2. Die soziale Revolution in Sparta

[347] In Sparta sind die Entwicklungskeime, die anderwärts durch entgegengesetzte, individualistische Strömungen stark zurückgedrängt wurden,[347] zu voller Entfaltung gekommen. Die straff zentralistische Gestaltung des Gemeinwesens prägt sich hier auch in der Organisation und der Rechtsordnung der Volkswirtschaft aus. Das Sozialprinzip, welches hier das ganze bürgerliche Leben bis ins einzelne bestimmte und beherrschte, hat auch zu einer engen ökonomischen Gemeinschaft der Bürger geführt. Die »Sozialisierung des Verzehrs«, die teilweise Gleichheit des Konsums war durch eine Art von gemeinschaftlichem Haushalt in weitem Umfang verwirklicht.827 Das wichtigste Produktionsmittel des bestehenden Wirtschaftssystems, die Arbeitskraft der hörigen Landarbeiter, der Heloten, war Kollektivbesitz der Gesamtheit, welche dadurch zugleich die Möglichkeit erhielt, auf dem für sie wichtigsten Produktionsgebiet die Arbeitsbedingungen, die Verteilung des Arbeitsertrages, überhaupt das ganze Verhältnis zwischen Arbeitern und Patronen im Interesse der Gemeinschaft staatlich zu regeln. Soweit Privateigentum bestand, unterlag es wenigstens einer gewissen sozialen Regelung, sei es durch rechtliche Beschränkung der Herrschaftsbefugnisse des Grundeigentümers, sei es durch die Sitte, welche Gegenstände des Bedarfes durch den Nießbrauch in gewissem Sinne zum Gemeingut machte.828 Nicht bloß nach außen, sondern auch in den Beziehungen untereinander konnten sich hier die einzelnen als Glieder einer eng verbundenen Genossenschaft fühlen.

Daher kommt in Sparta auch das Korrelat des Gemeinschaftsprinzipes: die Idee der Gleichheit, in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck. Die alte Wehrgemeinde der Freien und Gleichen hat sich hier lange in ungebrochener Kraft erhalten. Und wenn gleich die sozialistische Färbung des Gemeinwesens die fortschreitende wirtschaftliche Differenzierung der Bürgerschaft nicht hat verhindern können, so hat doch auch der größere Besitz vor der herrschenden Tendenz der Gleichheit sich beugen müssen. So ist z.B. die demokratische Umgestaltung der bürgerlichen Tracht von Sparta ausgegangen. Die Spartaner haben sich – wie Thukydides berichtet – gegenüber dem Kleiderluxus der alten Zeit zuerst des später allgemein üblich gewordenen schlichten Bürgerkleides bedient und auch im übrigen haben hier die Vermögenden ihre Lebensführung derjenigen der Masse gleichartig gestaltet.829 Die[348] Rücksicht auf die Gleichheit legte dem Bürger im Gebrauch des Reichtums immer gewisse Schranken auf.830

Enthielt nun aber die zunehmende Ungleichheit des Besitzes nicht an sich schon einen Widerspruch zu den Prinzipien, auf denen sich das ganze Gemeinwesen aufbaute? Wenn die bestehende Wirtschaftsverfassung nicht zu verhindern vermochte, daß den Besitzern großen Landeigentums solche gegenüberstanden, deren Anteil nicht einmal mehr für die Behauptung ihrer bürgerlichen Existenz hinreichte, oder die überhaupt keine Scholle mehr ihr eigen nennen konnten, was hatten denn dann für diese Enterbten die genannten Prinzipien noch zu bedeuten? Und in der Tat fügte sich auch das spartanische Staatsrecht in den Zwang, der sich aus der tatsächlichen Gestaltung des Privateigentums ergab. Es schloß alle, welche die Beiträge für die gemeine Bürgerspeisung nicht aufbringen konnten, vom Vollbürgerrecht der »Gleichen« (ὅμοιοι) aus.

Kein Wunder, daß sich dagegen das Gleichheits- und Gemeinschaftsgefühl, das in den Herzen lebte, mächtig auflehnte, daß man gegen die Konsequenzen der ökonomischen Entwicklung die Grundprinzipien des Gemeinwesens ins Feld rief.831 Wir haben noch einige Kenntnis von der gefährlichen Gärung, welche im Anfang des 4 Jahrhunderts unter den vom Kreise der »Gleichen« Ausgeschlossenen herrschte. Von dem Führer der Bewegung, Kinadon, heißt es, er habe im Verhör auf die Frage nach dem Motiv der Verschwörung die Erklärung abgegeben, daß er nicht etwas Geringeres sein wolle als andere in Lacedämon!832 Eine Antwort, die übrigens von den Verteidigern des Bestehenden wahrscheinlich entstellt ist und in Wirklichkeit ganz allgemein gelautet haben wird: »Damit keiner in Sparta geringer sei als der andere.« Jedenfalls war dies für alle seine Schicksalsgenossen längst vor ihm die gegebene Parole.

Ebenso war es nach Lage der Dinge unausbleiblich, daß von dem Moment an, wo sich das Gleichheitsbewußtsein kritisch gegen das Bestehende wendete, die Gleichheitsforderungen eine ökonomische Färbung[349] erhielten, daß auf dem Boden der politischen eine soziale Demokratie erwuchs.

Wenn es die ungleichmäßige Besitzes- und Einkommensverteilung war, welche die bürgerliche Gleichheit vernichtete, so war es in einem Staat, der mit seiner Zwangsgewalt so tief in das wirtschaftliche Leben eingriff, ein naheliegender Gedanke, daß die Staatsgewalt berufen sei, diese Verteilung durch eine zwangsmäßige Regulierung so zu gestalten, daß die von hier aus der Gleichheit drohende Gefahr für immer als beseitigt gelten konnte. Und die einfachste Formel, die sich für die Lösung der Aufgabe darbot, war die: »Tatsächliche Durchführung der Gleichheit aller auch in materieller Hinsicht« oder – konkret ausgedrückt –: »Gleiches Recht für alle an dem Boden«, der das materielle Substrat ihrer ganzen bürgerlichen Existenz bildete. Für diese – in ihrer Tendenz auf Gleichheit der Lebensbedingungen unverkennbar kommunistische – Unterströmung innerhalb der Bürgerschaft und nicht für die tatsächlich anerkannte Rechtsordnung Spartas treffen die Äußerungen über die grundsätzliche Gütergleichheit der Spartaner zu, die uns in der Literatur entgegentreten.833

Allerdings lag dieser argrarische Sozialismus in gewissem Sinne ganz in der Richtungslinie, welche schon die bisherige geschichtliche Entwicklung genommen. Wenn ein Hauptfaktor der Produktion, die Arbeitskraft der Heloten, gesellschaftliches Eigentum war, wenn ein großer Teil des Bodenertrages ebenfalls regelmäßig der Hinüberführung in gesellschaftliches Eigentum unterlag, so tat man nur noch einen weiteren Schritt auf der längst betretenen Bahn, wenn man den Prozeß der Vergesellschaftung auf den Grund und Boden selbst ausdehnte. Auch kehrte man damit ja nur zu dem Ausgangspunkte zurück, in welchem die ganze bestehende Verteilung des Bodens im letzten Grunde wurzelte. Alles bürgerliche Grundeigentum war in Sparta ursprünglich durch Zuteilung von seiten der Gemeinschaft entstanden und der Name »Los« (κλῆρος) für den einzelnen Bodenanteil, sowie für die späteren Landanweisungen auf erobertem Gebiet haben die Erinnerung an diesen Ursprung des privaten Grundeigentums stets wach erhalten. Ungleich mehr noch als bei anderen Völkern muß hier im Volksbewußtsein die Anschauung lebendig geblieben sein, daß die Erde trotz aller Bodenaufteilung[350] niemals völlig aufgehört habe, Gemeingut zu sein, daß daher alles Sondereigentum an Grund und Boden nur innerhalb der Schranken bestehen könne, die eben das vorbehaltene Recht der Allgemeinheit dem Willen des einzelnen setzt. Das Recht der Allgemeinheit aber hatte zur Zeit der ersten Landteilung darin seinen Ausdruck gefunden, daß jedem wehrhaften Glied der Gemeinde ein Grundstück zugewiesen ward, das ihn in den Stand setzte, sich und seine Familie zu erhalten und seine Pflichten gegen die Gemeinde zu erfüllen. Es bedeutete also nur die Rückkehr zu dem in einer bestimmten Entwicklungsphase der Staats- und Gesellschaftsordnung tatsächlich bestehenden Rechtszustand, wenn die Partei der spartanischen Bodenreformer dieses Prinzip durch eine Neuaufteilung des gesamten Grund und Bodens, durch den »γῆς ἀναδασμός« zu verwirklichen gedachte.

Auch war diese Forderung keineswegs so utopisch, wie sie uns auf den ersten Blick erscheint. Sie will ja nicht einen Bruch mit der gesamten bisherigen Rechtsordnung. Das Ziel war ein ähnliches, wie es Proudhon einmal als das seinige proklamiert hat: das Institut des Privateigentums, auf dem die geschichtliche Rechtsordnung beruhte, sollte nicht abgeschafft, sondern nur verallgemeinert werden; es sollten die Schranken fallen, die es einem Teile der Bürger unmöglich machten, Eigentümer zu werden. Daher wird auch an dem Prinzip der privatwirtschaftlichen Organisation der Bodenwirtschaft durch den γῆς ἀναδασμός nichts geändert. Eine Umwandlung derselben in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion war nicht beabsichtigt: nur der Bezug und die Verteilung des agrarischen Einkommens, der Grundrente würde eine andere geworden sein.

Sozialistisch bezw. kommunistisch ist allerdings an dem Reformprogramm die Überführung des Bodens in das Kollektiveigentum, ohne welche eine radikale Neuregulierung der Besitzverhältnisse nicht möglich war, sowie das Prinzip des gleichen Anteiles aller. Dieses Prinzip hätte ja auf die Dauer gar nicht verwirklicht werden können, wenn man nicht das Herrschaftsgebiet des Privateigentums in der neuen Ordnung in einer Weise eingeschränkt hätte, daß von einem wahren Eigentum nicht mehr die Rede gewesen wäre. Es hätte in seinen Konsequenzen ein fortwährendes regulierendes Eingreifen in die Verteilung und Einkommensbildung nötig gemacht, immer wieder zu einem »sozialistischen« Verteilungssystem geführt.

