohne dasselbe überhaupt keine Assoziation gedacht werden kann. Ihnen aber ward dasselbe in der eminenten Weise verliehen, daß das autonomische Versammlungs- und Beschlußrecht der Plebs gesetzlich sicher gestellt war vor jedem Eingriff der Magistrate der Gemeinde, ja der Gemeinde selbst. Allerdings war es die notwendige Vorbedingung der rechtlichen Anerkennung der Plebs überhaupt, daß die Tribune nicht daran gehindert werden konnten ihre Nachfolger von der Versammlung der Plebs wählen zu lassen und die Bestätigung ihrer Kriminalsentenz durch dieselbe zu bewirken; und es ward ihnen denn dieses Recht auch durch das icilische Gesetz (262 [492]) noch besonders gewährleistet und jedem, der dabei dem Tribun ins Wort falle oder das Volk auseinander gehen heiße, eine schwere Strafe gedroht. Daß demnach dem Tribun nicht gewehrt werden konnte auch andere Anträge als die Wahl seines Nachfolgers und die Bestätigung seiner Urteilssprüche zur Abstimmung zu bringen, leuchtet ein. Gültige Volksschlüsse waren derartige ›Beliebungen der Menge‹ (plebi scita) zwar eigentlich nicht, sondern anfänglich nicht viel mehr als die Beschlüsse unserer heutigen Volksversammlungen; allein da der Unterschied zwischen den Komitien des Volkes und den Konzilien der Menge denn doch mehr formaler Natur war, ward wenigstens von plebejischer Seite die Gültigkeit derselben als autonomischer Festsetzungen der Gemeinde sofort in Anspruch genommen und zum Beispiel gleich das icilische Gesetz auf diesem Wege durchgesetzt. – So war der Tribun des Volks bestellt dem einzelnen zu Schirm und Schutz, allen zur Leitung und Führung, versehen mit unbeschränkter richterlicher Gewalt im peinlichen Verfahren, um also seinem Befehl Nachdruck geben zu können, endlich selbst persönlich für unverletzlich (sacrosanctus) erklärt, indem wer sich an ihm oder seinem Diener vergriff, nicht bloß den Göttern verfallen galt, sondern auch bei den Menschen als nach rechtlich erwiesenem Frevel des Todes schuldig.

[273] Die Tribune der Menge (tribuni plebis) sind hervorgegangen aus den Kriegstribunen und führen von diesen ihren Namen; rechtlich aber haben sie weiter zu ihnen keinerlei Beziehung. Vielmehr stehen der Gewalt nach die Volkstribune und die Konsuln sich gleich. Die Appellation vom Konsul an den Tribun und das Interzessionsrecht des Tribuns gegen den Konsul ist, wie schon gesagt ward, durchaus gleichartig der Appellation vom Konsul an den Konsul und der Interzession des einen Konsuls gegen den andern und beide sind nichts als eine Anwendung des allgemeinen Rechtssatzes, daß zwischen zwei Gleichberechtigten der Verbietende dem Gebietenden vorgeht. Auch die ursprüngliche allerdings bald vermehrte Zahl und die Jahresdauer des Amtes, welches für die Tribune jedesmal am 10. Dezember wechselte, sind den Tribunen mit den Konsuln gemein, ebenso die eigentümliche Kollegialität, die in jedes einzelnen Konsuls und in jedes einzelnen Tribunen Hand die volle Machtfülle des Amtes legt und bei Kollisionen innerhalb des Kollegiums nicht die Stimmen zählt, sondern das Nein dem Ja vorgehen läßt – weshalb, wo der Tribun verbietet, das Verbot des einzelnen trotz des Widerspruchs der Kollegen genügt, wo er dagegen anklagt, er durch jeden seiner Kollegen gehemmt werden kann. Konsuln und Tribune haben beide volle und konkurrierende Kriminaljurisdiktion, wenn auch jene dieselbe mittelbar, diese unmittelbar ausüben; wie jenen die beiden Quästoren, stehen diesen die beiden Ädilen hierin zur Seite6. Die Konsuln sind notwendig Patrizier, die Tribune notwendig Plebejer. Jene haben die vollere Macht, diese die unumschränktere, denn ihrem Verbot und ihrem Gericht fügt sich der Konsul, nicht aber dem Konsul sich der Tribun. So ist die tribunizische Gewalt das Abbild der konsularischen; sie ist aber nicht minder ihr Gegenbild. Die Macht der Konsuln ist wesentlich positiv, die der Tribune wesentlich negativ. Nur die [274] Konsuln sind Magistrate des römischen Volkes, nicht die Tribune; denn jene erwählt die gesamte Bürgerschaft, diese nur die plebejische Assoziation. Zum Zeichen dessen erscheint der Konsul öffentlich mit dem den Gemeindebeamten zukommenden Schmuck und Gefolge, die Tribune aber sitzen auf der Bank anstatt des Wagenstuhls und ermangeln der Amtsdiener, des Purpursaumes und überhaupt jedes Abzeichens der Magistratur; sogar im Gemeinderat hat der Tribun weder den Vorsitz noch auch nur den Beisitz. So ist in dieser merkwürdigen Institution dem absoluten Befehlen das absolute Verbieten in der schärfsten und schroffsten Weise gegenübergestellt; das war die Schlichtung des Haders, daß die Zwietracht der Reichen und der Armen gesetzlich festgestellt und geordnet ward.

