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Theopomps meropisches Land und Hekatäos' kimmerische Stadt

[283] Das Geschick der neuen Kunstform selbst war damit freilich keineswegs entschieden. Im Gegenteil! Für die Entwicklung des Staatsromanes konnte nichts günstiger sein als die von sozialen Ideen erfüllte Welt des damaligen Griechentums. Die Erörterungen der Theorie über die Bedingungen sozialen Glückes, die ja nicht auf die Hallen der Schulen beschränkt blieben, mußten die Phantasie eines geistreichen Volkes auf das lebhafteste erregen. War einmal die große Frage nach der Möglichkeit einer Gesellschaftsordnung bejaht, die auf völlig anderen Grundlagen ruhte als die bestehende, hatte sich der ersten Denker der Nation die Illusion bemächtigt, den Weg zur radikalen Heilung aller krankhaften Auswüchse der Gesellschaft zeigen zu können, so ist es begreiflich, daß sich bei einem künstlerisch so hoch begabten Volke immer wieder der Drang äußerte, diese Vorstellungen möglichst lebendig auszugestalten, seinem Interesse für jene gewaltigen Probleme in einer Form Ausdruck zu geben, die Einbildungskraft und Gemüt in höherem Grade befriedigte als abstrakte Untersuchungen und theoretische Konstruktionen. Und diese Form war eben die der Erzählung, welche die gewonnenen Vorstellungen mit dem Scheine der Wirklichkeit umkleidete. Der novellistische Trieb und die Lust zu fabulieren, die in diesem Volke so mächtig waren und die sich gerade seit dem 4. Jahrhundert in der stetig zunehmenden Fülle der geographisch-ethnographischen Fabelerzählung so charakteristisch äußern,40 konnten kaum einen anziehenderen Gegenstand für ihre Betätigung finden als die neuen und interessanten Aperçus über die bestmöglichen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens. Eine Erzählung, die diese Ideen exemplifizierte, die von keinem erlebte Wirklichkeit einer glücklicheren Welt in einem greifbaren lebendigen Bilde vor das geistige Auge zu zaubern vermochte, durfte der allgemeinsten Teilnahme sicher sein.

Zudem war ja der gestaltenden Einbildungskraft auf diesem Gebiete[283] von allen Seiten mächtig vorgearbeitet. Die ethnographische Romantik mit ihrer Idealisierung ferner Barbarenvölker,41 das paradiesische Fabelreich der Komödie, die Dichtungen von den Inseln der Seligen oder dem Elysion,42 die zum Teil bis ins einzelnste durchgearbeitete Konstruktion idealer Gesellschaftszustände in der Publizistik43 und in den gewaltigen sozialtheoretischen Konzeptionen Platos, die oft selbst mehr Dichtung und historisierende Romantik als Theorie sind, das Beispiel endlich, das Plato in seiner Atlantis gab, all das enthielt die mannigfaltigsten Anregungen und Stoffe zu Idealschilderungen im Gewande des Staatsromanes.

Dazu kam, daß das Jahrhundert, das auf Plato folgte, eine jener Epochen gewaltiger Gärung war, in der mit psychologischer Notwendigkeit immer wieder von neuem der Wunsch und das Bedürfnis erwacht, Idealbilder des Staates zu gestalten, bei denen von dem geschichtlich Gegebenen und rechtlich Bestehenden vollkommen abgesehen wird. Es ist ganz ähnlich wie in der Entstehungszeit des modernen Staatsromanes, der Utopien eines Morus und Campanella. Und auch darin gleicht dieser letzteren Epoche das Zeitalter des Hellenismus, daß hier der Staatsroman gleichsam auch »einen geometrischen Ort fand«,44 da sich durch die Entdeckung neuer Welten der Blick bedeutend erweitert hatte und der Phantasie ein noch freierer Spielraum eröffnet war als bisher. Wie die Schilderungen, die ein Kolumbus, Petrus Martyr, Vespucci, Waldseemüller von den Antillen und anderen amerikanischen Inseln und Küstenländern gaben, dem Abendland plötzlich die Kenntnis von Völkern mit kommunistischen und sozialistischen Lebensformen eröffneten und dadurch zur Entstehung jener ersten modernen Utopien wesentlich mit beitrugen, so haben die Erzählungen Nearchs, des Admirals Alexanders des Großen, und anderer Reisender, die aus Indien Arabien von ganz ähnlichen sozialen Erscheinungen zu berichten wußten, die Entwicklung des Staatsromans bei den Griechen gewiß nicht weniger stark beeinflußt und gefördert. Brachten doch die Griechen dieser Zeit solchen Berichten eine ganz ähnliche Stimmung entgegen wie die Menschen der Renaissance, nämlich die kosmopolitische Gesinnung. Von dem nationalen Eigendünkel, dem es nicht in den Sinn will, daß draußen, bei den »Barbaren« etwas vollkommener sein könne als[284] zu Hause, ist der griechische Staatsroman ebenso frei wie der moderne. Auch von ihm kann man sagen: »Jedes soziale Gebilde, ob diesseits ödet jenseits des Weltmeeres, ist ihm gleichbedeutsam als Quelle der Belehrung wie als Gegenstand der Kritik.«45 Ohne jede Voreingenommenheit zieht auch er die Bilanz zwischen der alten und der neuen Welt, auf deren Boden seine Ideale Leben und Gestalt gewonnen.