Es wäre von höchstem Interesse, zu erfahren, wie alt die Bodenreformbewegung[351] in Sparta war, wie sie sich im weiteren Verlauf gestaltete und wie sich die bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Gewalten mit ihr auseinandergesetzt haben. Leider läßt uns aber die Tradition darüber fast völlig im Dunkeln. Die Lykurglegende, welche das Programm der Bodenreformer in die graue Vergangenheit zurückprojiziert und den ersten radikalen Versuch zu seiner Verwirklichung schon der Frühzeit der spartanischen Geschichte zuschreibt, ist eben nur eine Legende. In der beglaubigten Geschichte tritt uns das Verlangen nach einer Neuaufteilung des Grund und Bodens erst im Laufe des 7. Jahrhunderts v. Chr. entgegen. Aber auch da erfahren wir weiter nichts als die unmittelbare Ursache der Bewegung: die wirtschaftliche Notlage eines Teiles der Bürgerschaft infolge schlimmer Kriegszeiten, die den Gegensatz von arm und reich so verschärft hätten, daß die unzufriedenen Elemente eben an jenes radikale Heilmittel appellierten.834 Wie man dieser revolutionären Bewegung Herr wurde, welche Reformen sie etwa veranlaßte, wissen wir nicht. Denn die Berufung auf die »ernste und zugleich schwunghafte Kraft der Dichtung« des Tyrtäos, die in der Elegie »εὐνομία« die soziale Revolution bekämpft, enthält natürlich keine Erklärung. Insbesondere bleibt es im unklaren, inwieweit jene außerordentliche Notlage der durch einen Aufstand der messenischen Heloten ihres Grundbesitzes beraubten Bürger oder die Opposition gegen die ja damals schon ziemlich weit fortgeschrittene Ungleichheit in der Bodenverteilung,835 also eine spezifisch antikapitalistische Tendenz, das eigentlich entscheidende Motiv der ganzen Bewegung gewesen ist.

Über die Folgezeit vollends, in der doch Sparta manche innere Wandlung durchgemacht hat, erfahren wir in bezug auf unsere Frage Jahrhunderte hindurch gar nichts. Zwar wird aus dem 4. Jahrhundert von einer gefährlichen revolutionären Bewegung berichtet, der bereits genannten Verschwörung des Kinadon; aber über die sozialpolitischen Ziele läßt uns die Tradition völlig im dunkeln. Erst im nächsten Jahrhundert, wo die soziale Revolution einem reißenden Bergstrom gleich über den Eurotasstaat hereinbrach und das ganze Gesellschaftsgebäude[352] in Trümmer legte, hat sie tiefere Spuren im Gedächtnis der Späteren hinterlassen.

Freilich dürfen wir auch hier nicht erwarten, ein wirklich befriedigendes Bild der Menschen und Dinge zu erhalten. Was die plutarchischen Biographien und das ihnen zugrunde liegende Geschichtswerk Phylarchs von den Sozialrevolutionären auf dem spartanischen Königsthron zu erzählen wissen, zeigt einen solchen Mangel an wirtschaftspolitischer und sozialpsychologischer Einsicht und kehrt zudem so einseitig das menschlich-persönliche Moment hervor, daß eine klare und scharfe Erkenntnis der gesamten wirtschaftlichen Lage, der für und gegen die soziale Reform wirkenden Richtungen und Kräfte für uns von vorneherein ausgeschlossen ist. Und damit entbehren wir auch eines wirklich ausreichenden geschichtlichen Maßstabes für die Beurteilung des sozialpolitischen Wollens und Wirkens der Helden der Erzählung. Dazu wird das geschichtliche Urteil noch dadurch erschwert, daß es die rhetorische Tendenz dieser Geschichtschreibung bei allem Interesse für die Persönlichkeit doch nicht zu einer schärferen Herausarbeitung der Individualität kommen läßt. Das literarische Porträt, wie es uns hier entgegentritt, zeigt ein stilisiertes Antlitz. Die freischaffende Phantasie, die über Gebühr sich geltend macht, hat hier Typen erzeugt, welche den geschilderten Charakteren das Gepräge des Konventionellen geben und die Wirklichkeit verdunkeln. Eine Tendenz, die noch gesteigert wird durch die bewundernde Verehrung, welche der Berichterstatter für seine Helden empfindet, und die er durch eine möglichst pathetische und rührende, alle Mittel der Tragödie aufbietende Darstellung auch auf den Leser zu übertragen sucht.836 So erhalten wir ein Idealgemälde, für das bei der völligen Abhängigkeit Plutarchs von seiner Vorlage und mangels jeder anderen Quelle eine Berichtigung und Ergänzung aus der Tradition nicht möglich ist.

Trotzdem dürfen wir nicht darauf verzichten, die Redaktion, in der die Geschichte des Agis und Kleomenes vor die Nachwelt tritt, einer eingehenden Analyse und Kritik zu unterwerfen. Denn gerade in dieser Form ist sie für die Geschichte des Sozialismus von wahrhaft typischer Bedeutung und nach dieser ihrer sozialgeschichtlichen Seite hin noch nirgends gewürdigt.

[353] Die Gestalt des jugendlichen Königs Agis erscheint bei Plutarch in moralischer wie in sozialpolitischer Hinsicht als das reine Gegenstück zur Tyrannis. Während der Tyrann den Reichen den Krieg erklärt, weil ihn die eigene Gier nach Macht und Genuß sowie die kommunistische Begehrlichkeit und der sozialdemokratische Gleichheitsdurst der Masse dazu drängt, deren Leidenschaften und Instinkten er dienen muß, um Herr zu bleiben,837 fehlen bei König Agis alle Antriebe des Egoismus, jede Rücksicht auf Sonderinteressen von Klassen und Individuen. Er kennt nur ein Motiv und einen Leitstern: das Interesse des Staates, dessen politischen und sittlichen Verfall er tief beklagt und für dessen Wiedergeburt er in schrankenloser Selbstentäußerung Person und Habe zum Opfer bringt. Er ist ein Märtyrer der sittlichen Idee, der es nicht ertragen kann, daß die alte heilvolle Lebensordnung des Staates zur Farce und zur Lüge geworden war, und der aus dem Geiste der Wahrhaftigkeit und Sittlichkeit eine wunderbare Kraft schöpft, sich den übermächtigen Gewalten der Lüge und Selbstsucht entgegenzuwerfen. Nach dieser Auffassung hat seit dem großen Agesilaos Sparta keinen König mehr gesehen, der an Edelsinn und Charaktergröße mit Agis sich messen konnte. In Glanz und weibischem Wohlleben auferzogen, verzärtelt von Mutter und Großmutter, den »reichsten Frauen des Landes«, schwört der kaum zwanzigjährige fürstliche Jüngling plötzlich aller Lust des Lebens ab, wirft allen äußeren Schmuck und Zierat von sich und zeigt sich nur noch in dem groben Mantel der alten Spartiaten, deren harte und entsagungsvolle Lebensweise er in allen Stücken zu der seinigen macht. Die Krone ist ihm an sich völlig gleichgültig. Nur dann, erklärt er, würde sie einen Wert für ihn gewinnen, wenn sie es ihm ermöglichte, die Gesetze und die Zucht der Väter wiederherzustellen.838 Selbst das Leben ist er gerne bereit für sein Ideal zu opfern. Und dies große Werk der Wiederaufrichtung des lykurgischen Staates, in dem er für Sparta das einzige Heil und die einzige Rettung aus trostlosem Verfall erblickt, gedenkt er ohne blutige Gewaltsamkeit zu verwirklichen. Denn sein Herz ist eitel Frömmigkeit, Güte, Menschenliebe!839

Um so düsterer ist der Hintergrund gezeichnet, von dessen Häßlichkeit[354] sich diese hehre Lichtgestalt in strahlender Schönheit abhebt. Die Schilderung des Bestehenden und seiner Verteidiger ist durchaus beherrscht von jenem räsonierenden Pessimismus der Philosophie des Elends, wie wir ihn in der sozialistischen Kritik der Gesellschaft zu allen Zeiten wiederfinden.

Damit die Peripetie, der Umschlag, den die Theorie fordert, nicht als revolutionäre Willkür, sondern als die naturgemäße, der inneren Logik der Dinge und der Gerechtigkeit entsprechende Konsequenz der sozialen Entwicklung selbst hingestellt werden kann, muß die bestehende Gesellschaft in eine Beleuchtung gerückt werden, in der sie politisch, ökonomisch und moralisch für den Zusammenbruch völlig reif erscheint. Weil das Ideal alles reformatorischen Strebens in der Richtung des Kollektivismus (der κοινωνία!) und der radikalen sozialistischen Ausgleichung gesucht wird, muß die von der Theorie aufgegebene Gesellschaft einen Zustand aufweisen, der durch die Überspannung des Individualismus auf ethischem wie auf sozialökonomischem Gebiet ein so heillos verfahrener geworden ist, daß dieser Gesellschaft nur noch die Wahl zwischen Abdankung oder Untergang bleibt.

Daher erscheint die plutokratisch-proletarische Spaltung in dieser Tradition so sehr auf die Spitze getrieben, als ob es in dem damaligen Sparta überhaupt nur noch übermäßig reiche Kapitalisten und ganz verkümmerte und armselige Proletarier gegeben habe. Die ja unleugbar vorhandene, äußerst ungesunde Konzentrierung von Grundbesitz in den Händen einer Minderheit und die zunehmende Proletarisierung der Masse wird so geschildert, als ob aller und jeder kleinere und mittlere Besitz in das massenhafte Eigentum weniger übergegangen und die Expropriation der großen Mehrheit von Grund und Boden, von Lebensmitteln und Arbeitsinstrumenten so vollkommen durchgeführt gewesen wäre, daß nur noch etwa hundert Spartiaten Grund und Boden besaßen und die gesamte übrige Bürgerschaft ohne Unterschied (angeblich noch 600) nichts war als ein hungerndes und faules Gesindel.840

[355] Es ist in gewisser Hinsicht ein Seitenstück zu der »Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte«, wie sie der Marxismus als das Endergebnis der natürlichen Evolution der kapitalistischen Gesellschaft hinstellt. Hier hat, um marxistisch zu reden, »dieser Umwandlungsprozeß nach Tiefe und Umfang die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt«, so daß nun für die weitere »Vergesellschaftung« nicht einmal viel mehr zu tun übrig bleibt. Je weiter die Konzentration der Kapitalien fortgeschritten, je einheitlicher die zwingende soziale Gewalt ist, welche die ganze Volkswirtschaft beherrscht, um so näher gerückt erscheint die Möglichkeit einer noch größeren Vereinheitlichung. Man braucht nur mit dem kleinen Häuflein von Kapitalmagnaten so zu verfahren, wie sie und ihre Vorgänger es mit der großen Masse der Bürger getan, dann ist die Summe der Güter in einer Hand vereinigt und die Möglichkeit einer umfassenden planmäßigen Verteilung gewonnen, welche die ökonomische Struktur der Gesellschaft völlig umgestaltet, d.h. die Expropriateurs werden expropriiert und der kapitalistische Klassenstaat ist gesprengt!