Aber was war erreicht damit, daß man die Einheit der Gemeinde brach, daß die Beamten einer unsteten und von allen Leidenschaften des Augenblicks abhängigen Kontrollbehörde unterworfen wurden, daß auf den Wink eines einzelnen der auf den Gegenthron gehobenen Oppositionshäupter die Verwaltung im gefährlichsten Augenblick zum Stocken gebracht werden konnte, daß man die Kriminalrechtspflege, indem, man alle Beamte dazu konkurrierend bevollmächtigte, gleichsam gesetzlich aus dem Recht in die Politik verwies und sie für alle Zeiten verdarb? Es ist wohl wahr, daß das Tribunat wenn nicht unmittelbar zur politischen Ausgleichung der Stände beigetragen, so doch als eine mächtige Waffe in der Hand der Plebejer gedient hat, als diese bald darauf die Zulassung zu den Gemeindeämtern begehrten. Aber die eigentliche Bestimmung des Tribunats war dieses nicht. Nicht dem politisch privilegierten Stande ward es abgerungen, sondern den reichen Grund- und Kapitalherren; es sollte dem gemeinen Mann billige Rechtspflege sichern und eine zweckmäßigere Finanzverwaltung herbeiführen. Diesen Zweck hat es nicht erfüllt und konnte es nicht erfüllen. Der Tribun mochte einzelnen Unbilden, einzelnen schreienden Härten steuern; aber der Fehler lag nicht im Unrecht, das man Recht hieß, sondern im Rechte, welches ungerecht war: und wie konnte der Tribun die ordentliche Rechtspflege regelmäßig hemmen? hätte er es gekonnt, so war auch damit noch wenig geholfen, wenn nicht die Quellen der Verarmung verstopft wurden, die verkehrte Besteuerung, das schlechte Kreditsystem, die heillose Okkupation der Domänen. Aber hieran wagte man sich nicht, offenbar weil die reichen Plebejer selbst an diesen Mißbräuchen kein minderes Interesse [275] hatten als die Patrizier. So gründete man diese seltsame Magistratur, deren handgreiflicher Beistand dem gemeinen Mann einleuchtete und die doch die notwendige ökonomische Reform unmöglich durchsetzen konnte. Sie ist kein Beweis politischer Weisheit, sondern ein schlechtes Kompromiß zwischen dem reichen Adel und der führerlosen Menge. Man hat gesagt, das Volkstribunat habe Rom vor der Tyrannis bewahrt. Wäre dies wahr, so würde es wenig bedeuten; die Änderung der Staatsform ist an sich für ein Volk kein Unheil, und für das römische war es vielmehr ein Unglück, daß die Monarchie zu spät eingeführt ward nach Erschöpfung der physischen und geistigen Kräfte der Nation. Es ist aber nicht einmal richtig, wie schon das beweist, daß die italischen Staaten ebenso regelmäßig ohne Tyrannis geblieben sind wie sie in den hellenischen regelmäßig aufstanden. Der Grund liegt einfach darin, daß die Tyrannis überall die Folge des allgemeinen Stimmrechts ist und daß die Italiker länger als die Griechen die nicht grundsässigen Bürger von den Gemeindeversammlungen ausschlossen; als Rom hievon abging, blieb auch die Monarchie nicht aus, ja knüpfte eben an das tribunizische Amt. Daß das Volkstribunat auch genützt hat, indem es der Opposition gesetzliche Bahnen wies und manche Verkehrtheit abwehrte, wird niemand verkennen; aber ebensowenig, daß, wo es sich nützlich erwies, es für ganz andere Dinge gebraucht ward als wofür man es begründet hatte. Das verwegene Experiment den Führern der Opposition ein verfassungsmäßiges Veto einzuräumen und sie mit der Macht es rücksichtslos geltend zu machen auszustatten, bleibt ein Notbehelf, der den Staat politisch aus den Angeln gehoben und die sozialen Mißstände durch nutzlose Palliative hingeschleppt hat.