So hat sich denn eine ganze Literatur der Art entwickelt, deren Reichhaltigkeit und innere Bedeutsamkeit wir nicht nach den dürftigen, oft gerade das Wichtigste verschweigenden Fragmenten beurteilen dürfen, die zufällig davon übrig geblieben sind.

Der erste, von dem wir wissen, daß er sich nach Plato für die Schilderung idealer Staats- und Gesellschaftszustände der Form des Romanes bedient hat, ist der Geschichtschreiber Theopomp von Chios, der Schüler des Isokrates, aus dessen Schriften uns freilich ein ganz anderer Geist entgegenweht als bei seinem großen Vorgänger. Ob er überhaupt ein tieferes sozialreformatorisches Interesse gehabt hat, ist höchst zweifelhaft, trotz des moralisierenden Tones, den er überall anzuschlagen liebt. Um so sicherer ist es, daß es ihm ganz wesentlich um den äußeren Effekt, um die Befriedigung des Sensationsbedürfnisses zu tun war. Um die Spannung seiner Leser stets wach zu halten, hat er, wie schon ein antiker Beurteiler bemerkt, »bei jeglichem Land und Meer etwas Wundersames oder Unerwartetes erwähnt«; und vollends in dem achten Buch der »Philippischen Geschichten«, das die romantische Dichtung von dem meropischen Lande enthält, war eine Fülle von seltsamen und wunderbaren Dingen46 zusammengetragen, die ihm allerdings recht gibt, wenn er sich rühmt, daß er noch besser freierfundene Geschichten vorzuführen wisse als Herodot, Ktesias und die Erzähler der Wunder Indiens.

Wie sehr bei ihm die Behandlung sozialer und ethischer Probleme zur Spielerei wird, zeigt schon die charakteristische Tatsache, daß er dem Leser nicht bloß ein Gemeinwesen mit idealen Menschen, sondern auch einen Staat der Bösewichter (Πονηρόπολις) vorführt, eine angebliche Gründung König Philipps, der hier das schlimmste Gesindel, Verbrecher aller Art, Sykophanten, falsche Zeugen, Advokaten, zweitausend an der Zahl, in einer Kolonie zusammengeführt habe.47 Ganz ähnlich wie[285] man in der älteren Epoche der modernen Staatsromane, im 17. Jahrhundert, dem Leser neben dem Sonnenstaat Campanellas oder Bacons neuer Atlantis eine Moronia (das Land der Narren) oder Lavernia (das Land der Diebe und Räuber) vorführte. Auch das Pamphagonien (das Land der Fresser) und Ivronien (das Land der Säufer), an dem sich dieselbe Zeit ergötzte, findet sich schon bei Theopomp, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach.

Man lese nur seine Schilderung der sozialen Zustände der Etrusker! Sie knüpft zwar an Geschichtliches an, greift aber nur solche Züge heraus, die Gelegenheit zur Anbringung von Pikanterien gaben, an welchen die Masse der Leser ihr Ergötzen fand. Wie uns die etruskische Gräberwelt noch jetzt erkennen läßt, handelte es sich hier um ein Volk, das, in seiner herrschenden Klasse wenigstens, das Leben in vollen Zügen genoß48 und in einer für unser Gefühl geradezu abstoßenden Weise selbst den Ernst des Todes mit den Symbolen der Lebensfreude zu verschleiern liebte. Man denke an die Wandgemälde der etruskischen Grabeshallen mit ihrer Vorführung von Zechgelagen, an die Steinbilder, welche die Verstorbenen in festlicher Tracht darstellen, zechend, mit dem Becher in der Hand. Eine Kunde von diesem Schlaraffenleben der vornehmen etruskischen Welt ist auch zu Theopomp gedrungen. Aber was hat er daraus gemacht? Eine phantastische Geschichte ganz im Stile der Fabeleien, die seit den Zeiten der Phäakendichtung über die Völker des Westens umliefen, verquickt mit Vorstellungen, die an das Gesellschaftsideal des extremsten Cynismus erinnern.