Daß die Dinge so einfach nicht lagen, daß dieser aus 100 Kapitalisten und 600 Bettlern bestehende Spartanerstaat eine Konstruktion ist, bedarf für uns keines weiteren Beweises.841 Die Verelendungstheorie gehörte nun eben einmal schon damals zur sozialistischen Kritik der Gesellschaft. Schon für Plato ist es selbstverständlich, daß in Staaten, wo die Oligarchie, d.h. die Plutokratie, herrscht, »fast alle, welche außerhalb der herrschenden Klasse stehen, Bettler sind«.842 Und gemäß dieser allgemeinen Grundanschauung wird der Satz: »Der Boden des Landes (oder der Besitz überhaupt) ist in den Händen weniger«, von der sozialistischen Geschichtsbetrachtung der Zeit wie eine stereotype Formel gebraucht, um die plutokratische Entartung der Gesellschaft möglichst drastisch zu kennzeichnen. Aristoteles z.B. wendet diese Formel auf die Grundbesitzverteilung Spartas im vierten Jahrhundert genau so an, wie auf diejenige Attikas im sechsten.843 Im letzteren Falle[356] ist diese Charakteristik nachweislich falsch und eine gewaltige Übertreibung; wie kann sie da in dem anderen Anspruch auf die unbedingte Glaubwürdigkeit machen, die ihr bisher so allgemein zugestanden wurde? Und erhält die Formel etwa einen größeren Wert im Munde Phylarchs oder Plutarchs, von denen sie ebenso schablonenhaft für das lykurgische wie für das Sparta des Agis angewendet wird?

Ebenso tendenziös wie die ökonomische ist die ethische Charakteristik der herrschenden Gesellschaft. Die ganze plutokratische Entartung derselben soll dadurch herbeigeführt sein, daß die »Starken« der Gesellschaft in schnöder Habgier einer Veränderung des Landrechtes zustimmten, welche die absolute Verfügungsfreiheit des Inhabers über sein Landlos herbeiführte und es ihnen ermöglichte, die legitimen Erben mit brutaler Rücksichtslosigkeit aus ihrem Erbe zu verdrängen, sie massenweise »beiseitezuschieben«.844 Also eine Expropriation im schlimmsten Sinne des Wortes, die ihre Urheber als Räuber an der Gesellschaft brandmarkt, ihre Opfer recht eigentlich als die Enterbten erscheinen läßt.

Die Formel, die hier zur Erklärung der historisch gewordenen Besitzesverteilung gebraucht wird, ist zu einfach und zu mechanisch, als daß sie das geschichtliche Denken befriedigen könnte. Auch ist das Motiv, welches – allerdings unbewußt – zu dieser Art von Kausalerklärung geführt hat, so durchsichtig, daß es ihre Beweiskraft doch sehr herabsetzt. Wenn der Sozialismus den Anspruch erhob, das reale Leben frei formen zu können, so konnte es ja diesem Anspruch nur förderlich sein, wenn es der sozialistischen Diagnose gelang, den ganzen bestehenden Gesellschaftszustand als einen von willkürlicher Einwirkung bestimmten und daher auch vernünftig bestimmbaren zu erweisen. Ein Beweis, der aber freilich ohne künstliche Konstruktionen und Übertreibungen nicht zu erbringen war.

[357] Ebenso wie hier liegt ferner die Übertreibung auf der Hand bei dem geschichtlichen Urteil, welches über die Haltung der Besitzenden gegenüber dem weiteren Verlaufe der Dinge gefällt wird. Wie die Sinnlosigkeit und Unvernunft des Bestehenden einzig und allein auf den bösen Willen der Reichen zurückgeführt wird, so soll auch ihr Widerstand gegen die königlichen Sozialrevolutionäre einzig und allein die Folge ihrer Verworfenheit und materialistischen Gesinnung gewesen sein. Sie »zittern vor dem Gedanken an Lykurg wie entlaufene Sklaven, die zu ihrem Herrn zurückgebracht werden sollen«.845

Besonders verächtlich erscheint die Haltung der sozialkonservativen Partei dadurch, daß als die eigentliche Seele des Widerstandes die weibliche Gegnerschaft des Agis hingestellt wird: jene reichen Erbinnen, in deren Händen sich ein großer Teil des spartanischen Grund- und Kapitalbesitzes befand,846 und die in ihrer »Gemeinheit«847 auf Luxus, Macht und Ansehen nicht verzichten wollen. Sie stecken sich hinter den anderen König, den alten Leonidas, der zwar zunächst nicht offen gegen Agis aufzutreten wagt, aber um so energischer mit den vergifteten Waffen der Verleumdung ihm entgegenarbeitet. Dieser König spielt hier dieselbe gehässige Rolle, wie sein mythischer Doppelgänger, der Leonidas im Lykurgroman, der durch seine Verdächtigungen den großen Gesetzgeber aus der Heimat vertreibt.848 Eine Erfindung, die offenbar darauf berechnet ist, den historischen Leonidas für alle Zeiten zu brandmarken, indem man dem elenden Widersacher des sozialen Heilandes Spartas die natürlich möglichst verzerrten Züge und den Namen des Agisfeindes gab.

Wie sein mythischer Vorgänger gegen Lykurg die Anklage erhoben hatte, daß er sich mit seinen Plänen widerrechtlich den Weg zum Thron zu bahnen suche, so behauptet der Verleumder des Agis, daß der letztere nur deshalb das Gut der Reichen den Armen gebe, die Landaufteilung und den Schuldenerlaß wolle, um die Hilfe der Masse für die Unterstützung eines Planes zu erkaufen, der auf nichts Geringeres hinauslaufe, als auf die Gewaltherrschaft.849 Und später wird zur näheren[358] Charakteristik des Leonidas hinzugefügt, sein Eifer für die Erhaltung des Bestehenden sei besonders von der Besorgnis eingegeben gewesen, durch den großartigen Opfermut des Agis und seines Hauses für immer in Schatten gestellt zu werden. Agis hatte sich nämlich vor allem Volk bereit erklärt, als der erste sein gesamtes Hab und Gut, ausgedehntes Acker- und Weideland und nicht weniger als 600 Talente baren Geldes, dem Staate zur Verfügung zu stellen; und er hatte gleichzeitig verkündet, daß auch Mutter und Großmutter, Freunde und Verwandte ihre Reichtümer in die neue soziale Gemeinschaft einwerfen würden.850 Eine Erklärung, die von dem Volke mit dem jubelnden Zuruf begrüßt wird: »Endlich einmal nach drei Jahrhunderten ein König, der Spartas würdig ist!« Das kann der in der Hofluft des hellenistischen Orients verderbte ältere König nicht vertragen. Er überlegt bei sich: »Dringt Agis durch, so werde ich gezwungen sein, dieselben Opfer zu bringen, ohne doch auf dieselbe Dankbarkeit von seiten der Bürger rechnen zu dürfen«. Denn wenn auch alle in gleicher Weise hergäben, was sie besitzen, so werde man doch allein alle Ehre demjenigen zuwenden, der den Anfang gemacht! Und diese kleinliche Reflexion gekränkter Eitelkeit gibt den entscheidenden Ausschlag!

Nun wird ja niemand leugnen, daß der von dem plutokratischen Geist unzertrennliche materielle Egoismus, staatswidrige Gesinnung, Haß und Leidenschaft auf reformfeindlicher Seite in reichlichem Maße vorhanden war. Aber nicht minder steht fest, daß damit der Widerstand, den der monarchisch-demokratische Sozialismus des Agis finden mußte, nur höchst einseitig und ungenügend motiviert ist. Wir haben auch hier wieder eine schablonenhafte Auffassung vor uns, die in der Literatur des doktrinären Sozialismus zu allen Zeiten wiederkehrt und die – wie schon ihr Einfluß auf die damalige Geschichtschreibung beweist – für die Klassenkämpfe der hellenischen Welt überhaupt eine gewisse typische Bedeutung gehabt hat. Die Anklagen, welche die Freunde des Königs Agis gegen die antisozialistische Partei schleuderten, sind z.B. ganz auf den gleichen Ton gestimmt, wie die Äußerungen der Entrüstung, welche die soziale Komödie den athenischen Proletariern gegen die Reichen in den Mund legt, und denen wir auch sonst in der Anklageliteratur gegen den Reichtum wiederholt begegnet sind.851 Ohne Zweifel war an dieser Entrüstung nur zu vieles berechtigt. Aber ebenso[359] gewiß ist es, daß hier der blinde Eifer der Doktrinäre gegen Andersdenkende weit über das Ziel hinausschießt und es nirgends zu einer objektiven Beurteilung kommen läßt.

Der Biograph des Agis steht ganz im Banne der Anschauung, wie wir sie bei den eben dieser Epoche angehörigen Vorläufern Rousseaus kennen gelernt haben.852 Mit Plato, Dikäarch und der Stoa ist er der Ansicht, daß die Laster der Habgier (Pleonexie) und des schmutzigen Geizes der kapitalistischen Wirtschaftsordnung spezifisch eigentümlich seien. Erst seitdem sich der Erwerbstrieb auf Gold und Silber gerichtet habe und die Ansammlung von Reichtum möglich geworden sei, hätten sich als Begleiterscheinungen des Reichtumserwerbes diese Laster in der Gesellschaft eingenistet!853 Eine Ansicht, die durch ihre Überschätzung der »natürlichen«, d.h. durch den Kapitalismus noch nicht verderbten Güte der menschlichen Natur ganz folgerichtig zu dem Schlusse kam, daß eben nur der Kapitalismus das Hindernis aller sittlichen und sozialen Wiedergeburt sei. Daher der für unsere Biographien so charakteristische naive Glaube, der nirgends Schwierigkeiten sieht als eben in dem bösen Willen der Besitzenden, und ihren Widerstand gegen die programmäßige Zertrümmerung der Gesellschaft dem öffentlichen Gewissen der Gegenwart und der Nachwelt ohne weiteres als Ausfluß gemeiner Habgier und niedriger Gesinnung denunziert. Genau so, wie in der Lykurglegende alles überaus glatt vonstatten geht und nur die bösen Reichen durch ihr Schreien und Toben gegen den großen Reformer die durch seine überzeugende Rede hervorgezauberte allgemeine Harmonie stören!