Indes man hatte den Bürgerkrieg organisiert; er ging seinen Gang. Wie zur Schlacht standen die Parteien sich gegenüber, jede unter ihren Führern; Beschränkung der konsularischen, Erweiterung der tribunizischen Gewalt ward auf der einen, die Vernichtung des Tribunats auf der andern Seite angestrebt; die gesetzlich straflos gemachte Insubordination, die Weigerung sich zur Landesverteidigung zu stellen, die Buß- und Strafklagen namentlich gegen Beamte, die die Rechte der Gemeinde verletzt oder auch nur ihr Mißfallen erregt hatten, waren die Waffen der Plebejer, denen die Junker Gewalt und Einverständnisse mit den Landesfeinden, gelegentlich auch den Dolch des Meuchelmörders entgegensetzten; auf den Straßen kam es zum [276] Handgemenge und hüben und drüben vergriff man sich an der Heiligkeit der Magistratspersonen. Viele Bürgerfamilien sollen ausgewandert sein und in den benachbarten Gemeinden einen friedlicheren Wohnsitz gesucht haben; und man mag es wohl glauben. Es zeugt von dem starken Bürgersinn im Volk, nicht daß es diese Verfassung sich gab, sondern daß es sie ertrug und die Gemeinde trotz der heftigsten Krämpfe dennoch zusammenhielt. Das bekannteste Ereignis aus diesen Ständekämpfen ist die Geschichte des Gnaeus Marcius, eines tapferen Adligen, der von Coriolis Erstürmung den Beinamen trug. Er soll im Jahr 263 [491], erbittert über die Weigerung der Centurien ihm das Konsulat zu übertragen, beantragt haben, wie einige sagen, die Einstellung der Getreideverkäufe aus den Staatsmagazinen, bis das hungernde Volk auf das Tribunat verzichte; wie andere berichten, geradezu die Abschaffung des Tribunats. Von den Tribunen auf Leib und Leben angeklagt, habe er die Stadt verlassen, indes nur um zurückzukehren an der Spitze eines volskischen Heeres; jedoch im Begriff seine Vaterstadt für den Landesfeind zu erobern habe das ernste Wort der Mutter sein Gewissen gerührt und also sei von ihm der erste Verrat durch einen zweiten gesühnt worden und beide durch den Tod. Wieviel darin wahr ist, läßt sich nicht entscheiden; aber alt ist die Erzählung, aus der die naive Impertinenz der römischen Annalisten eine vaterländische Glorie gemacht hat, und sie öffnet den Einblick in die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen Kämpfe. Ähnlichen Schlages ist der Überfall des Kapitols durch eine Schar politischer Flüchtlinge, geführt von dem Sabiner Appius Herdonius im Jahr 294 [460]; sie riefen die Sklaven zu den Waffen und erst nach heißem Kampf und mit Hilfe der herbeigeeilten Tusculaner ward die römische Bürgerwehr der catilinarischen Bande Meister. Denselben Charakter fanatischer Erbitterung tragen andere Ereignisse dieser Zeit, deren geschichtliche Bedeutung in den lügenseligen Familienberichten sich nicht mehr erfassen läßt; so das Übergewicht des fabischen Geschlechtes, das von 269 bis 275 [485-479] den einen Konsul stellte, und die Reaktion dagegen, die Auswanderung der Fabier aus Rom und ihre Vernichtung durch die Etrusker am Cremera (277 [477]). Noch entsetzlicher war die Ermordung des Volkstribuns Gnaeus Genucius, der es gewagt hatte zwei Konsulare zur Rechenschaft zu ziehen und der am Morgen des für die Anklage anberaumten Tages tot im Bette gefunden ward (281 [473]). Die unmittelbare Folge dieser Untat war das publilische Gesetz, [277] eines der folgenreichsten, das die römische Geschichte kennt. Zwei der wichtigsten Ordnungen, die Einführung der plebejischen Tribusversammlung und die wenngleich bedingte Gleichstellung des Plebiscits mit dem förmlichen von der ganzen Gemeinde beschlossenen Gesetz, gehen, jene gewiß, diese wahrscheinlich zurück auf den Antrag [471] des Volkstribunen Volero Publilius vom J. 283. Die Plebs hatte bis dahin ihre Beschlüsse nach Kurien gefaßt; demnach war in diesen ihren Sonderversammlungen teils ohne Unterschied des Vermögens und der Ansässigkeit bloß nach Köpfen abgestimmt worden, teils hatten, infolge des im Wesen der Kurienversammlung liegenden Zusammenstehens der Geschlechtsgenossen, die Klienten der großen Adelsfamilien in der Plebejerversammlung miteinander gestimmt. Der eine wie der andere Umstand gab dem Adel vielfache Gelegenheit Einfluß auf diese Versammlung