Danach soll bei den Etruskern wenigstens auf geschlechtlichem Gebiet49 der roheste Kommunismus des Genießens geherrscht haben.50 Was die moderne Ethnologie für gewisse primitive Stufen menschheitlicher Entwicklung, und zwar keineswegs ohne Widerspruch, angenommen hat, ist hier allgemeiner Brauch, die Promiskuität, die völlig unterschiedslose Paarung, die weder nach Zeiten geregelt, noch durch individuelle Bande oder durch Rücksicht auf Blutsverwandtschaft beschränkt ist! Das Weib ist völlig emanzipiert und nimmt auch an den Genüssen der Männer teil, denen es in Beziehung auf Zuchtlosigkeit nichts nachgibt.[286] Nach Belieben vereinigen sich die Angehörigen beider Geschlechter zum gemeinsamen Mahl. Die weitere Konsequenz der sexuellen Anarchie ist die gemeinschaftliche Erziehung der Kinder; denn die Vaterschaft ist hier ja nirgends festzustellen. Ebenso natürlich ist die Beteiligung der weiblichen Jugend an den körperlichen Übungen der Knaben und Jünglinge. Das Gefühl der Scham kennt man in Etrurien nicht, das Weib so wenig wie der Mann nimmt Anstand, sich völlig nackt zu zeigen. In den Buden der zahlreichen Enthaarungskünstler herrscht trotz der Nacktheit der Kunden ein Verkehr wie in den athenischen Barbierstuben. Ja, es gilt nicht einmal für schimpflich, das geschlechtliche Bedürfnis öffentlich vor aller Augen zu befriedigen. Nach dem Grundsatz: naturalia non sunt turpia geht es hier angeblich in der geschichtlichen Wirklichkeit genau so zu wie in dem utopistischen Roman des Verfassers des »Gesetzbuches der Natur«, in der Basiliade Morellis! Die Gelage der Etrusker arteten nach dieser Schilderung regelmäßig zu Orgien aus, deren Einzelheiten, so abscheulich sie sind, Theopomp mit sichtlichem Behagen ausmalt.

Nun kennen wir allerdings einige höchst merkwürdige Eigentümlichkeiten der etruskischen Volkssitte, die, wie der Phallos auf den etruskischen Gräbern und die Coitusdarstellungen in ihrem Innern sich ganz wie monumentale Zeugen für die Geschichtlichkeit der Theopompischen Angaben ausnehmen. Zwar ist der Kultus des Phallos, der uns hier entgegentritt, an sich ein religiöser; er wurzelt in dem Volksglauben, daß die Erde selbst die Mutter aller Menschenkinder ist, und der Phallos ist der Dämon der Zeugung, der als Befruchter des mütterlichen Erdenschoßes gedacht wird. Der steinerne Phallos steht auf den Gräbern, »damit in der Mutter Erde neue Zeugungen stattfinden« und »wie durch das Beilager der Menschen auf dem Felde wird hier wenigstens im Bild (d.h. in den Coitusszenen) der Zauber ausgeübt, der die Erde zu neuem Gebären zwingt«.51 Aber mit dem religiösen Moment verbindet sich hier doch noch ein anderes! Es läßt sich nicht verkennen, daß solche Szenen mit einem gewissen Vergnügen ausgemalt worden sind, das mit dem ursprünglich religiösen Zweck wenig oder nichts zu tun hat.52 Auch hat es höchstwahrscheinlich nicht an religiösen Genossenschaften gefehlt, in denen der Kultus des Phallos zu Orgien geführt hat, wie wir sie ja bei solchen sexuell gefärbten Kulten auch anderwärts finden.53 Und es ist sehr wohl möglich, daß Berichte über diese[287] Dinge auch Theopomp zugekommen sind. – Allein was ist damit viel gewonnen? Es bleibt doch immer die Tatsache bestehen, daß er Einzelerscheinungen maßlos übertrieben und verallgemeinert und so ein Gesamtbild geschaffen hat, das als solches rein phantastisch ist.

