Erster Abschnitt
Der Kommunismus der Urzeit

[3] Über der Vorzeit der Hellenen liegt ein Dunkel, welches die Anfänge ihres nationalen Daseins unseren Blicken fast völlig entzieht. Schmerzlich vermissen wir in diesem Dunkel – um mit Jakob Grimm zu reden – ein Morgenrot, wie es dank eines Römers unsterblicher Schrift die deutsche Urgeschichte erhellt. Nach Jahrhunderten zählende Entwicklungsperioden, auf welche dort das volle Licht der Geschichte fällt, gehören hier der vorgeschichtlichen Epoche an. In den ältesten Schriftzeugnissen, die uns einen tieferen Einblick in das Leben der Nation gewähren, in den Epen, haben wir schon eine in gewissem Sinne fertige Welt vor uns; insbesondere läßt das wirtschaftliche und soziale Leben der epischen Welt ein – im Vergleich mit den ältesten bezeugten Zuständen der Germanen – weit fortgeschrittenes Stadium der Entwicklung erkennen.

Wenn nun selbst bei den Germanen trotz der unschätzbaren Berichte eines Cäsar und Tacitus über das Haupt- und Grundproblem der ältesten Agrarverfassung, über die Frage nach der Entstehung und Ausbildung des Privateigentums am Grund und Boden ein sicheres Ergebnis aus den Quellen nicht zu gewinnen ist, und vielfach Schlüsse nach der Analogie primitiver Gesellschaftszustände überhaupt die streng historische Beweisführung ersetzen müssen, wie viel mehr ist die äußerste Vorsicht da geboten, wo die geschichtliche Überlieferung eine so ungleich jüngere ist! –

Und diese Skepsis ist um so notwendiger, je mehr man in unserem Zeitalter des Sozialismus geneigt ist, die Ideale und Wünsche der Gegenwart in die Vergangenheit zurückzuprojizieren, in der der gesellschaftliche Instinkt des Menschen und der Zwang der Verhältnisse mancherlei Sozialgebilde geschaffen hat, denen der moderne Sozialismus eine gewisse vorbildliche Bedeutung für sein eigenes Ziel zuschreibt. Dieses Ziel ist die von einer »höheren« Stufe menschheitlicher Entwicklung erwartete Vergesellschaftung der Produktion und der Sieg des Gemeinschaftsprinzips über die individualistischen Lebensformen der heutigen[3] Gesellschaft; und es ist daher psychologisch leicht begreiflich, daß sich mit diesem Standpunkt die Neigung verbindet, in der Geschichte mehr Kommunismus und Sozialismus finden zu wollen, als es der tatsächliche Verlauf der Dinge oder der Stand unserer Kenntnisse gestattet.