zu üben und besonders die Wahl der Tribune in seinem Sinne zu lenken; beides fiel fortan weg durch die neue Abstimmungsweise nach Quartieren. Deren waren in der servianischen Verfassung zum Zweck der Aushebung vier gebildet worden, die Stadt und Land gleichmäßig umfaßten (S. 90); späterhin – vielleicht im Jahr 259 [495] – hatte man das römische Gebiet in zwanzig Distrikte eingeteilt, von denen die ersten vier die Stadt und deren nächste Umgebung umfaßten, die übrigen sechzehn mit Zugrundelegung der Geschlechtergaue des ältesten römischen Ackers aus dem Landgebiet gebildet wurden (S. 35). Zu diesen wurde, wahrscheinlich erst infolge des publilischen Gesetzes und um die für die Abstimmung wünschenswerte Ungleichheit der Gesamtzahl der Stimmabteilungen herbeizuführen, als einundzwanzigste Tribus die crustuminische hinzugefügt, die ihren Namen von dem Orte trug, wo die Plebs als solche sich konstituiert und das Tribunat gestiftet hatte (S. 269), und fortan fanden die Sonderversammlungen der Plebs nicht mehr nach Kurien statt, sondern nach Tribus. In diesen Abteilungen, die durchaus auf dem Grundbesitz beruhten, stimmten ausschließlich die ansässigen Leute, diese jedoch ohne Unterschied der Größe des Grundbesitzes und so wie sie in Dörfern und Weilern zusammen wohnten; es war also diese Tribusversammlung, die im übrigen äußerlich der nach Kurien geordneten nachgebildet ward, recht eigentlich eine Versammlung des unabhängigen Mittelstandes, von der einerseits die Freigelassenen und Klienten der großen Mehrzahl nach als nicht ansässige Leute ausgeschlossen waren, und in der anderseits der größere Grundbesitz nicht so wie in den Centurien [278] überwog. Eine allgemeine Bürgerschaftsversammlung war diese ›Zusammenkunft der Menge‹ (concilium plebis) noch weniger als die plebejische Kurienversammlung, da sie nicht bloß wie diese die sämtlichen Patrizier, sondern auch die nicht grundsässigen Plebejer ausschloß; aber die Menge war mächtig genug um es durchzusetzen, daß ihr Beschluß dem von den Centurien gefaßten rechtlich gleichgelte, falls er vorher vom Gesamtsenat gebilligt worden war. Daß diese letzte Bestimmung schon vor Erlaß der zwölf Tafeln gesetzlich feststand, ist gewiß; ob man sie gerade bei Gelegenheit des publilischen Plebiscits eingeführt hat, oder ob sie bereits vorher durch irgend eine andere verschollene Satzung ins Leben gerufen und auf das publilische Plebiscit nur angewendet worden ist, läßt sich nicht mehr ausmachen. Ebenso bleibt es ungewiß, ob durch dies Gesetz die Zahl der Tribune von zwei auf vier vermehrt ward oder dies bereits vorher geschehen war. – Einsichtiger angelegt als alle diese Parteimaßregeln war der Versuch des Spurius Cassius die finanzielle Allmacht der Reichen zu brechen und damit den eigentlichen Quell des Übels zu verstopfen. Er war Patrizier und keiner tat es in seinem Stande an Rang und Ruhm ihm zuvor; nach zwei Triumphen, im dritten Konsulat (268 [486]) brachte er an die Bürgergemeinde den Antrag das Gemeindeland vermessen zu lassen und es teils zum Besten des öffentlichen Schatzes zu verpachten, teils unter die Bedürftigen zu verteilen; das heißt er versuchte die Entscheidung über die Domänen dem Senat zu entreißen und gestützt auf die Bürgerschaft dem egoistischen Okkupationssystem ein Ende zu machen. Er mochte meinen, daß die Auszeichnung seiner Persönlichkeit, die Gerechtigkeit und Weisheit der Maßregel durchschlagen werde selbst in diesen Wogen der Leidenschaftlichkeit und der Schwäche; allein er irrte. Der Adel erhob sich wie ein Mann; die reichen Plebejer traten auf seine Seite; der gemeine Mann war mißvergnügt, weil Spurius Cassius, wie Bundesrecht und Billigkeit geboten, auch den latinischen Eidgenossen bei der Assignation ihr Teil geben wollte. Cassius mußte sterben; es ist etwas Wahres in der Anklage, daß er königliche Gewalt sich angemaßt habe, denn freilich versuchte er gleich den Königen gegen seinen Stand die Gemeinfreien zu schirmen. Sein Gesetz ging mit ihm ins Grab, aber das Gespenst desselben stand seitdem den Reichen unaufhörlich vor Augen und wieder und wieder stand es auf gegen sie, bis unter den Kämpfen darüber das Gemeinwesen zu Grunde ging.