Diese sexuelle Schlaraffia – in einem ernsten Geschichtswerk! – beweist doch wohl zur Genüge, daß es dem Verfasser vor allem auf das Amüsement des großen Publikums ankam. Die den Roman erzeugende Zersetzung der historiographischen Kunstform54 macht sich schon hier deutlich bemerkbar! – Daher hat sich Theopomp auch gar keine Mühe gegeben, das Bild so zu gestalten, daß wenigstens die einzelnen Züge zusammenstimmen. Fortwährend schieben sich ihm Begriffe unter, die dem Leben der wirklichen Gesellschaft entnommen sind, aber in den Rahmen der vorgestellten sozialen Verhältnisse absolut nicht hineinpassen. So werden unter den zechlustigen Weibern, die sich an den genannten Orgien beteiligen, »Buhlerinnen« (ἑταῖραι) und »Frauen« unterschieden. Als ob in einer Gesellschaft, wo die freie Liebe, die regellose Mischung der Geschlechter herrscht, überhaupt noch von einem derartigen Unterschiede die Rede sein könnte! Ein andermal heißt es: »Die Frauen teilen nicht das Mahl mit ihren Männern, sondern mit jedem Beliebigen.« Ganz naiv werden also die dem Autor vertrauten monogamischen Vorstellungen mit Zuständen verquickt, mit denen sie von vorneherein gänzlich unvereinbar sind. Und mit derselben Unbefangenheit werden Verwandtschaftsverhältnisse vorausgesetzt, wie sie eben nur das Familienleben der bestehenden Gesellschaft erzeugen konnte. Es ist von gemeinschaftlichen Gelagen die Rede, zu denen sich die »Verwandten« versammeln.55 Als ob es in einer Gesellschaft des absolut freien Geschlechtsverkehres, in welcher kein Kind seinen Vater kennt, überhaupt »Verwandte« in diesem Sinne geben könnte!

Es leuchtet ein, daß ein Schriftsteller, der sich solche Blößen gibt,56 nicht der Mann war, das Problem des Staatsromans von der rechten Seite zu fassen und ein abgerundetes und folgerichtig durchgeführtes[288] Bild eines Staatswesens zu entwerfen, dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von der Wirklichkeit grundsätzlich verschieden sein sollte, wie er es – nach seiner eigenen Erklärung – in der Erzählung vom meropischen Lande beabsichtigt hat.57 Insofern wird es für die Geschichte der sozialen Theorien kaum einen wesentlichen Verlust bedeuten, daß der Autor der »bunten Geschichten«, der uns einiges aus diesem Staatsroman mitteilt, nur für den novellistischen Rahmen, nicht für den sozialpolitischen Inhalt ein Interesse gehabt hat und gerade über die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen des geschilderten Utopiens mit Stillschweigen hinweggeht. Jedenfalls macht das, was wir von Älian aus dem Roman wirklich erfahren, durchaus den Eindruck, daß es Theopomp auch hier nicht um die Mitteilung von Ergebnissen ernsten Denkens, sondern vor allem darum zu tun war, eine »Wundergeschichte« zu erzählen, den Leser durch ein »Märchenspiel und dessen vergnügliche Darstellung«58 zu fesseln. Allerdings hatte sich schon vor ihm ein Plato in solcher Phantasiegaukelei gefallen, aber dort liegt doch immer im Spiele selbst ein ernster, tiefer Sinn;59 bei Theopomp dagegen ist das Abenteuerliche und Wundersame recht eigentlich Selbstzweck, wenn auch eine bestimmte Tendenz mit nebenherläuft. Eine Tendenz, die übrigens möglicherweise zugleich eine satirische war und auf eine Persiflierung Platos hinauslief, wie sie ja dem Isokratesschüler sehr nahelag.