Das nüchterne Urteil der Geschichte wird anders lauten. Es wird vor allem darauf hinweisen, daß die allgemeine Gleichmacherei, wie sie König Agis plante, ja nicht bloß das Übermaß des Reichtums mit der Überführung in gesellschaftliches Eigentum bedrohte, sondern das bestehende Privateigentum überhaupt, also das, was dem Menschen für ebenso unverletzlich und unantastbar gilt, wie seine Persönlichkeit selbst, was für ihn ein wahres noli me tangere ist! Kann dieses tiefberechtigte Gefühl, das der natürliche, von einem ungesunden »Idealismus« freie Sinn für die Bedeutung des »Vermögens« hat, und der in[360] diesem Gefühl wurzelnde Trieb des Menschen, das »Seine« zu behalten, schlechthin mit dem gesellschaftswidrigen Interesse des Geldsacks identifiziert werden, wie es diese doktrinäre Pseudohistorie tut?

Zwar wäre die engherzige Plutokratie des damaligen Sparta schwerlich auch nur zu demjenigen Maß von Opfern bereit gewesen, welches bei der Zerrüttung von Staat und Gesellschaft das öffentliche Interesse unbedingt von ihr erheischte. Aber auch das rechtfertigt die Deklamationen über eine außergewöhnliche sittliche Verkommenheit nicht. Wo hat je eine ganze soziale Klasse als solche, als Klasse, aus purem Wohlwollen für die übrigen Glieder der Gesellschaft, aus Interesse am Gemeinwohl, kurz aus rein altruistischen Motiven ihre ganze soziale Position freiwillig geopfert? Eine solche Klasse hat es nie gegeben, nicht einmal im Reiche der Legende, wie ja gerade damals die Verkündiger des Lykurgevangeliums selbst ganz offen zugestanden haben. Und nun vollends eine Politik der allgemeinen Beraubung! Mußte sich nicht alles dagegen auflehnen, was irgendwie kulturell oder wirtschaftlich über dem Proletarier stand und die Sachlage nüchtern und unbefangen beurteilte? Die Lykurglegende rühmt einmal mit Pindars Worten die kluge Einsicht, welche die Greise Altspartas ausgezeichnet habe. Wenn man sich in dem späteren Sparta von dieser praktischen Lebensweisheit auch nur ein Restchen bewahrt hatte, so konnte man unmöglich im Zweifel darüber sein, daß der – noch dazu völlig unvermittelte – Versuch, den Lykurgroman in die Wirklichkeit umzusetzen, und der Glaube, durch eine radikale Beseitigung aller Unterschiede des Besitzes, der Erziehung und Bildung einen Zustand sozialer Vollkommenheit schaffen zu können, nichts als unvernünftige Ideologie war. Man hätte dem jugendlich unreifen Überschwang dieses himmelstürmenden Radikalismus einfach mit dem Hinweis darauf begegnen können, daß selbst der idealste und phantasievollste Vertreter des Sozialismus, ein Mann wie Plato, in der reiferen Einsicht seines Greisenalters auf eine solche dramatische Lösung der sozialen Frage ausdrücklich verzichtet hatte.854

Und lehrte nicht die wirtschaftliche Geschichte Spartas selbst, daß die Ungleichheit sich schon aus der Institution des Eigentums ergibt, mit der sogar der Lykurg der Legende nicht völlig zu brechen gewagt hatte! Wie konnte da selbst die getreueste Reproduktion der »lykurgischen« Gesellschaftsordnung855 eine genügende Bürgschaft für die Verwirklichung des Gleichheitsideals der Reformpartei gewähren?

[361] Dazu welch eine Unnatur, inmitten einer Gesellschaft, welche die Errungenschaften der Hochkultur in sich aufgenommen hatte, inmitten einer doch nicht bloß an materialistischer Entartung, sondern auch an wirklichen Kulturbedürfnissen und Kulturgenüssen reichen Entwicklung eine vollkommene und ausnahmslose Gleichheit herstellen zu wollen, die der differenzierte Kulturmensch der Epoche als eine tatsächliche Unwahrheit und schreiende Ungerechtigkeit empfinden mußte!

Wer bürgte endlich dafür, daß so gewaltige Opfer nicht völlig nutzlos gebracht würden, daß aus der geplanten Gleichheit wirklich die sittliche Wiedergeburt und die ideale Harmonie erblühen würde, welche das sozialistische Prophetentum seinen Gläubigen in Aussicht stellte? Der Charakter, den die Umsturzbewegung naturgemäß sehr bald annahm, war der einer demokratischen Massenbewegung. Der natürliche Verbündete des Königs, das wichtigste reale Machtelement in dem Kampf gegen die bestehende Gesellschaft war die längst auf den Umsturz lauernde proletarische Masse.856 Mit ihr mußte die Revolution gemacht werden, sie sollte ihre Früchte genießen, mit ihren Wünschen und Neigungen mußte von den Führern der Bewegung gerechnet werden. Daher war auch der Ton, auf den ihre Propaganda bei der Masse gestimmt war, ein echt demagogischer. Die Vorkämpfer der Umwälzung, als welche ein Lysander, Mandrokleidas und des Königs Oheim Agesilaos genannt werden, schleudern unter die auf der Agora versammelte Menge die hetzerischen Schlagwörter des Klassenkampfes: das Volk solle es sich nicht länger gefallen lassen, daß ein paar Leute ihren Übermut an ihm ausließen und Sparta erniedrigten.857 Ein Zug der Überlieferung, der gewiß echt ist. Die Umsturzpartei ging also grundsätzlich den Weg und mußte ihn gehen, den einmal Lasalle mit den Worten gekennzeichnet hat: Es gilt, »das Volk selbst auf die Bühne zu führen und seine Rechte herzustellen«.

Das »Volk«, d.h. in diesem Fall das Proletariat der Fäuste, auf der politischen Bühne! Was das bedeutete, hatte man doch in Hellas zur Genüge kennen gelernt! Seit Jahrhunderten währte nun schon der Kampf, der unter der Devise der Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit gegen die Besitzenden geführt ward; und wie oft hatte er der Masse und ihren Führern die Entscheidung in die Hand gespielt! Hatte[362] sie bis dahin in ihrem Gebaren auch nur eine Spur von dem idealen Geiste des Rechtes und der Gemeinsamkeit erkennen lassen, den die Apostel des lykurgischen Staatsgedankens mit ihrer doktrinären Rettungsidee in den Gemütern der Menge hervorzaubern zu können glaubten? Wütende Ausbrüche des Hasses und der Rachgier, blutige Gewaltsamkeit, Mord, Raub und Plünderung, wüste Ausschweifung, das waren die ständigen Begleiterscheinungen des Klassenkampfes geworden, seitdem man begonnen, die ökonomische und soziale Ausgleichung praktisch ins Werk zu setzen. Es hatte sich zur Genüge gezeigt, daß die kollektivistische Empfindung der Masse, die Idee der »Brüderlichkeit« (κοινωνία) mindestens ebensosehr in egoistischem Selbstinteresse wurzelte wie der Individualismus des Kapitales, daß der elementare Drang der individuellen Selbstsucht in der Politik der Enterbten nicht minder mächtig war als bei den Parteien des Besitzes. Hatte sich neben der berechtigten Erbitterung über Elend und Ausbeutung nicht zu allen Zeiten auch das – meist mit brutaler Härte und cynischem Übermut sich durchsetzende – Gelüst nach dem Gute des Nächsten breit gemacht, den man austrieb, um sich und zwar sich ausschließlich an seine Stelle zu setzen? Konnte man es den Gegnern des Agis so sehr verargen, wenn sie das romantische Spiel mit dem hier aufgehäuften sozialen Zündstoff nicht mitmachen wollten, wenn sie in der Proklamation der Gleichheit und Brüderlichkeit nur heuchlerisch verhüllten Egoismus sahen und in der geplanten demokratischen Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse nur die Absicht witterten, die Minderheit durch die Mehrheit zu verdrängen? Welches Schicksal aber hatte jene von einer Mehrheit zu erwarten, deren unversöhnlichem Haß gegen die herrschende Klasse schon über ein Jahrhundert früher der Rebell Kinadon in den drastischen Worten Ausdruck verliehen hatte, daß die spartanischen Bürger minderen Rechtes (ὑπομείονες), ganz ebenso wie die Leibeigenen und Untertanen, jene Klasse »am liebsten mit Haut und Haar aufgefressen« hätten!858

Angesichts der tausendfältigen Erfahrungen der nationalen Geschichte erscheint in der Tat der Glaube der spartanischen Staatsromantik, daß man nur durch eine allgemeine Konfiskation Reichtum und Armut zu[363] beseitigen brauche, um Mißgunst, Hoffart und sonstige Schlechtigkeit aus der Welt zu schaffen,859 als kindliche Hoffnungsseligkeit, als eine ungeheure Selbsttäuschung. Der Klassenstaat sollte vernichtet werden mit Hilfe einer Gesellschaftsschicht, der es bei der Bekämpfung der bestehenden Klassenherrschaft bisher zum größten Teil eben auch nur darum zu tun gewesen war, ihre eigenen Klasseninteressen und Klasseninstinkte zur Geltung zu bringen und die neue Ordnung der Dinge so zu gestalten, als ob eben nur dieser Teil der Gesellschaft, nur diese ihre Klasse vorhanden und berechtigt wäre, den Staatswillen zu bestimmen!860

Und gleichzeitig erhoffte man von dieser tief im sinnlichen Begehren steckenden Masse, daß sie mit einem Male so viel Selbstentsagung und Selbstverleugnung, so viel Uneigennützigkeit, Pflichtgefühl und Subordination an den Tag legen werde, wie es die geplante Rückkehr zu der rauhen Zucht des altspartanischen Kriegerstaates von jedem Bürger forderte! Dieselbe Klasse, deren Sieg bisher immer nur eine neue Form der Herrschaft der Gesellschaft über den Staat bedeutet hatte, sie sollte der Träger einer Politik werden, welche das diametrale Gegenteil erstrebte: die unbedingte Unterordnung aller Einzelwillen unter die reine Staatsidee, die vollkommene Souveränität des Staates über die Gesellschaft! Die Vaterlandslosigkeit des spartanischen Proletariates dieser Zeit, die unser Bericht beklagt,861 mochte ja das psychologisch unvermeidliche Ergebnis seiner sozialen Erniedrigung und durch die herrschende Klasse mitverschuldet sein. Konnte aber ein einfacher Wechsel der ökonomischen Lage die durch diese Erniedrigung herbeigeführte Demoralisation beseitigen?