[279] Da ward noch ein Versuch gemacht die tribunizische Gewalt dadurch zu beseitigen, daß man dem gemeinen Mann die Rechtsgleichheit auf einem geregelteren und wirksameren Wege sicherte. Der Volkstribun Gaius Terentilius Arsa beantragte im J. 292 [462] die Ernennung einer Kommission von fünf Männern zur Entwerfung eines gemeinen Landrechts, an das die Konsuln künftighin in ihrer richterlichen Gewalt gebunden sein sollten. Aber der Senat weigerte sich diesem Vorschlag seine Sanktion zu geben und es vergingen zehn Jahre, ehe derselbe zur Ausführung kam – Jahre des heißesten Ständekampfes, welche überdies vielfach bewegt waren durch Kriege und innere Unruhen; mit gleicher Hartnäckigkeit hinderte die Adelspartei die Zulassung des Gesetzes im Senat und ernannte die Gemeinde wieder und wieder dieselben Männer zu Tribunen. Man versuchte durch andere Konzessionen den Angriff zu beseitigen: im Jahre 297 [457] ward die Vermehrung der Tribune von vier auf zehn bewilligt – freilich ein zweifelhafter Gewinn –; im folgenden Jahre durch ein icilisches Plebiscit, das aufgenommen ward unter die beschworenen Privilegien der Gemeinde, der Aventin, bisher Tempelhain und unbewohnt, unter die ärmeren Bürger zu Bauplätzen erblichen Besitzes aufgeteilt. Die Gemeinde nahm was ihr geboten ward, allein sie hörte nicht auf das Landrecht zu fordern. Endlich im Jahre 300 [454] kam ein Vergleich zustande; der Senat gab in der Hauptsache nach. Die Abfassung des Landrechts wurde beschlossen; es sollten dazu außerordentlicher Weise zehn Männer von den Centurien gewählt werden, welche zugleich als höchste Beamte anstatt der Konsuln zu fungieren hatten (decemviri consulari imperio legibus scribundis) und zu diesem Posten sollten nicht bloß Patrizier, sondern auch Plebejer wahlfähig sein. Diese wurden hier zum erstenmal, freilich nur für ein außerordentliches Amt, als wählbar bezeichnet. Es war dies ein großer Schritt vorwärts zu der vollen politischen Gleichberechtigung und er war nicht zu teuer damit erkauft, daß das Volkstribunat aufgehoben, das Provokationsrecht für die Dauer des Decemvirats suspendiert und die Zehnmänner nur verpflichtet wurden die beschworenen Freiheiten der Gemeinde nicht anzutasten. Vorher indes wurde noch eine Gesandtschaft nach Griechenland geschickt um die solonischen und andere griechische Gesetze heimzubringen und erst nach deren Rückkehr wurden für das Jahr 303 [451] die Zehnmänner gewählt. Obwohl es freistand auch Plebejer zu ernennen, so traf doch die Wahl auf lauter [280] Patrizier – so mächtig war damals noch der Adel – und erst als eine abermalige Wahl für 304 [450] nötig ward, wurden auch einige Plebejer gewählt – die ersten nicht adligen Beamten, die die römische Gemeinde gehabt hat. – Erwägt man diese Maßregeln in ihrem Zusammenhang, so kann kaum ein anderer Zweck ihnen untergelegt werden als die Beschränkung der konsularischen Gewalt durch das geschriebene Gesetz an die Stelle der tribunizischen Hilfe zu setzen. Von beiden Seiten mußte man sich überzeugt haben, daß es nicht so bleiben konnte wie es war, und die Permanenzerklärung der Anarchie wohl die Gemeinde zu Grunde richtete, aber in der Tat und Wahrheit dabei für niemand etwas herauskam. Ernsthafte Leute mußten einsehen, daß das Eingreifen der Tribune in die Administration sowie ihre Anklägertätigkeit schlechterdings schädlich wirkten und der einzige wirkliche Gewinn, den das Tribunat dem gemeinen Mann gebracht hatte, der Schutz gegen parteiische Rechtspflege war, indem es als eine Art Kassationsgericht die Willkür des Magistrats beschränkte. Ohne Zweifel ward, als die Plebejer ein geschriebenes Landrecht begehrten, von den Patriziern erwidert, daß dann der tribunizische Rechtsschutz überflüssig werde; und hierauf scheint von beiden Seiten nachgegeben zu sein. Es ist vielleicht nie bestimmt ausgesprochen worden, wie es werden sollte nach Abfassung des Landrechts; aber an dem definitiven Verzicht der Plebs auf das Tribunat ist nicht zu zweifeln, da dieselbe durch das Decemvirat in die Lage kam nicht anders als auf ungesetzlichem Wege das Tribunat zurückgewinnen zu können. Die der Plebs gegebene Zusage, daß ihre beschworenen Freiheiten nicht angetastet werden sollten, kann bezogen werden auf die vom Tribunat unabhängigen Rechte der Plebejer, wie die Provokation und der Besitz des Aventin. Die Absicht scheint gewesen zu sein, daß die Zehnmänner bei ihrem Rücktritt dem Volke vorschlagen sollten die jetzt nicht mehr nach Willkür, sondern nach geschriebenem Recht urteilenden Konsuln wiederum zu wählen.