Ganz phantastisch ist schon die Einleitung. Sie knüpft an die alte Sage von dem trunken gemachten und gefesselten Waldgott an, der sich vor dem Könige Midas durch die Offenbarung seines tiefsten Wissens lösen muß. Er berichtet dem König von dem Wunderland, das jenseits des großen, den bekannten Erdkreis umgebenden Meeres liegt und von einem glückseligen Menschengeschlecht bewohnt wird. Dort werden die Menschen noch einmal so groß und noch einmal so alt wie bei uns, und ebenso überragt die Tierwelt die unsrige. Das Land selbst hat eine unermeßliche Ausdehnung und zahlreiche große Städte, unter denen wieder zwei als die größten hervorragen: Eusebes und Machimos. Erstere[289] ist die Stadt der Frommen und Gerechten, die um ihrer Tugend willen selbst des Verkehres der Götter gewürdigt werden. Sie leben in beständigem Frieden, in der Fülle der Güter; die Erde spendet ihnen ihre Gaben ohne Pflug und Ackerstier, ohne Aussaat, ihr Leben ist durch kein Siechtum getrübt, heiter und lachend sinken sie in den Tod. Ganz anders die Stadt der Krieger! Ausschließlich dem Waffenhandwerk lebend haben sie ihre ganze Existenz auf Kampf und Eroberung gestellt. Und bei ihrer Menge – es sind ihrer zwei Millionen – ist es ihnen gelungen, zahlreiche Völkerschaften umher unter ihr Joch zu zwingen. Ihr Reichtum ist so groß, daß hier Gold und Silber weit weniger geschätzt wird als bei uns das Eisen. Das ungetrübte physische Wohlsein, dessen sich die Bürger der frommen Stadt erfreuen, ist den Bewohnern dieser Stadt nicht zuteil geworden; immerhin aber fühlen auch sie sich in ihrer Lage so glücklich, daß sie, einmal bei einer Heeresfahrt über das Meer herübergekommen, schon bei den Hyperboreern wieder umkehrten, weil ihnen diese, die glücklichsten der diesseitigen Menschen, allzu elend erschienen! Endlich haust noch ein drittes mächtiges Volk in dem Wunderland, die Meropes, die »viele und große« Städte bewohnen, von denen wir freilich nichts zu hören bekommen als eine phantastische Fabel von dem in ihrem Lande gelegenen Ort der »Nimmerwiederkehr« (Ἄνοστος) mit den Wunderflüssen der Lust und der Trauer.60

Man kann nicht sagen, daß diese (allerdings dürftigen) Züge, auf die sich unsere Kenntnis des Romans beschränkt, eine besondere Originalität verraten. Was ihm die Dichtung oder die Sage, die geographisch-ethnographische Fabelei und sonstige Literatur für seinen Zweck darbot, ist von Theopomp einfach entlehnt oder nachgebildet.61 Die Stadt der Frommen z.B. ist nichts als ein Seitenstück zu dem volkstümlichen Wunschland des goldenen Zeitalters, wie es Hesiod schildert. Die Stadt der Krieger erinnert sofort an die Atlantis Platos, und schon den Gedanken selbst, zwei Volks- und Gesellschaftstypen in dieser Weise sich gegenüberzustellen, hat Theopomp dem platonischen Roman entnommen.62 Wird man annehmen dürfen, daß er in der Schilderung der ökonomischen und sozialen Lebensformen seiner Fabelvölker[290] eine größere Originalität gezeigt hat? Neu ist allerdings, daß er, offenbar um Plato zu überbieten, noch einen dritten Volkstypus anführt, die Meropes, die in dem Roman die Hauptrolle gespielt haben müssen, da er in der Überlieferung bekanntlich kurzweg nach ihnen benannt ist.63 Und hier mag ja Theopomp vielleicht ein eigenes Gesellschaftsideal entwickelt haben. In einer Beziehung wenigstens hat er möglicherweise einen neuen Weg eingeschlagen. Er läßt, wie schon bemerkt, die Meroper »viele und große Städte« bewohnen. Hat er dabei an einen Bund von selbständigen Stadtstaaten gedacht oder an einen einheitlichen Großstaat? Fast möchte man in einer Zeit wie der des heraufziehenden Hellenismus, in der sich der alte Stadtstaat so gründlich überlebt hatte, zumal bei einem mit der neuen Zeit so enge verwachsenen Autor an das letztere denken. Es hätte damit die Vorstellung einer idealen Gesellschaftsordnung im Sinne der Zeitideen eine neue, breitere Basis erhalten; an die Stelle der Stadtstaatsutopie wäre die Landstaatsutopie getreten. Allein angenommen, daß Theopomp diese Wandlung wirklich vollzogen hat – war damit für ihn nicht zugleich die Schwierigkeit, ein wirklich lebensvolles, anschauliches Gesellschaftsbild zu gestalten, bedeutend gesteigert? Eine Schwierigkeit, der gegenüber eine Schriftstellerei wie die seinige notwendig versagen mußte. –