Überaus bezeichnend für diese Tendenz ist die dem bekannten, unter die sozialdemokratischen Bildungsmittel aufgenommenen Werke Morgans (Ancient society, 1877)1 entnommene Prophezeiung, mit der ein Hauptvorkämpfer des Sozialismus, Fr. Engels, sein Buch über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates abschließt: »Demokratie in der Verwaltung, Brüderlichkeit in der Gesellschaft, Gleichheit der Rechte, allgemeine Erziehung werden die nächste höhere Stufe der Gesellschaft einweihen, zu der Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft stetig hinarbeiten. Sie wird eine Wiederbelebung sein – aber in höherer Form – der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes« – d.h. der Familienverbände der Vorzeit, deren Gemeinschaftsleben den »Kampf um die Erde«, also die Entstehung einer »sozialen Frage«, noch ausgeschlossen haben soll. »An der Wiege der Menschheit« – erklärt die sozialdemokratische »Geschichte des Sozialismus«2 – »stand der Kommunismus, und er ist noch bis zu unserer Zeit die gesellschaftliche Grundlage der meisten Völker des Erdballs (auch der Griechen) gewesen.« – Die Geschichte des klassischen Altertums soll daher nach dieser Theorie »schließlich nichts anderes« sein, als »die Geschichte der Verdrängung des Kommunismus durch das Privateigentum«!3 Nun ist ja allerdings so viel sicher, daß gewisse primitive Formen des Wirtschaftslebens, wie die überwiegende Weidewirtschaft, naturgemäß mit Gemeinbesitz am Boden und mit Gemeinwirtschaft verbunden sind. Da der Boden nur eine bestimmte Zahl Vieh im Sommer und Winter ernähren kann und allzu große Herden nicht gemeinschaftlich zusammengehen können, müssen Weidereviere gebildet werden, deren Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Demnach zerfallen auch die Besitzer der Herden in Gruppen, und diese Gruppierung vollzieht sich bei dem geschlossenen Familienleben der Hirtenvölker naturgemäß nach Familien und Sippen. Diese Gruppen betrachten das besetzte Gebiet als ihr gemeinsames Eigentum, solange nicht etwa – wie es anfänglich öfters geschieht – die verschiedenen Weidereviere innerhalb des ganzen Stammes[4] in wechselnde Benutzung genommen werden und demgemäß der Stamm als Träger des Eigentums am gesamten Stammesgebiet erscheint. Jedenfalls ist hier der Grund und Boden immer ungeteiltes Gemeingut und die Bestellung einzelner Stücke kann höchstens einen vorübergehenden Besitz für die Dauer des Getreidebaus begründen. Die natürlichen Bedingungen dieses Wirtschaftssystems verbieten es, daß der einzelne einen Teil des Bodens als dauerndes und ausschließliches Eigen in Anspruch nehme. Schon wegen des unvermeidlichen Wechsels der Sommer- und Winterweide, welche die Gesamtheit nötigt, die verschiedenen Strecken des Gebietes in fester, der Jahreszeit angepaßter Ordnung zu beziehen,4 und wegen der ganzen Art und Weise der Bodenbestellung, wie sie eine wilde, die gesamte anbaufähige Fläche im Wechsel von Saat und Weide durchziehende Feldgraswirtschaft mit sich brachte, konnte man dieses System nicht durch das Belieben der Individualwirtschaft und das willkürliche Umsichgreifen des Privateigentums durchbrechen lassen.5 Dazu kommen die äußeren Schwierigkeiten, mit denen der Mensch unter solchen Verhältnissen zu kämpfen hat. Gegenüber den Gefahren, die hier von der Natur für die kostbarste Habe, den Viehstand, und von feindlicher Gewalt für Existenz und Freiheit drohen, können Hirtenvölker die Sicherheit ihres Daseins nur in der Vereinigung der einzelnen zu einer streng organisierten Gemeinschaft finden, die sich bei der Geschlossenheit des Familienlebens und dem patriarchalischen Zuschnitt des ganzen Daseins überhaupt in der Regel mit einer mehr oder minder kommunistischen Wirtschaft verbindet. Gemeinsame Verteidigung, gemeinsame Befahrung der Sommer- und Winterweiden, meist auch kommunistischer Erwerb für die Genossenschaft, kommunistische Leitung durch das Geschlechtsoberhaupt oder den Stammeshäuptling sind charakteristische Züge dieses Wirtschaftssystems.

Allein wer kann sagen, daß die Hellenen noch nach ihrer Besiedlung der Balkanhalbinsel an einer derartigen Weidewirtschaft festgehalten haben? Die Kenntnis des Ackerbaues reichte bei ihnen bis in die indogermanische Urzeit zurück, und es ist daher immerhin fraglich, ob das[5] Bedürfnis des Bauern, einen engeren Bund mit der von ihm urbar gemachten Scholle einzugehen, noch nach der Okkupation der südlichen Balkanhalbinsel bei ihnen so wenig entwickelt war, daß sie das Prinzip der Gemeinwirtschaft noch längere Zeit auch für den Ackerbau beibehielten und die als Gesamtbesitz besiedelte Ackerflur auch ferner noch gemeinsam bestellten, bezw. dem einzelnen nur ein vorübergehendes – periodisch neu geregeltes – Nutzungsrecht gewährten, aus dem sich dann erst allmählich mit den steigenden Anforderungen an die Intensität des Anbaues und dem zunehmenden Streben nach individueller Erwerbsselbständigkeit das Sondereigentum herausgebildet hätte.