Wir haben es hier im Grunde mit demselben Optimismus zu tun, der uns in der platonischen Anschauung entgegentritt, daß die Menge zur lammfrommen Herde werden würde, wenn sie nur die philosophischen Staatsmänner am Werke sähe.862 Es ist dieselbe Idealisierung der Menschennatur, die das πρῶτον ψεῦδος des doktrinären Sozialismus bis auf den heutigen Tag bildet. Eine Idealisierungsfähigkeit gegenüber der in[364] Gedanken konzipierten neuen Gesellschaft, die zu dem Pessimismus gegenüber der alten in auffallendem Widerspruche steht. Damit der neue Gesellschaftsbau auf Grund der Tugend aller errichtet werden kann, müssen die Triebe und Instinkte, die nun einmal in dem Menschen der Wirklichkeit mächtig sind, aus der Reihe der wirkenden Kräfte überhaupt ausgeschaltet werden! Kurz, man rechnet nicht mit der menschlichen Natur, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte.

Ist doch schon der Grundgedanke der lykurgischen Staatsromantik, daß die Ausgleichung des sozialen Niveaus eine wesentliche Verringerung oder gar Beseitigung gewisser antisozialer Instinkte zur Folge haben würde, psychologisch unhaltbar. Da es nicht die absolute Größe eines Eindrucks oder eines Objektes ist, die unsere Reaktion darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen anderweite Eindrücke, so können auch bei großer Gleichheit schon sehr geringe Differenzen in bezug auf die äußere Stellung, Amt, Ehre usw. zu Neid, Streberei (Pleonexie), Hochmut usw. führen, also ganz ähnliche psychische Wirkungen der Differenzierung hervorrufen, wie die Unterschiede, welche zwischen sozial weit getrennten Gesellschaftsschichten bestehen.863 Eine Tatsache, welche die Lykurglegende und die ihr zugrunde liegende Zeitphilosophie ebenso ignoriert, wie der moderne Sozialismus.

Angesichts der starken Illusionsfähigkeit, welche diese Sozialphilosophie des Optimismus für ihre rasch konstruierten Rettungsgedanken forderte, erscheint der Versuch der von dieser Anschauung beherrschten Überlieferung, nicht nur den moralischen, sondern auch den intellektuellen Bankerott ihrer Gegner zu erweisen, geradezu kindlich.864 Nach Plutarch klammert sich nämlich König Leonidas bei der öffentlichen Verhandlung der Frage in der Ekklesie an den bekannten Zug der Lykurgtradition, wonach Lykurg sich wenigstens einer Expropriation des beweglichen Vermögens, also auch des Schuldenerlasses enthielt, den die Reformer verlangten.865 Worauf König Agis ironisch erwidert, es sei nicht zu verwundern, wenn ein Mann, der in der Fremde aufgewachsen und Kinder von Satrapentöchtern habe, nichts davon wisse, daß Lykurg durch Abschaffung des gemünzten Geldes dem Leihen und[365] Borgen überhaupt ein Ende gemacht habe! Ein Einwurf, auf den Leonidas nichts zu erwidern vermag. Und damit ist das ganze große Problem der sozialen Neugestaltung erledigt, ohne daß von gegnerischer Seite auch nur ein einziges sachliches Argument vorgebracht würde!866 Kann etwas die klägliche Armseligkeit und die tendenziöse Befangenheit des erhaltenen Berichtes drastischer kennzeichnen, der sich das Widerstreben gegen Agis nicht anders zu erklären weiß, als durch die sittliche Verkommenheit, der nun eben einmal die ältere Generation unrettbar verfallen gewesen sein soll?867

Natürlich erscheint dann in konsequenter Anwendung der Schablone gegenüber dem eingefleischten Bourgeoisgeist der »Alten« in um so glänzenderem Lichte die Haltung der unverdorbenen »Jungen«. Die »Jugend« (οἱ νέοι) wendet sich auf das Wort des Königs »ungesäumt der Tugend zu und tut ihre bisherige Lebensweise ab wie ein altes Kleid, um die wahre Freiheit zu gewinnen«. Willenlos gibt sie sich dem Zauber der prophetischen Jünglingsgestalt gefangen. Kurz, man hat den Eindruck einer wahrhaft idealen Begeisterungsfähigkeit, für die es kaum mehr der göttlichen Weisung bedurft hätte, die eben damals aus dem Tempel der Pasiphae an die Spartiaten ergangen sein soll, daß sie »wieder gleich werden müßten, wie sie nach lykurgischer Satzung im Anfang gewesen«.868

Derselben idealen Schwärmerei begegnen wir bei den Frauen des königlichen Hauses, deren Mitwirkung dank der Größe ihres Besitzes und der Menge ihrer Freunde, Dienstleute und Schuldner äußerst wertvoll war. Auch hier haben der König und seine Freunde leichtes Spiel. Zwar überwiegt bei der Königin-Mutter zuerst die Empfindung des Schreckens und der Sorge. Sie fühlt, daß der Sohn Unmögliches und Verderbliches plane. Aber Agesilaos, ihr Bruder, belehrt sie, wie schön und gemeinnützig das Unternehmen sei, und der König selbst beschwört sie, ihren Reichtum der Ehre des Sohnes zu opfern. Er könne nicht, sagt er, an materiellen Machtmitteln mit anderen Fürsten rivalisieren. Wenn er aber durch die Pflege des Ideals sich vor diesen in Wohlleben versunkenen Afterkönigen hervortue, wenn er die Gleichheit und Brüderlichkeit unter seinen Bürgern wiederherstellen könne, dann werde er Namen und Ruhm eines wahrhaft großen Königs erwerben. Diese[366] Begründung zerstreut alle Bedenken der Königin. Sie, ihre Mutter und, wie es scheint, noch andere verwandte und befreundete Frauen werden von dem Enthusiasmus des Jünglings mitfortgerissen.869 Und einmal »von dem Anhauch göttlicher Begeisterung erfüllt, welche die sittliche Schönheit des großen Gedankens in ihren Seelen entzündet«, werden sie die eifrigsten Werberinnen für den König, der ihnen nun nicht schnell genug zur Tat schreiten kann.870

Der völlige Gesinnungswandel, der sich hier in einem Teile der herrschenden Gesellschaft vollzieht, erinnert lebhaft an die in ihren Einzelheiten ja eben damals konzipierte Geschichte des großen Vorbildes des Agis, dem es gleichfalls durch die bloße Macht des prophetischen Wortes gelungen sein soll, die Bürgerschaft sittlich so umzustimmen, daß die Errichtung eines völlig neuen Gesellschaftsbaues auf Grund der Gleichheit und Tugend aller mit überraschender Leichtigkeit vonstatten ging.871 Zwar zieht die ethische Umstimmung in der Zeit des Agis nicht so weite Kreise wie in der Lykurgs. Aber sie bleibt doch immerhin wunderbar genug, wenn man sich vergegenwärtigt, in welcher gesellschaftlichen und geistigen Atmosphäre sie zustande kommt. Sie vollzieht sich im Schoße einer angeblich völlig entarteten Plutokratie, die nach derselben Schilderung bisher mit opulenter Gleichgültigkeit zusah, wie die ungeheure Mehrheit des Volkes in Armut und Elend verkam, während unter ihr selbst Üppigkeit und Verschwendung und unerträglicher Klassenhochmut immer mehr überhand nahm.

Wird man es dem Bericht wirklich glauben, daß die gesamte jeunesse dorée, die ganze jüngere Generation einer dem Moloch des Mammons und des brutalen Klassenegoismus dienenden Gesellschaft noch so viel ideale Empfindung besaß, um sich allen entgegenstehenden Antrieben eines natürlichen Egoismus und der ungeheuren Gewalt einer durch ihre ganze Erziehung aufs höchste gesteigerten Begier nach Genuß und Herrschaft und zügelloser Geltendmachung des Sonderwillens durch einen wahrhaft zauberischen Akt sittlicher Wiedergeburt mit einem Schlage zu entreißen und sich zu einem Ideal der Selbstentäußerung[367] und Askese zu bekennen, das fast dieselbe Opferfreudigkeit von ihr verlangte wie etwa die Aufforderung Jesu an den reichen Jüngling, all sein Gut den Armen zu geben? Der Jüngling im Evangelium »geht betrübt von dannen; denn er hatte viele Güter«. Und ein anderer Jüngling, der Alkander der Lykurglegende, hat sich an dem unbequemen Apostel der Gleichheit und Entsagung sogar tätlich vergriffen!872 Und die im Glanz und Wohlleben aufgewachsenen Altersgenossen des Agis sollen in ihrer Gesamtheit oder auch nur der Mehrzahl nach873 sofort bereit gewesen sein, den kühnen Ikarusflug ihres Königs mitzumachen? Man mag die Begeisterungsfähigkeit der Jugend und die Zahl enthusiastischer Jünger, die sie der Sache des Umsturzes auch aus den Reihen der vornehmen Jugend zuführte, noch so hoch veranschlagen, man mag auf das Beispiel cynischer Philosophen, wie des Krates, hinweisen, der der Doktrin zuliebe sein ganzes Vermögen – angeblich 200 Talente – unter seine Mitbürger aufgeteilt hat;874so, wie uns der Bericht Plutarchs den Umschwung schildert, ist die Übertreibung unverkennbar. Und wie viel mag von dieser Begeisterung mehr als bloßes Strohfeuer und jugendliche Übereilung gewesen sein! Wie vielen mochte es wirklich ernst sein, ihr Hab und Gut mit den Armen zu teilen?