Eine größere sozialgeschichtliche Bedeutung würden wir wohl einem anderen Vertreter des sozialen Romans aus dieser Zeit, nämlich dem Hekatäos aus Teos, zuerkennen dürfen, wenn uns seine das glückselige Leben des nordischen Fabelvolkes der Hyperboreer schildernde Dichtung von der »kimmerischen Stadt« näher bekannt wäre. Die aus seinen Schriften geschöpfte Darstellung jüdischen Lebens bei Diodor und die sicherlich auch von ihm herrührende64 Idealschilderung des alten Pharaonenstaates in demselben Werke lassen ein entschieden sozialpolitisches Interesse erkennen. An dem Judentum interessiert ihn u.a. besonders die gleichheitliche Aufteilung eroberten Landes und die Unverkäuflichkeit der Erbgüter. Er schildert sie als ein Schutzmittel gegen die Profitwut, die Pleonexie, durch welches die Proletarisierung der wirtschaftlich Schwächeren und die Entvölkerung des Landes verhindert würde.65 In der Charakteristik des glückseligen Herrscherdaseins[291] der Pharaonen66 kommt unverkennbar die soziale Auffassung der Monarchie zum Ausdruck, wie sie uns auch sonst in der Staatstheorie der Zeit so bedeutsam entgegentritt,67 die Auffassung des Königtums als eines »Gutes der Gemeinschaft«, als eines »ruhmvollen Dienstes für die Gemeinschaft«, durch den allen ihren Gliedern ihr Recht wird. In der Schilderung der sozialökonomischen Verhältnisse des Landes wird rühmend hervorgehoben die geringe Pacht, die König, Priester und Kriegerkaste von den dem Bauern überlassenen Grundstücken erheben, die Produktivität der verschiedenen Wirtschaftszweige infolge der ererbten technischen Geschicklichkeit und des Fleißes der Bevölkerung, die konsequent durchgeführte Arbeitsteilung,68 der von allen Untertanen geforderte Nachweis der Unterhaltsmittel, die Bekämpfung der Pleonexie durch das Verbot, mit industrieller Tätigkeit Ackerbau oder Handelsgeschäfte zu verbinden oder mehrere Handwerksbetriebe in einer Hand zu vereinigen,69 überhaupt die strenge Durchführung des Grundsatzes, daß »um der Habsucht von Privatpersonen willen nie die gemeine Wohlfahrt aller gefährdet werden darf«.70 Dies und vieles andere läßt dem Verfasser die Staats- und Gesellschaftsordnung des alten Pharaonenreiches als eine geradezu ideale erscheinen. Und er faßt schließlich das Ergebnis seiner Betrachtung in den Satz zusammen, daß diejenigen Gesetze die besten seien, welche nicht die möglichste Förderung des Reichtums, sondern die Erziehung zu einer humanen und sozialen Gesinnung im Auge haben.71

Es kann nach alledem nicht zweifelhaft sein, von welchem Geiste die Schilderung des besten Staates erfüllt war, die Hekatäos von seiner kimmerischen Stadt entworfen hat. Viel Herrliches und »Erhabenes« hat er nach dem Zeugnis eines antiken Lesers von ihr gesagt;72 und es[292] ist beklagenswert, daß uns von dieser offenbar sehr umfangreichen73 Schilderung fast nur ein paar Züge der novellistischen Einkleidung erhalten sind.74 Von Interesse ist höchstens eine Mitteilung über die Fruchtbarkeit des alljährlich zwei Ernten spendenden Landes, welche wenigstens so viel erkennen läßt, daß dem Idealvolk des Hekatäos die Bearbeitung des Bodens nicht erspart war und daher die Bedeutung der wirtschaftlichen Arbeit hier eine ganz andere gewesen sein muß wie etwa in der Stadt der Frommen bei Theopomp. –

Mit dem Roman des Hekatäos wird in der Überlieferung verglichen75 die Geschichte von dem Fabelvolk der Attakoren, die im Anschluß an die indischen Sagen von dem paradiesischen Lande der Uttara Kûrû nördlich des Himalaya, dem indischen Gegenstück der griechischen Hyperboreer, ein gewisser Amometos ebenfalls noch im 3. Jahrhundert verfaßt hat. Und wahrscheinlich gehört der gleichen Epoche der phantastische Roman eines sonst ganz unbekannten Timokles an, der unter einem abenteuerlichen Pseudonym die Glückseligkeit eines von ihm selbst erfundenen Volkes der »Schlangentöter« geschildert hat.76 Dichtungen, von denen wir uns aber eine Vorstellung nicht mehr machen können.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 283-293.
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