Eine sichere Antwort auf diese Frage kann nur derjenige für möglich halten, der auf Grund der obengenannten, an Morgan anknüpfenden Sozialtheorie aus den bei anderen Völkern nachgewiesenen agrarkommunistischen Einrichtungen ohne weiteres den Schluß ziehen zu dürfen glaubt, daß der Kollektivbesitz von Grund und Boden auch für die Zeiten völliger Seßhaftigkeit »als eine urgeschichtliche Erscheinung von allgemeiner Geltung anzusehen ist,«6 oder – wie ein anderer Vertreter derselben Richtung sich ausdrückt7 – daß wir darin eine »notwendige Entwicklungsphase der Gesellschaft und eine Art von Universalgesetz erblicken müssen, das in der Bewegung der Grundeigentumsformen waltet«. Allein dieses angebliche Gesetz hat sich vor der nüchternen historischen Kritik als völlig illusorisch erwiesen.8 Es beruht auf einer unzulässigen Verallgemeinerung, wie sie sich ja bei einer einseitigen Anwendung des vergleichenden Verfahrens so leicht einstellt. Man vergegenwärtige sich nur einmal die Verschiedenartigkeit der Erscheinungen, die hier für die Vergleichung zu Gebote stehen: die germanische Feldgemeinschaft, die Agrarverfassung der indischen Dorfgemeinde, den Gemeindekommunismus des russischen Mir, den Familienkommunismus der südslavischen Hausgemeinschaft (der Zadruga), den Stammkommunismus der keltisch-irischen Clanverfassung u. dgl. m.! Wie kann man da hoffen, aus der Fülle dieser eigenartigen sozialen Gebilde eine bei [6] allen indogermanischen Völkern nach ihrer Seßhaftwerdung gleichmäßig auftretende Urform der Eigentumsordnung erschließen zu können?9

Dazu kommt, daß die neuesten Ergebnisse der Völkerkunde geradezu gegen das genannte »Gesetz« sprechen. »Wenn wir« – sagt Ratzel in seiner politischen Geographie10 – »die Fälle betrachten, in denen das Gemeineigentum am Boden heute vorkommt, so finden wir zunächst, daß es mit allen Kulturstufen verbunden sein kann, die wir überhaupt kennen, daß es z.B. in Melanesien auf demselben engen Raum und in derselben Völkergruppe mit anderen Besitzesformen auftritt und daß es am wenigsten dort vorkommt, wo die Zustände noch am meisten den Eindruck des Ursprünglichen machen.«11 Und weiter bemerkt derselbe Ethnograph, daß »nicht einmal das angeblich allgemeine Assoziationsbedürfnis des Menschen in der 'Urzeit' das 'Ureigentum' nötig machte, wie denn auch die größten und mächtigsten Ackerbaukolonien der neueren Zeit sich auf dem Einzelbesitz aufgebaut und jenen Schutzbedürfnissen vortrefflich durch ihre einfachen Staatseinrichtungen genügt haben«. Die moderne Anthropogeographie weist daher sozialgeschichtliche Konstruktionen wie die Morgans und Laveleyes grundsätzlich zurück. Sie hat erkannt, daß Morgan sich niemals klar darüber war, wie tief die heutige Menschheit in die Vergangenheit zurückreicht, so daß seine grundlegende Voraussetzung, wonach in der gegenwärtigen Menschheit alle überhaupt jemals dagewesenen Stufen der Entwicklung vertreten sein sollen, völlig in der Luft schwebt. Und dasselbe gilt für seine Hypothese, daß die Menschheit »überall so ziemlich denselben Weg durchlaufen habe«. So einfach liegen die großen entwicklungsgeschichtlichen Probleme der Menschheit doch nicht, daß man mit Morgan[7] nur eine einzige Entwicklungsreihe zu konstruieren braucht, die dann ohne weiteres auf alle Völkerzweige der Erde anwendbar sein soll.12 Hat sich das alte, scheinbar absolut feststehende Schema von den aufeinanderfolgenden Kulturstufen der Jagd, des Nomadismus und des Ackerbaues nicht als unhistorisch erwiesen? Und kann das Schicksal des analogen Schemas von den Grundeigentumsformen ein anderes sein?13 Ein solches Entwicklungsschema mag durch seine Einfachheit dem in der sozialistischen »Wissenschaft« so verbreiteten schablonenhaften Denken einleuchten oder einseitig spekulativ gerichtete Köpfe14 bestechen, für die nüchterne historische Forschung, die nicht gewohnt ist, den unendlichen Reichtum der Menschengeschichte in das Prokrustesbett schematischer Klassifikationen zu zwängen, ist die ganze Anschauungsweise unbrauchbar.