Der Plan, wenn er bestand, war weise; es kam darauf an, ob die leidenschaftlich erbitterten Gemüter hüben und drüben diesen friedlichen Austrag annehmen würden. Die Decemvirn des Jahres 303 [451] brachten ihr Gesetz vor das Volk und von diesem bestätigt wurde dasselbe, in zehn kupferne Tafeln eingegraben, auf dem Markt an der Rednerbühne vor dem Rathaus angeschlagen. Da indes noch ein Nachtrag erforderlich schien, so ernannte man auf das Jahr 304 [450] wieder Zehnmänner, die noch zwei Tafeln hinzufügten; so entstand das erste [281] und einzige römische Landrecht, das Gesetz der zwölf Tafeln. Es ging aus einem Kompromiß der Parteien hervor und kann schon darum tiefgreifende über nebensächliche und bloße Zweckmäßigkeitsbestimmungen hinausgehende Änderungen des bestehenden Rechts nicht wohl enthalten haben. Sogar im Kreditwesen trat keine weitere Milderung ein, als daß ein – wahrscheinlich niedriges – Zinsmaximum (10 Prozent) festgestellt und der Wucherer mit schwerer Strafe – charakteristisch genug mit einer weit schwereren als der Dieb – bedroht ward; der strenge Schuldprozeß blieb wenigstens in seinen Hauptzügen ungeändert. Änderungen der ständischen Rechte waren begreiflicherweise noch weniger beabsichtigt; der Rechtsunterschied zwischen steuerpflichtigen und vermögenlosen Bürgern, die Ungültigkeit der Ehe zwischen Adligen und Bürgerlichen wurden vielmehr aufs neue im Stadtrecht bestätigt, ebenso zur Beschränkung der Beamtenwillkür und zum Schutz des Bürgers ausdrücklich vorgeschrieben, daß das spätere Gesetz durchaus dem früheren vorgehen und daß kein Volksschluß gegen einen einzelnen Bürger erlassen werden solle. Am bemerkenswertesten ist die Ausschließung der Provokation an die Tribuskomitien in Kapitalsachen, während die an die Centurien gewährleistet ward; was sich daraus erklärt, daß die Strafgerichtsbarkeit von der Plebs und ihren Vorstehern in der Tat usurpiert war (S. 271) und mit dem Tribunat auch der tribunizische Kapitalprozeß notwendig fiel, während es vielleicht die Absicht war den ädilizischen Multprozeß beizubehalten. Die wesentliche politische Bedeutung lag weit weniger in dem Inhalt des Weistums als in der jetzt förmlich festgestellten Verpflichtung der Konsuln nach diesen Prozeßformen und diesen Rechtsregeln Recht zu sprechen, und in der öffentlichen Aufstellung des Gesetzbuchs, wodurch die Rechtsverwaltung der Kontrolle der Publizität unterworfen und der Konsul genötigt ward allen gleiches und wahrhaft gemeines Recht zu sprechen.