Übrigens beweist die Anhängerschaft, die Agis immerhin bei einem Teile der herrschenden Gesellschaftsklasse fand, daß dieselbe doch nicht so allgemein und so ausschließlich im reinen Materialismus verkommen war, wie es die düstere Schilderung unserer Tendenztradition behauptet. Wir dürfen eben nicht vergessen, daß in Sparta mit der Entwicklung der Geld- und Kapitalwirtschaft und der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft auch die Aufnahmefähigkeit für die Elemente der höheren Kultur bedeutend gestiegen war. Und dieses höhere Kulturleben der Nation war denn doch noch immer mächtig genug, um neben den materiellen Tendenzen des Wirtschaftslebens auch ideelleren Gesichtspunkten Geltung zu verschaffen.

Zeuge dessen der in zahllosen Kanälen über die ganze hellenische Welt sich verbreitende Einfluß der Philosophie. Sie beherrscht die höhere Bildung nicht nur in den Zentren der hellenischen Kultur, sondern bis in die kleinsten Orte hinein hat sie ihre Lehrer und Bekenner. Und in der Literatur, besonders in der Publizistik, im Lehrgedicht, im Roman begegnen wir ja ihren Spuren allenthalben.875 Wie mächtig hat[368] allein das aufs höchste gesteigerte Bedürfnis der Zeit, alles möglichst rationell, möglichst vernunftgemäß zu gestalten, diesen Einfluß gefördert! Man denke nur an diejenige Macht, die damals recht eigentlich im Mittelpunkt der geschichtlichen Bewegung steht, an die Monarchie und ihr Verhältnis zum Geistesleben der Zeit! Die Fürsten des Hellenismus standen vielfach in persönlicher Beziehung zur Philosophie und ihren Vertretern. Sie legten Wert darauf, ihre Gewalt vor diesem geistigen Forum zu legitimieren.876 Daher steht auch die Philosophie der Zeit keineswegs immer in vornehmer Einsamkeit abseits vom Strome des Lebens. Sie begnügt sich nicht mit Monologen und abstrakten Diskussionen in Büchern und Hörsälen. Wie sie schon frühzeitig die politischen und sozialökonomischen Kämpfe des Tages in das Bereich ihres Nachdenkens gezogen, so nimmt sie für die Theorie das Recht in Anspruch, von der Höhe der Erkenntnis herab dem irrenden und ringenden Volke die besten Wege zu weisen und auf die Gestaltung des politischen und sozialen Organismus einzuwirken.877 Und sie weiß diesen Anspruch dank ihrem Einfluß auf die Jugend, auf die Parteien und die Regierungen vielfach durchzusetzen. Nicht selten sehen wir Philosophen in die Handlung auf der politischen Bühne unmittelbar eingreifen. Sie sitzen im Rate der Könige, befreien Städte von ihren Tyrannen oder werden von befreiten Gemeinden berufen, um die Verfassung neu zu ordnen.

Auch Sparta hat sich dem Einfluß dieser geistigen Bewegung nicht entzogen. Die Darstellung des spartanischen Staatswesens von dem uns wohlbekannten Peripatetiker Dikäarch878 gewann in Sparta ein kanonisches Ansehen. Ein Gesetz verfügte, daß sie alljährlich am Amtshaus der Ephoren vor der Jugend des Landes öffentlich verlesen werde. Ein Gebrauch, der sehr lange in Übung geblieben sein soll.879 Ferner sehen wir gerade im Zeitalter der Reformkönige die Philosophie der Stoa in Sparta heimisch werden, die mit dem strengen altspartanischen Geist so viele Berührungspunkte hatte und deren Wirksamkeit Plutarch geradezu mit der des Tyrtäos vergleicht.880 Einer der ersten Schüler Zenos,881 Sphäros von Borysthenes, hat hier damals – auch unter der plutokratischen[369] Reaktion! – mit großem Erfolg als Lehrer gewirkt und z.B. den Nachfolger des Agis, König Kleomenes, in seiner Jugend mächtig beeinflußt. Eine Tatsache, aus der man mit Recht geschlossen hat, daß er schon unter König Agis ein Mann von Ansehen und Einfluß gewesen sein muß. Und seine Schriften, von denen solche über Lykurg und Sokrates, über das Königtum, über die Verfassung Spartas genannt werden, haben ohne Zweifel an der eben damals sich vollziehenden vollen Ausgestaltung des lykurgischen Staats- und Gesellschaftsideales den größten Anteil gehabt; wie denn überhaupt die Ausbildung dieses Ideales für sich allein schon ein sprechendes Zeugnis dafür ist, daß die Zeitphilosophie auf einen Teil der spartanischen Gesellschaft tief eingewirkt hat. Überaus bezeichnend ist endlich in diesem Zusammenhang der bedeutsame Umstand, daß unser Bericht den König Agis mit Genugtuung vor dem versammelten Volke auf die Männer aus der Fremde hinweisen läßt, die schon in früherer Zeit »ganz so wie Lykurg philosophiert« und deshalb in Sparta ehrenvolle Aufnahme gefunden hätten.882

Diese Berührung von Theorie und Leben zeigt sich nun aber besonders darin, daß das soziale Problem auch für die Philosophie eine ausschlaggebende Bedeutung gewonnen hatte. Hier sehen wir recht deutlich, wie mächtig das sittliche und materielle Elend und die soziale Zerklüftung der Zeit die Herzen erschüttert, welch eine Fülle von Geist und Phantasie sie gerade bei den besten Elementen auch der besitzenden Klasse zur Lösung dieser Widersprüche entfesselt hat. In dieser geistigen Bewegung reflektiert sich eine eminent gesteigerte Sensibilität der seelischen Empfindung in bezug auf die soziale Seite des Daseins. Die edelsten Geister der Nation sind erfüllt von dem Gedanken, daß an die sozialen Krankheitserscheinungen der Zeit die heilende Hand gelegt werden müsse, daß es sich hier darum handle, einen schweren Makel der Gesittung zu beseitigen. Und das Ergebnis dieser Reflexion ist eben »der Kampf gegen Armut und Reichtum«, die Aufstellung von Gesellschaftsidealen, deren ausgesprochen sozialistische Tendenz wir noch kennen lernen werden.883 Selbst ein relativ maßvoller Sozialpolitiker wie Aristoteles, der das Institut des Privateigentums als solches unangetastet ließ, kann sich eine Heilung von sozialen Krankheitszuständen, wie er sie eben an dem damaligen Sparta beklagt, nur vorstellen[370] auf dem Wege einer zwangsweisen Ausgleichung der Besitzverhältnisse durch die Staatsgewalt.884 Anderseits sorgte aber auch die Publizistik und der soziale Roman dafür, daß diese Ideen von einem neuen Reich der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens weit über die Hallen der Schulen hinausgetragen und der Fassungskraft weitester Kreise angepaßt wurden. Aus und neben dem wissenschaftlichen Sozialismus der führenden Geister entwickelt sich ein Sozialismus der Gebildeten. Und wenn auch die Gemeinde der Gläubigen hier wie dort eine beschränkte war, so ist sie doch bedeutungsvoll genug als ein Sympton dafür, daß die Zweifel an der Berechtigung des Bestehenden auch in die Vorstellungswelt wenigstens eines Teiles der besitzenden Klasse Eingang gefunden hatten.

Auch die Schlagwörter, die uns in den Reformbestrebungen des jungen Spartanerkönigs und seiner Freunde entgegentraten: Tugend, Freiheit, Gerechtigkeit, Natürlichkeit, lassen die Einwirkung des philosophischen Sozialismus auf die Zeitbildung deutlich erkennen. Sie entsprechen ganz und gar dem Geiste und der sozialen Ethik der Stoa, die wir ja auch in Sparta heimisch geworden sahen. Der Grundgedanke der Sozialreform des Agis, durch Herstellung gleicher Lebensbedingungen für alle und durch Einführung derselben gleichen und naturgemäßen Erziehung die Ungleichheit aus der Welt zu schaffen, ist offenbar durch die Philosophie des Naturzustandes eingegeben. Die Hoffnung, daß eine solche naturgemäße Erziehung alle Bürger künftig in dem naturgemäßen Zustand erhalten und die Gleichheit der Erziehung alle gleich und frei machen werde, fand ihre theoretische Rechtfertigung eben in der Lehre, daß die Ungleichheit weder in der Natur des Menschen, noch in den Notwendigkeiten der Gesellschaft begründet sei.

Es kennzeichnet die ganze Armseligkeit unserer Überlieferung, daß diese geistigen Zusammenhänge, die in der Kleomenesbiographie Plutarchs wenigstens angedeutet sind, in dem Bericht über Agis völlig unerwähnt bleiben. Es kommt über ihn und die spartanische Jugend wie eine plötzliche Erleuchtung.885 Und doch ist nicht zu bezweifeln, daß der[371] fürstliche Jüngling, der das lykurgische Staatsideal sich so völlig zu eigen machte, die stärksten Impulse eben durch jene geistige Bewegung erhalten hat. Hier war in gewissem Sinne erfüllt, was Plato ersehnt hatte: ein jugendlicher Fürst, unerschrocken und edel gesinnt, war bereit, die politische Macht in den Dienst der Idee zu stellen, dem Herrenrecht der Vernunft zum Siege zu verhelfen. In seiner Person vollzieht sich die Wendung des Sozialismus der Utopien und Staatsromane, der Philosophen und Literaten zum Sozialismus der Tat.

Nun war ja allerdings die Anlehnung an die Sozialphilosophie der Zeit ein Gebot staatsmännischer Klugheit. Sie gewann dem Reformwerk eine Fülle idealer Kräfte und entsprach zugleich den besten Überlieferungen Spartas und der traditionellen Sinnesart seiner Bevölkerung. Es konnte hier kein wirksameres Agitationsmittel, keine stärkere geistige und moralische Waffe gegen das Bestehende geben, als wenn man erklärte, daß die geplante Umgestaltung der Gesellschaft absolut keine Neuerung, sondern einzig und allein die Wiederherstellung des alten Rechtes und damit der alten Herrlichkeit von Volk und Staat bezwecke, daß es sich nicht um eine Revolution, sondern um eine Rückbildung der unnatürlichen und künstlichen Zustände der entarteten Gegenwart zur naturgemäßen und harmonischen Vergangenheit handle.886

Auch war die demonstrative Rückkehr zu »naturgemäßer« Einfachheit und Strenge des Lebens gewiß nicht bloß das Ergebnis einer sittlichen Wiedergeburt, eines plötzlichen Erwachens der »Tugend« (ἀρετή!), wie es die Begeisterung Phylarchs hinstellt. Ähnlich wie im Zeitalter Rousseaus hat bei dieser Opposition gegen die Lebensformen der herrschenden Gesellschaft, sei es bewußt oder unbewußt, das Bedürfnis mitgewirkt, eine wirksame Waffe zur Bekämpfung dieser Gesellschaft zu gewinnen. Der König im Mantel aus Grobzeug, im Kleide der reichtumsfeindlichen Philosophen war ja eine lebendige Anklage gegen die Aristokratie des Genusses!