Wir müssen daher auch jetzt noch grundsätzlich daran festhalten, daß für das einzelne seßhaft gewordene Volk der agrarische Kommunismus als erste Entwicklungsphase seines Wirtschaftslebens nur dann mit einiger Sicherheit angenommen werden kann, wenn sich Spuren desselben in der echten Überlieferung oder in Recht und Wirtschaft der geschichtlichen Zeit vorfinden. Allgemeine volkswirtschaftliche Gründe, geschichtliche Analogien oder die »psychologische Wahrscheinlichkeit«, wie sie z.B. Meitzen für den kommunistischen Charakter der ältesten Agrarverfassung geltend gemacht hat, können wohl zur Bestätigung dessen dienen, was etwa aus solchen Spuren durch Rückschlüsse zu erkennen ist, entbehren aber für sich der nötigen Beweiskraft.

Nun sagt man freilich: Die Besiedlung des Landes ist in genossenschaftlicher Weise erfolgt. Sie war nicht Sache des einzelnen, sondern der als Gemeinschaften für alle Lebenszwecke vorausgesetzten Familienverbände: der Sippen oder Geschlechter (γένη). Und man schließt daraus, daß die griechische Ansiedlungsgemeinde, das Dorf (die κώμη), regelmäßig die Niederlassung eines Geschlechtes darstellte, d.h. mit der Geschlechtsgenossenschaft zusammenfiel und daher ursprünglich auch[8] nach rein familienrechtlichen Prinzipien organisiert war. So hat kein Geringerer als Mommsen aus dieser auch von ihm vorausgesetzten Identität von Geschlechtsgenossenschaft und Gemeinde mit Sicherheit schließen zu dürfen geglaubt, daß die hellenische, wie die italische Dorfmark überall in ältester Zeit »gleichsam als Hausmark«, d.h. nach einem System strengster Feldgemeinschaft bewirtschaftet wurde, als deren wesentliche Züge er Gemeinsamkeit des Besitzes, gemeinsame Bestellung des Ackerlandes und Verteilung des gemeinsam erzeugten Ertrages unter die einzelnen dem Geschlechte angehörigen Häuser annimmt.15

Wie steht es aber mit den Voraussetzungen dieses Glaubens an einen idyllischen Sippenkommunismus der Vorzeit? Was können wir auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit von dem Verhältnis zwischen Sippenverfassung und Agrarwirtschaft der Urzeit sagen? Als ob die Besiedlung des Landes überhaupt nur sippenweise, d.h. durch die von patriarchalischen Oberhäuptern autokratisch beherrschte Großfamilie erfolgt sein könnte und nicht ebensogut durch Genossenschaften von Einzelfamilien, d.h. durch Verbände gleichstehender freier Männer!16 Wenn in Attika mehrere Gemeinden (Demen) den Namen von Geschlechtern trugen oder Namen mit patronymischen Endungen, die auch wohl meist von Geschlechtern stammten, wenn es ferner attische Geschlechter gab, die lokale Namen führten, so folgt daraus keineswegs mit zwingender Notwendigkeit, daß wir hier alte Geschlechtsdörfer vor uns haben, daß hier Ansiedlungsgemeinde und Geschlechtsgenossenschaft zusammenfielen, wie es die Theorie von dem Agrarkommunismus der Urzeit immer wieder behauptet.17 Sind doch diese »Geschlechter« allem Anscheine nach überhaupt niemals eine allgemeine Organisationsform des ganzen Volkes gewesen, sondern Verbände des Adels. Wenn aber selbst diese Stütze der Theorie zusammenbricht, wie könnte man sich da mit v. Wilamowitz dem Wahne hingeben, daß in Attika »alles auf eine späte Entstehung des Privateigentums an Grund und Boden hindeutet«?18 Oder[9] sollen wir sogar die Speisung im Prytaneion als »letztes Überlebsel des Urkommunismus« ansehen?19

Ein für unsere Frage bedeutsames »Überlebsel« der Vorzeit besitzen wir ja an der Bezeichnung der im erblichen Privateigentum befindlichen Grundstücke als »Lose« (κλῆροι); und man hat aus dieser Bezeichnung auf eine Zeit zurückgeschlossen, in der – wie man meint – die Gemeinde noch Gesamtbesitzerin der Flur war und in periodischer Wiederkehr jedem Gemeindegenossen, später vermutlich wenigstens jeder neuentstehenden Familie ein Stück Land durch das Los zuwies.20 Allein auch dieses Zeugnis ist leider ein mehrdeutiges! Es beweist wohl, daß einmal in der Vorzeit eine Aufteilung des gemeinsamen Grund und Bodens durch das Los stattfand. Aber ob diese Verlosung periodisch wiederholt wurde oder ob sie nur ein einmaliger Akt war, der sofort privates Eigentum an den zugelosten Grundstücken schuf, das bleibt durchaus zweifelhaft.