Der Ausgang des Decemvirats liegt in tiefem Dunkel. Es blieb – so wird berichtet – den Zehnmännern nur noch übrig die beiden letzten Tafeln zu publizieren und alsdann der ordentlichen Magistratur Platz zu machen. Sie zögerten indes; unter dem Vorwande, daß das Gesetz noch immer nicht fertig sei, führten sie selbst nach Ablauf des Amtsjahres ihr Amt weiter, was insofern möglich war, als nach römischem Staatsrecht die außerordentlicherweise zur Revision der Verfassung berufene Magistratur durch die ihr gesetzte Endfrist rechtlich [282] nicht gebunden werden kann. Die gemäßigte Fraktion der Aristokratie, die Valerier und Horatier an ihrer Spitze, soll versucht haben im Senat die Abdankung der Decemvirn zu erzwingen; allein das Haupt der Zehnmänner, Appius Claudius, von Haus aus ein starrer Aristokrat, aber jetzt umschlagend zum Demagogen und zum Tyrannen, gewann das Übergewicht im Senat und auch das Volk fügte sich. Die Aushebung eines doppelten Heeres ward ohne Widerspruch vollzogen und der Krieg gegen die Volsker wie gegen die Sabiner begonnen. Da wurde der gewesene Volkstribun Lucius Siccius Dentatus, der tapferste Mann in Rom, der in hundertundzwanzig Schlachten gefochten und fünfundvierzig ehrenvolle Narben aufzuzeigen hatte, tot vor dem Lager gefunden, meuchlerisch ermordet wie es hieß auf Anstiften der Zehnmänner. Die Revolution gärte in den Gemütern; zum Ausbruch brachte sie der ungerechte Wahrspruch des Appius in dem Prozeß um die Freiheit der Tochter des Centurionen Lucius Verginius, der Braut des gewesenen Volkstribuns Lucius Icilius, welcher Spruch das Mädchen den Ihrigen entriß, um sie unfrei und rechtlos zu machen und den Vater bewog seiner Tochter auf offenem Markt das Messer selber in die Brust zu stoßen, um sie der gewissen Schande zu entreißen. Während das Volk erstarrt ob der unerhörten Tat die Leiche des schönen Mädchens umstand, befahl der Decemvir seinen Bütteln den Vater und alsdann den Bräutigam vor seinen Stuhl zu führen, um ihm, von dessen Spruch keine Berufung galt, sofort Rede zu stehen wegen ihrer Auflehnung gegen seine Gewalt. Nun war das Maß voll. Geschützt von den brausenden Volksmassen entziehen der Vater und der Bräutigam des Mädchens sich den Häschern des Gewaltherrn, und während in Rom der Senat zittert und schwankt, erscheinen die beiden mit zahlreichen Zeugen der furchtbaren Tat in den beiden Lagern. Das Unerhörte wird berichtet; vor allen Augen öffnet sich die Kluft, die der mangelnde tribunizische Schutz in der Rechtssicherheit gelassen hat und was die Väter getan, wiederholen die Söhne. Abermals verlassen die Heere ihre Führer; sie ziehen in kriegerischer Ordnung durch die Stadt und abermals auf den heiligen Berg, wo sie abermals ihre Tribune sich ernennen. Immer noch weigern die Decemvirn die Niederlegung ihrer Gewalt; da erscheint das Heer mit seinen Tribunen in der Stadt und lagert sich auf dem Aventin. Jetzt endlich, wo der Bürgerkrieg schon da war und der Straßenkampf stündlich beginnen konnte, jetzt entsagen die Zehnmänner ihrer angemaßten und entehrten Gewalt und die Konsuln [283] Lucius Valerius und Marcus Horatius vermitteln einen zweiten Vergleich, durch den das Volkstribunat wieder hergestellt wurde. Die Anklagen gegen die Decemvirn endigten damit, daß die beiden schuldigsten, Appius Claudius und Spurius Oppius, im Gefängnis sich das Leben nahmen, die acht andern ins Exil gingen und der Staat ihr Vermögen einzog. Weitere gerichtliche Verfolgungen hemmte der kluge und gemäßigte Volkstribun Marcus Duilius durch den rechtzeitigen Gebrauch seines Veto.

