Dritter Abschnitt
Der Kommunistenstaat auf Lipara

[36] Wie der Sizilianer Diodor erzählt, waren um das Jahr 580 v. Chr. Auswanderer aus Knidos und Rhodos nach Sizilien gekommen und hatten sich zuletzt auf den liparischen Inseln angesiedelt. Um den Angriffen der Etrusker gewachsen zu sein, bauten sie eine Flotte und organisierten ihr ganzes Gemeinwesen auf kriegerischem Fuß und zugleich nach streng kommunistischen Grundsätzen. Der Grund und Boden der Inseln blieb im Gesamteigentum, und während immer ein Teil der Bevölkerung der Bekämpfung der feindlichen Piraten oblag, bebaute der andere das Land, dessen Ertrag bei öffentlichen Mahlzeiten gemeinsam verzehrt wurde.102 Dieses System eines vollkommenen agrarischen Kommunismus wurde, wie Diodor berichtet, längere Zeit beibehalten. Dann wurde der Boden der Hauptinsel Lipara zur Sondernutzung aufgeteilt, während die anderen Eilande – offenbar überwiegend als Weide103 – auch ferner noch gemeinsam bewirtschaftet wurden. Zuletzt teilte man das ganze Inselgebiet, jedoch nicht zu vollem Eigentum, sondern so, daß alle zwanzig Jahre eine Neuverlosung vorgenommen wurde.104

Wir haben keinen Grund, an der Richtigkeit dieser Erzählung zu zweifeln, sie etwa auf ein Niveau mit jener Schilderung des Kommunistenstaates der Fabelinsel Panchaia zu stellen, welche Diodor in demselben Buch (V 45) der »heiligen Chronik« des Euhemeros nacherzählt hat. Der Bericht Diodors über Lipara ist gewiß – wenn auch nur indirekt[36] durch Vermittlung des Timäos105 – aus der Darstellung geflossen, welche Antiochos von Syrakus in seinem großen Geschichtswerk über Sizilien den Insulanern von Lipara gewidmet hat. Sie entspricht dem lebhaften Interesse dieses Geschichtschreibers für Verfassungs- und Kulturgeschichte und verdient schon darum allen Glauben, weil Antiochos ernstlich bemüht war, möglichst Zuverlässiges (ἐκ τῶν ἀρχαίων λόγων τὰ πιστότατα καὶ σαφέστατα)106 zu überliefern, und weil er anderseits die geschilderte Gesellschaftsverfassung wenigstens in ihren späteren Entwicklungsphasen sehr wohl aus eigener Anschauung oder persönlicher Erkundigung kennen konnte. Auch liegt kein Grund zu der Annahme vor, daß die Diodorische Erzählung den ursprünglichen Bericht und das echte Bild dieser Verfassung in wesentlichen Tatsachen entstellt haben sollte. Sie zeigt unverkennbar die echten Züge einer primitiven Agrarverfassung und enthält kein Moment, welches sich nicht aus der Geschichte der Feldgemeinschaft vielfach belegen ließe.107

Allein dürfen wir nun etwa daraus den Schluß ziehen, daß der Kommunismus der Liparer schon in den Zuständen ihrer ursprünglichen Heimat wurzelte, vielleicht gar ein Nachklang aus der Wanderzeit der dorischen Stämme108 oder ein »Überlebsel« einer Zeit war, in der in ganz Hellas ein Gesamteigentum der Gemeinde am Ackerland bestand?109 Dagegen spricht schon der Umstand, daß Lipara eine der jüngsten Kolonien[37] Siziliens war. Als ihre Gründer aus Knidos und Rhodos auszogen, hatten diese Gemeinden bereits eine Geschichte von mehreren Jahrhunderten hinter sich. Die durch die Kolonisation und die Erschließung Ägyptens im 7. Jahrhundert mächtig geförderte gewerbliche und merkantile Blüte der kleinasiatischen Städte, der wirtschaftliche Aufschwung der auf uraltem Kulturboden begründeten Gemeinden von Rhodos, das nach dem aus dem 7. Jahrhundert stammenden homerischen Schiffskatalog (II. II 670) »von Zeus die unendliche Fülle des Reichtums empfangen«, die aristokratische Verfassung, mit der diese Gemeinden in die Geschichte eintreten, all das läßt auf eine viel zu weit fortgeschrittene Entwicklung der Eigentumsordnung schließen, als daß man hier noch für das 6. Jahrhundert die Fortdauer der Feldgemeinschaft voraussetzen könnte.

In der Tat bedürfen die Zustände auf den Liparen keiner Anknüpfung an die des Mutterlandes, und es ist vollkommen unrichtig, daß sie sich »nur dann, oder doch dann am besten historisch begreiflich machen lassen, wenn man in diesem Kommunistenstaat eine Reminiszenz oder einen letzten Ausläufer des ehemaligen Urkommunismus erblickt«.110 Denn sie erklären sich vollkommen aus der besonderen Situation, in der sich die Insulaner befanden. Mitten im friedlosen, von den Erbfeinden der Hellenen, von Etruskern und punischen Semiten, beherrschten Meere, auf einem der gefährdetsten Außenposten der hellenischen Welt,111 fortwährend von Katastrophen bedroht, wie sie z.B. im Mittelalter selbst das weitentlegene Island von afrikanischen Piraten erlitt, hatte die Bevölkerung von Lipara ihre ganze Existenz auf den Kampf gestellt. Ja es spricht alles dafür, daß die Hellenen sich dieser Inseln, die als Warten auf hoher See das weiteste Gesichtsfeld beherrschten, von vorneherein in der Absicht bemächtigten, um von hier aus gegen Etrusker und Karthager Kaperei zu treiben,112 die ja damals auf beiden Seiten als ein ehrliches Gewerbe galt und für die die Liparen so vorzüglich geeignet[38] waren. Haben wir hier aber eine Art Korsarenburg113 vor uns, so tritt die liparische Verfassung aus dem Rahmen der allgemeinen Volksentwicklung vollkommen heraus. Sie erscheint als ein ebenso singuläres Phänomen, wie z.B. jener westindische Flibustierstaat, in welchem sich ja auch auf Grundlage der Piraterie und infolge eines chronischen Kriegszustandes eine streng militärische Organisation mit kommunistischen Einrichtungen verband.