Auch war Agis nicht bloß ein Priester der Idee. Bei aller Idealität sind doch auch in seiner Seele Antriebe wirksam gewesen, in denen ein persönliches Interesse zum Ausdruck kommt.887 Die Überlieferung selbst[372] hebt ja neben der »Philanthropie« als wesentlich mitentscheidendes Motiv seines Handelns die »Philotimie« hervor: das brennende Verlangen, etwas zu vollbringen, was groß und denkwürdig sei und seinem Namen Glanz und Unsterblichkeit verleihe. Die naive Unbefangenheit, mit welcher der Zeitgenosse Phylarch dieses Motiv als ein ganz selbstverständliches behandelt, würde für sich allein schon genügen, um hier einen echten Zug in dem Bilde des Königs zu erkennen. Der Gedanke an den Ruhm bei Mit- und Nachwelt ist eine der mächtigsten Triebkräfte im Leben des Griechentums.888 Und in einer Zeit gewaltig erregter Kräfte und Leidenschaften, wie es die Epoche des Hellenismus war, erscheint auch die Ruhmsucht zu wahrhaft dämonischer Leidenschaftlichkeit gesteigert. Die souveräne Gleichgültigkeit in der Wahl der Mittel, mit der hier das königliche Individuum auf den Trümmern von Staat und Gesellschaft die Herrlichkeit seines Ich etabliert, ist mit der herostratischen Tat im Tempel von Ephesos durchaus geistesverwandt. Neben dem Willen zur Macht ist dieser Durst nach Größe das kräftigste Agens in der cäsaristischen Strömung der Zeit, wie sie eben in dem hundertfachen Auftreten der Gewaltherrschaft zum Ausdruck kommt.

Nun ist ja bei Agis dieser Trieb vergeistigt und veredelt, aber bei dem heißen Ungestüm seines Wesens erhält dadurch doch seine Politik ein persönlicheres Gepräge, als es die Überlieferung Wort haben will. Sein Ehrgeiz, ein »wahrhaft großer König« zu werden, war nicht zu befriedigen ohne eine bedeutende Machtsteigerung der königlichen Gewalt, ohne den Umsturz der Verfassung, welche die Könige der Macht des oligarchischen Regierungskollegiums der Ephoren unterwarf und ihnen so innerhalb der Landesgrenzen überall die Hände band. Das Ephorat ging zwar aus Volkswahlen hervor, aber obgleich so auch arme Leute in das Kollegium kamen, blieb es doch immer von den plutokratischen Interessen beherrscht. Arme Ephoren erwiesen sich nur zu oft geradezu als käuflich. Eine Situation, die einen hochfliegenden Geist, wie Agis, mit Unmut und Erbitterung erfüllen mußte. Sagt doch schon hundert Jahre vor ihm Aristoteles von den spartanischen Königen, daß die übergroße Gewalt der Ephoren sie naturgemäß zu Demagogen mache!889 Kein Zweifel, daß an der Begeisterung des Agis für den lykurgischen[373] Staat der Umstand einen wesentlichen Anteil hatte, daß dieser Staat die oligarchische Lahmlegung des Königtums durch das Ephorat noch nicht kannte, eine Restaurationspolitik im Sinne des Lykurgideals also zugleich eine politische Wiedergeburt des Königtums verhieß.

Aber auch die sozialdemokratische Tendenz der monarchischen Reformpolitik entsprach recht eigentlich dem Machtinteresse des Königtums. Die Ohnmacht desselben war ja eben dadurch hervorgerufen, daß die Plutokratie sich der Staatsgewalt fast ausschließlich bemächtigt hatte. Die Herrschaft dieser Klasse über den Staat beruhte aber auf der sozialen Machtstellung, die sie dem Besitz verdankte. Diese politische Herrschaft des Kapitals konnte daher nicht gründlicher vernichtet werden, als dadurch, daß man dem Kapital seine Bedeutung für die Gesellschaft nahm und damit auch seine Bedeutung für den Staat zerstörte. War dies Ziel erreicht, war durch die radikale ökonomische Ausgleichung die gesellschaftliche Macht der herrschenden Klasse gebrochen, dann hatte auch die Abhängigkeit des Königtums von der Plutokratie ein Ende. Eben darum führte ja damals seit einer Reihe von Generationen die Tyrannis so oft einen förmlichen Vernichtungskrieg gegen die kapitalistische Bourgeoisie, weil die Fähigkeit, die der größere Besitz zur Leitung der öffentlichen Dinge gewährt, naturgemäß auch einen mächtigen Drang in sich enthält, sich wirklich an der Leitung derselben zu beteiligen, selbständig in die Entscheidung der öffentlichen Geschicke einzugreifen. In den Besitzenden bekämpfte die cäsaristische Politik der Zeit, die alles Recht und alle Gewalt in einer Hand vereinigen wollte, ihre gefährlichsten und unversöhnlichsten Gegner. Und so hat der bekannte Rat Perianders für Thrasybul, wie er sich in dem Abschlagen der hervorragenden Ähren ausspricht, in dieser Epoche eine tragische Bedeutung für die Besitzenden gewonnen.890

Schon um sich gleichmäßig über alle Schichten der Gesellschaft erheben zu können, mußte die Tyrannis dieselben möglichst nivellieren. Nivellierung ist aber eben nur in der Weise möglich, daß die Höherstehenden weiter herabgedrückt, als die Tieferen emporgehoben werden.891 Hier ist eine gewisse Analogie zwischen den Tendenzen der[374] sozialen Umsturzpolitik des spartanischen Königtums und denen der Tyrannis unverkennbar. Beiden ist jedenfalls ein Ziel gemeinsam: die monarchische Konzentrierung der politischen Gewalt unter Niederwerfung aller widerstrebenden Elemente. Eine Politik, die mit Notwendigkeit auch dieses alte Königtum auf die Bahnen der militärischen Diktatur führte. Kann man es den Gegnern des Agis so sehr verdenken, wenn sie die Verdächtigung gegen ihn schleuderten, er wolle das Gut der Reichen nur deshalb den Armen geben, um sich damit die Alleinherrschaft zu erkaufen?892 Und wird nicht auf diese Weise auch der Widerstand des anderen Königs sehr begreiflich? Das die monarchische Gewalt lähmende Doppelkönigtum war mit einer monarchischen Konzentrationspolitik unvereinbar. Der zweite König mußte in eine Schattenexistenz herabgedrückt werden, wenn wirklich ein einheitlicher persönlicher Wille Träger der höchsten Gewalt sein sollte.

Immerhin bleibt so viel bestehen: Wenn der König Agis auch nicht der »reine Tor« war, den die romantische Tendenzhistorie aus ihm gemacht hat, seine denkwürdige Erhebung gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung hatte doch noch ein ungleich höheres Ziel als die Befriedigung der Ruhmliebe und des königlichen Machtinteresses. So gewiß hier bewußte politische Berechnung mitgewirkt hat, daran ist doch kaum ein Zweifel möglich, daß der König persönlich ein inneres Verhältnis zu den in der Lykurglegende enthaltenen sozialphilosophischen Anschauungen gehabt hat. Wenn man erwägt, welchen bestrickenden Reiz diese Anschauungen auf die Zeitbildung geübt haben, wenn selbst ein nüchterner Verstandesmensch wie Polybios, ein sozialkonservativer Politiker von reinstem Wasser und entschiedener Gegner des spartanischen Reformkönigtums, so sehr im Banne des kurzen Sommernachtstraumes spartanischer Staatsromantik stand, daß er den lykurgischen Staat mit seiner Besitzesgleichheit und Lebensgemeinschaft wie eine göttliche Offenbarung preist,893 so darf man es der zeitgenössischen Überlieferung wohl glauben, daß dieses Evangelium sozialer und politischer Erneuerung an dem jugendlichen Feuergeist Agis einen überzeugten Apostel gefunden hat. Und insoferne ist es allerdings richtig, daß das sozialdemokratische Aktionsprogramm des Spartanerkönigs mit der Überlieferung wesentlich anders beurteilt werden muß, als die sozialen Umsturzbewegungen, deren Träger die Tyrannis war. Für den Tyrannen ist der Massensozialismus nichts weiter als Mittel und Werkzeug[375] für den persönlichen Machtzweck. Er handelt lediglich als Realpolitiker, für den es nur Erwägungen der konkreten Zweckmäßigkeit gibt. Agis dagegen steht in seinem Denken und Tun unter dem maßgebenden Einfluß allgemeiner abstrakter Prinzipien. Er unterlag dem, was man heutzutage eine Suggestion durch Bücher nennen würde. Und da die geistige Macht, die ihn beherrschte, sich ihre Welt zum guten Teil mit Fiktionen erbaute, so verfiel auch er den Gefahren einer einseitig konstruierenden Betrachtung und einer Überspannung der Imagination, die ihn die Schwierigkeiten des neuen Gesellschaftsbaues und die gewaltige Widerstandskraft des realen Lebens in verhängnisvoller Weise unterschätzen ließ. Der Glaube, daß es nur eines ehrlichen Entschlusses bedürfe, um den Staat mit einem Ruck aus einer auf Gewalt beruhenden Zwangsanstalt in einen sittlichen Organismus umzuwandeln, stempelt ihn recht eigentlich zum Doktrinär. Er ist der Romantiker auf dem Königsthron, der die Gesellschaft nach dem Muster eines ihm vor der Seele stehenden Idealbildes reformieren will und damit das herstellen zu können glaubt, was man im Sinne der »sozialen Statik« Comtes als das »Gleichgewicht in einer vollkommenen Gesellschaft« bezeichnen könnte. Ein Idealismus, der sich in jugendlichem Ungestüm mit völlig unzureichenden Mitteln an eine ungeheure organisatorische Aufgabe wagte und daher an den harten Schranken der Wirklichkeit notwendig scheitern mußte. Grote charakterisiert den König gewiß nicht unzutreffend, wenn er von dem Phantasiegebilde spricht, mit welchem der »Unheil stiftende Oneiros« die Einbildung des patriotischen Agis täuscht, ihm die verräterische Botschaft zuflüsternd, daß die Götter ihm bei einem ähnlichen Versuch (wie dem des Lykurg) Erfolg versprochen haben, und der ihn so zu der unglücklichen revolutionären Laufbahn verführt, die ihn in den Kerker und an das Seil des Henkers brachte.894

Anderseits liegt nun aber in dieser Ideologie ein tief berechtigter Kern. Wir haben hier – auch wieder im Gegensatz zur Tyrannis – einen Fürsten vor uns, der nicht nur über die Interessengegensätze der Gesellschaft erhaben war, sondern auch sein persönliches Machtinteresse in den Dienst der Idee des Staates stellte und daraus die sittliche Berechtigung schöpfte, die mit dem Staatswohl unvereinbar gewordene Rechtsordnung zu beseitigen.