So lautet die Erzählung, wie der Griffel der römischen Aristokraten sie aufgezeichnet hat; unmöglich aber kann, auch von den Nebenumständen abgesehen, die große Krise, der die zwölf Tafeln entsprangen, in solche romantische Abenteuerlichkeiten und politische Unbegreiflichkeiten ausgelaufen sein. Das Decemvirat war nach der Abschaffung des Königtums und der Einsetzung des Volkstribunats der dritte große Sieg der Plebs und die Erbitterung der Gegenpartei gegen die Institution wie gegen ihr Haupt Appius Claudius ist erklärlich genug. Die Plebejer hatten damit das passive Wahlrecht zu dem höchsten Gemeindeamt und das gemeine Landrecht errungen; und nicht sie waren es, die Ursache hatten sich gegen die neue Magistratur aufzulehnen und mit Waffengewalt das rein patrizische Konsularregiment zu restaurieren. Dies Ziel kann nur von der Adelspartei verfolgt worden sein, und wenn die patrizisch-plebejischen Decemvirn den Versuch gemacht haben sich über die Zeit hinaus im Amte zu behaupten, so ist sicherlich dagegen in erster Reihe der Adel in die Schranken getreten; wobei er freilich nicht versäumt haben wird geltend zu machen, daß ja auch der Plebs ihre verbrieften Rechte geschmälert, insbesondere das Tribunat ihr genommen sei. Gelang es dann dem Adel die Decemvirn zu beseitigen, so ist es allerdings begreiflich, daß nach deren Sturz die Plebs jetzt abermals in Waffen zusammentrat, um die Ergebnisse sowohl der früheren Revolution von 260 wie auch der jüngsten Bewegung sich zu sichern; und nur als Kompromiß in diesem Konflikt lassen die valerisch-horatischen Gesetze von 305 [449] sich verstehen. Der Vergleich fiel wie natürlich durchaus zu Gunsten der Plebejer aus und beschränkte abermals in empfindlicher Weise die Gewalt des Adels. Daß das Volkstribunat wieder hergestellt, das dem Adel abgedrungene Stadtrecht definitiv festgehalten und die Konsuln danach zu richten verpflichtet wurden, versteht sich von selbst. Durch das Stadtrecht verloren allerdings die Tribus die angemaßte Gerichtsbarkeit in Kapitalsachen; allein die[284] Tribüne erhielten sie zurück, indem ein Weg gefunden ward ihnen für solche Fälle die Verhandlung mit den Centurien möglich zu machen. Überdies blieb ihnen in dem Recht auf Geldbußen unbeschränkt zu erkennen und diesen Spruch an die Tribuskomitien zu bringen ein ausreichendes Mittel die bürgerliche Existenz des patrizischen Gegners zu vernichten. Es ward ferner auf Antrag der Konsuln von den Centurien beschlossen, daß künftig jeder Magistrat, also auch der Diktator bei seiner Ernennung verpflichtet werden solle der Provokation stattzugeben; wer dem zuwider einen Beamten ernannte, büßte mit dem Kopfe. Im übrigen behielt der Diktator die bisherige Gewalt und konnte namentlich der Tribun seine Amtshandlungen nicht wie die der Konsuln kassieren. – Eine weitere Beschränkung der konsularischen Machtfülle war es, daß die Verwaltung der Kriegskasse zwei von der Gemeinde gewählten Zahlmeistern (quaestores) übertragen ward, die zuerst für 307 [447] ernannt wurden. Die Ernennung sowohl der beiden neuen Zahlmeister für den Krieg wie auch der beiden die Stadtkasse verwaltenden ging jetzt über auf die Gemeinde; der Konsul behielt statt der Wahl nur die Wahlleitung. Die Versammlung, in der die Zahlmeister erwählt wurden, war die der sämtlichen patrizisch-plebejischen ansässigen Leute und stimmte nach Quartieren ab; worin ebenfalls eine Konzession an die diese Versammlungen weit mehr als die Centuriatkomitien beherrschende plebejische Bauerschaft liegt. – Folgenreicher noch war es, daß den Tribunen Anteil an den Verhandlungen im Senat eingeräumt ward. Zwar in den Sitzungssaal die Tribune zuzulassen schien dem Senat unter seiner Würde; es wurde ihnen eine Bank an die Tür gesetzt, um von da aus den Verhandlungen zu folgen. Das tribunizische Interzessionsrecht hatte sich auch auf die Beschlüsse des Gesamtsenats erstreckt, seit dieser aus einer beratenden zu einer beschließenden Behörde geworden war, was wohl zuerst eintrat in dem Fall, wo ein Plebiscit für die ganze Gemeinde verbindend werden sollte (S. 273); es war natürlich, daß man seitdem den Tribunen eine gewisse Beteiligung an den Verhandlungen in der Kurie einräumte. Um auch gegen Unterschiebung und Verfälschung von Senatsbeschlüssen gesichert zu sein, an deren Gültigkeit ja die der wichtigsten Plebiscite geknüpft war, wurde verordnet, daß in Zukunft dieselben nicht bloß bei den patrizischen Stadtquästoren im Saturnus-, sondern ebenfalls bei den plebejischen Ädilen im Cerestempel hinterlegt werden sollten. So endigte dieser Kampf, der begonnen war um die [285] Gewalt der Volkstribune zu beseitigen, mit der abermaligen und nun definitiven Sanktionierung ihres Rechts sowohl einzelne Verwaltungsakte auf Anrufen des Beschwerten als auch jede Beschlußnahme der konstitutiven Staatsgewalten nach Ermessen zu kassieren. Mit den heiligsten Eiden und allem was die Religion Ehrfürchtiges darbot und nicht minder mit den förmlichsten Gesetzen wurde abermals sowohl die Person der Tribune als die ununterbrochene Dauer und die Vollzähligkeit des Kollegiums gesichert. Es ist seitdem nie wieder in Rom ein Versuch gemacht worden diese Magistratur aufzuheben.


Quelle:
Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Berlin 1923, Bd. 1, S. 264-287.
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