Eben diese analoge Erscheinung weist recht deutlich darauf hin, daß der liparische Kommunismus in den besonderen Verhältnissen wurzelt, in denen wir die Hellenen hier finden. Wie leicht konnte der kriegerische Korpsgeist einer Bevölkerung, in der sich alle als Genossen eines militärischen Verbandes fühlten, zu solchen Institutionen führen! Wo es stets für die ganze eine Hälfte der Volksgenossen keine andere wirtschaftliche Tätigkeit gab, als Beuteauszug und kriegerischen Gewinn, wo man gewohnt war, Beutestücke mit den Genossen als Erwerbsstücke kameradschaftlich zu teilen, was lag da näher, als daß man auch den gemeinsam gewonnenen Boden der neuen Heimat ebenso behandelte, wie den Kriegserwerb? Es entsprach durchaus der Natur der Dinge, daß auch der Grund und Boden als Eigentum der ganzen kriegerischen Korporation erschien, auf dessen Nutzung jeder an seiner Verteidigung beteiligte Kamerad ein wohlerworbenes Anrecht hatte. Dazu kamen die Vorteile, welche eine solche Gesellschaftsordnung gerade für die Verhältnisse Liparas haben mußte. Indem sie die Entwicklung ausschließlichen Eigentums möglichst verhinderte, wirkte sie zugleich im Interesse der stetigen Kriegsbereitschaft, welche den Insulanern ihre Lage auferlegte. Sie erstickte im Keime, was den kriegerischen Sinn hätte schwächen können, die Neigung zu friedlichem Schaffen und Erwerben, sowie die Gewöhnung an reichlicheren und bequemeren Lebensgenuß[39] und die – bei dem Institut des Privateigentums unvermeidliche – wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, die größte Gefahr für den Geist der kriegerischen Bruderschaft.114

Bei dieser Auffassung von den Entstehungsmotiven der liparischen Gesellschaftsordnung wird man es auch nicht für wahrscheinlich halten, daß dieser Räuber- und Kriegerkommunismus115 eine erheblich längere Dauer gehabt hat, als die Verhältnisse, denen er seinen Ursprung verdankte. Allerdings bedient sich Diodor bei der Darstellung ihres letzten Entwicklungsstadiums (Sonderbesitz mit periodischer Neuverlosung) des Präsens, so daß man den Eindruck gewinnt, als ob die Liparer noch in Diodors Zeit, unter Kaiser Augustus, das Privateigentum nicht vollständig durchgeführt hätten, als ob sie damals noch »vor den Toren Roms die von Cäsar in Germanien beobachteten periodischen Teilungen übten«.116 Allein dieser Schluß wird durch die naheliegende Erwägung hinfällig, daß jenes Präsens ein Präsens historikum sein kann oder, wenn nicht, daß es von Diodor möglicherweise gedankenlos seiner Quelle nachgeschrieben wurde, was bei einem so »elenden Skribenten«117 nichts Auffallendes wäre. Auch sonst fehlt es ja bei Diodor nicht an Beispielen dafür, daß er Sätze älterer Autoren unverändert herübernimmt, ohne Rücksicht darauf, daß sie auf seine Zeit gar nicht mehr passen.118 Für die Frage nach der geschichtlichen Stellung und Bedeutung der Feldgemeinschaft von Lipara ist demnach der genannte Umstand ohne jede Beweiskraft.

Das Präsens in dem Berichte Diodors über Lipara könnte höchstens soviel beweisen, daß sein Gewährsmann Timäos, dem er es nachgeschrieben,[40] von der Feldgemeinschaft der Liparer wie von einer noch bestehenden Einrichtung gesprochen hat. Und es ist ja sehr wohl möglich, daß Timäos dieselbe in ihrer letzten Entwicklungsphase noch erlebt hat. Er beendete sein Werk noch vor der Eroberung Liparas durch die Römer, vor der Mitte des dritten Jahrhunderts.119 Wer wollte jedoch annehmen, daß die von ihm geschilderten Zustände noch nach dieser Zeit fortdauerten oder gar noch dann, als Lipara eine römische Kolonie geworden war?120 – Wie gründlich sich bis zur Zeit Diodors die Verhältnisse auf Lipara geändert hatten, beweisen die Angaben Ciceros in der dritten Anklagerede gegen Verres, dessen Mißwirtschaft auch diese Insulaner schwer zu empfinden hatten. Die Liparer erscheinen hier als ein durchaus friedliches Völkchen, welches so wenig von den alten Traditionen der Insel bewahrt hat, daß es sich den ungestörten Besitz seiner Äcker von den Piraten durch regelmäßige Zahlungen erkaufte!121

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 36-41.
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