Nun kennt allerdings das ältere griechische Recht eine gewisse Gebundenheit des privaten Grundeigentums, welche der Verfügungsfreiheit des einzelnen über die Erb- und Stammgüter zugunsten der Familie mehr oder minder weitgehende Schranken auferlegte; und man hat denn auch nicht gezögert, diese Erscheinung als Überrest eines ursprünglichen agrarischen Gemeindekommunismus, eines genossenschaftlichen Gesamteigentums des Geschlechtsverbandes zu erklären. Allein es findet sich auch hier nirgends ein sicherer Anhaltspunkt dafür, daß die Quelle dieser Gebundenheit in einem Gesamteigentum der Sippe zu suchen sei. Soweit wir die vermögensrechtlichen Wirkungen der Verwandtschaft im griechischen Recht festzustellen vermögen, sehen wir sie aus den Rechtsverhältnissen des Hauses, nicht aus der Verfassung des Geschlechtsverbandes hervorgehen. Um das griechische Erbrecht mit der nötigen Sicherheit aus einem Gesamtbesitz des Geschlechtes ableiten zu können, müßten sich doch wenigstens Spuren eines ehemaligen Erbrechtes des ganzen Geschlechtes finden,21 obgleich selbst das für sich allein die Frage[10] noch nicht entscheiden würde. Denn wie das Privateigentum mit einer Familien- oder Geschlechtsanwartschaft sehr wohl vereinbar ist, so braucht auch diese letztere selbst keineswegs notwendig aus einem gentilizischen Gemeineigentum hervorzugehen, kann sogar unter Umständen Folge einer ziemlich späten Rechtsentwicklung sein.22

Ähnliches gilt auch für das Zustimmungs- und Näherrecht der Gemeindegenossen bei Veräußerungen, von dem man im griechischen Recht Spuren gefunden haben will und das man ebenfalls mit Unrecht als Beweis für die frühere Existenz der Feldgemeinschaft und des Kollektivbesitzes am Grund und Boden geltend gemacht hat.23 Denn wenn das Recht den Gemeindegenossen die Befugnis einräumte, die Auslieferung einer Hufe an einen ihnen unwillkommenen Fremden zu verhindern, so würde sich das bei dem ganzen Charakter des Gemeindeverbandes zur Genüge aus Gesichtspunkten erklären, die von dem Agrarrecht gänzlich unabhängig sind.24 Übrigens ist uns nicht einmal von diesem Institut des Nachbarrechts selbst etwas Sicheres bekannt. Wir wissen nur, daß es in Hellas vielfach Sitte war, bei der Veräußerung von Grundstücken die Nachbarn als Zeugen oder Bürgen teilnehmen zu lassen, und daß dieselben bei dieser Gelegenheit da und dort, wie z.B. in Thurii, eine kleine Münze erhielten, »μνήμης ἕνεκα καὶ μαρτυρίας«, wie Theophrast hinzufügt.25 Von einem Nachbarrecht ist dabei nirgends die Rede, und es ist[11] völlig ungerechtfertigt, wenn Laveleye diese Sitte mit einem angeblichen Einspruchsrecht der Gemeindegenossen in Verbindung bringt und die Vermutung aufstellt, daß die Münze als der Preis für ihre Einwilligung oder als Anerkennung eines gewissen Miteigentumsrechts zu betrachten sei. Die Beteiligung der Nachbarn hat hier offenbar von vornherein keine andere Bedeutung gehabt, als die, die wünschenswerte Öffentlichkeit des Übertragungsaktes im Interesse seiner Rechtsgültigkeit und zugunsten Beteiligter und Einspruchsberechtigter zu wahren. – Wer wollte überhaupt in Institutionen, die sich selbst in einer Kolonialgemeinde des perikleischen Athens finden, einen Anhaltspunkt für die Beurteilung der primitiven Agrarverfassung der Urzeit suchen!

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 3-12.
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