[376] Denn daß diese Rechtsordnung fallen mußte, wenn Staat und Gesellschaft aus schwerer Zerrüttung sich erheben sollten, darüber konnte kein Zweifel sein. Das hatte ja schon – wie wir sahen – fast ein Jahrhundert früher ein Aristoteles ausdrücklich anerkannt. Wenn die Kraft und Blüte des Staates abhängt von dem Maße des materiellen und sittlichen Wohles, welches für die große Mehrheit seiner Bürger erreichbar ist, so war eine Verfassungsform, welche die für das Wohl der Gesamtheit bestimmte Gewalt einer Minderheit auslieferte und dieselbe in den Stand setzte, jede Emporentwicklung der verarmten und gedrückten Mehrheit unmöglich zu machen, mit dem Staatsinteresse auf die Dauer unvereinbar geworden. Wer wäre aber berufener gewesen, sich zum Träger der unvermeidlichen Umbildung des Bestehenden zu machen, als das Königtum?895

Da die niedere Klasse weder in der Gesellschaft noch im Staat ein Organ für die Verbesserung ihrer Lage besaß, – denn auch die Volksversammlung war durch die herrschenden plutokratischen Gewalten zur Ohnmacht verurteilt, – so lag es in der Natur der Sache, daß sich alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft von Staat und Volk demjenigen politischen Machtfaktor zuwendeten, der wenigstens ideell die Fähigkeit hatte, sich zu einem solchen Organ der allgemeinen Volkswohlfahrt zu machen, den staatlichen Willen neben dem gesellschaftlichen zur Geltung zu bringen. Wie hätte vollends eine so weitgehende Sozialisierung der Gesellschaft, wie sie der Staatstheorie dieser Zeit vorschwebte, auf anderem Wege erreicht werden können als durch das soziale Königtum? Das Königtum in der Hand eines von wahrhaft staatlicher Gesinnung erfüllten Monarchen war das einzige neutrale Element im Klassenkampf. Über den gesellschaftlichen Interessen stehend, war es allein dazu berufen, die einer Klasse untertan gewordene politische Gewalt wieder der Allgemeinheit dienstbar zu machen, sich im Namen der Volkswohlfahrt an die Spitze einer großen Reformbewegung zu stellen. Daß König Agis den hohen sittlichen Mut besaß, für die Realisierung der Staatsidee gegenüber der herrschenden Gesellschaftsklasse Krone und Leben einzusetzen, ist für ihn ein unvergänglicher Ruhmestitel, der seiner Persönlichkeit unter den Herrschern des Zeitalters in der Tat eine ganz einzigartige Bedeutung verleiht.

[377] Wenn übrigens diese Idee des sozialen Königtums zu einem Konflikt mit dem bestehenden Verfassungsrecht führte, so entsprach auch das durchaus dem Geist der sozialen Philosophie, in der es seine theoretische Rechtfertigung fand. Für diese Theorie kam ja alles darauf an, in welchem Sinne regiert wurde. Für sie hat den idealen Rechtstitel zur Herrschaft eben derjenige, der das Talent und die Gesinnung des echten Staatsmannes hat und daher auch fähig und gewillt ist, die Gewalt dem gemeinen Besten dienstbar zu machen. Die Frage nach dem verfassungsmäßigen Ursprung und Charakter seiner Stellung kommt gegenüber diesem Interesse der salus publica nicht mehr in Betracht. Zum Tyrannen wird der Herrscher nicht mehr dann, wenn er seine Macht auf dem Wege der Gewalt begründet hat, wie es die traditionelle Ansicht wollte, sondern nur dann, wenn er einen selbstsüchtigen und gemeinschädlichen Gebrauch von ihr macht. Wirkt er wahrhaft sozial, dann ist auch der »Tyrann« im herkömmlichen demokratischen Sinn des Wortes ein »wahrer« König.896

Es leuchtet ein, daß dieser Bedeutungswechsel des Begriffes Tyrann, wie er sich gerade in sozialreformerischen Kreisen vollzogen hatte, einer monarchischen Reformpolitik großen Stiles in hohem Grade förderlich war.

Was nun den äußeren Verlauf der Bewegung betrifft, so gelang es den Reformfreunden bei den nächsten Wahlen in das Ephoratskollegium Anhänger ihrer Sache zu bringen, unter denen besonders Lysander genannt wird, ein Nachkomme des Überwinders Athens und einer der angesehensten Männer des damaligen Sparta. Dieser legte dann im Einverständnis mit dem König dem Rate der Alten eine »Rhetra« vor, welche die sofortige und denkbar radikalste Verwirklichung des gesamten Reformwerkes ins Auge faßte. Alle Schulden sollten für getilgt erklärt, der gesamte Grund und Boden des Landes expropriiert und neu verteilt werden. Das Gebiet des alten Bürgerlandes897 zwischen Pellene und Taygetos einerseits und Kap Malea und Sellasia anderseits sollte in 4500 gleiche Lose für die Spartiaten, das Untertanengebiet in 15000 Lose für waffenfähige Periöken zerlegt werden,898 während gleichzeitig – um die Bürgerschaft[378] ergiebig vermehren zu können – eine entsprechende Anzahl von auserlesenen Periöken und Fremden das Bürgerrecht erhalten sollte. Endlich sollte die Bürgerschaft in alter Weise genossenschaftlich organisiert d.h. für den gemeinsamen Dienst und das gemeinsame Leben in sogenannte Phiditien gegliedert werden.

Was vorauszusehen war, geschah. In dem hohen Rate, in welchem gerade die Besitzesinteressen eine starke Vertretung besaßen, erhob sich gegen diese ökonomische Nivellierung der Gesellschaft eine heftige Opposition. Die Plutokratie weigerte sich entschieden, ihr eigenes Todesurteil zu unterschreiben. So wandte sich der Ephor an die allgemeine Bürgerversammlung, um durch die Mobilisierung der Masse einen Druck auf die widerstrebende Gerusie auszuüben. Hier war es, wo der jugendliche König vor allem Volk den feierlichen Verzicht auf Hab und Gut aussprach und die Menge zujubelnder Begeisterung mitfortriß. Eine unzweideutige Äußerung des Volkswillens zugunsten der Reform, die ihre Wirkung auf die zaghafteren Elemente der Opposition nicht verfehlte. Bei der entscheidenden Abstimmung in der Gerusie vermochten die Anhänger des Bestehenden – wenn man der Überlieferung glauben darf – nur noch eine Mehrheit von einer Stimme aufzubringen.

Da auch die Könige im Rate saßen, so konnte bei diesem Stimmenverhältnis Agis von der Wiederaufnahme der Verhandlung ein günstiger Ergebnis erhoffen, wenn es gelang, den reformfeindlichen König Leonidas und mit ihm die Mehrheit unschädlich zu machen. Auch das nahm Lysander auf sich. Er setzte gegen Leonidas den heiligen Apparat in Bewegung, den das Herkommen den Ephoren gegen widerspenstige Könige zur Verfügung stellte,899 forderte ihn vor das Ephoratsgericht und veranlaßte zugleich des Königs Schwiegersohn Kleombrotos, die Krone für sich in Anspruch zu nehmen. Da nun Leonidas in den Tempel der Athene Chalkioikos flüchtete und sich weigerte, vor Gericht zu erscheinen, so wurde er des Thrones für verlustig erklärt und Kleombrotos als König proklamiert.

Nun aber zeigte es sich, wie festgewurzelt die alte Gesellschaft war. Die Amtsfrist der regierenden Ephoren lief nämlich eben jetzt ab und es kam zu Neuwahlen, die entschieden zugunsten der Plutokratie ausfielen.[379] Auch ging diese jetzt sofort ihrerseits zum Angriff über. Leonidas konnte sein Asyl verlassen und hatte die Genugtuung, Lysander und einen anderen Führer der Reformpartei, Mandrokleidas, in Anklagezustand versetzt zu sehen. Sie wurden vor das Ephorengericht geladen, weil ihr Antrag auf Schuldenkassierung und Güterteilung gesetzwidrig gewesen sei.900

So spitzte sich der Konflikt zu einer Kraftprobe zwischen dem Ephorat und dem Reformkönigtum zu, für das es jetzt keine andere Rettung mehr gab als den Appell an die Gewalt. Gestützt auf eine Auslegung der Verfassung, welche den Ephoren jede selbständige Befugnis gegen die nunmehr vereinigte Monarchie absprach, gingen die Könige offen gegen die feindliche Behörde vor. Sie erschienen mit ihren Anhängern auf der Agora, zwangen die Ephoren, ihre Amtsstühle zu verlassen, und ernannten andere an ihrer Stelle, darunter Agesilaos. Gleichzeitig wurden die Anhänger der Reformpartei – viele junge Leute, wie der Bericht sagt – bewaffnet und durch Öffnung der (Schuld–?) Gefängnisse verstärkt. Die eingeschüchterten Gegner wagten keinen Widerstand, und Leonidas ging sogar außer Landes, – wie es heißt, durch Agis selbst gegen Bedrohung seines Lebens geschützt und unter sicherem Geleit nach Tegea gebracht.

Die weitere Folge des Staatsstreiches war die, daß, wie wir annehmen müssen, die Rhetra des Königs Agis in Gerusie und Volksversammlung zur Annahme gelangte, und alsbald wurde auch der erste und einfachere Teil des Reformwerkes zur Ausführung gebracht. Die Gläubiger mußten alle Schuldurkunden ausliefern, die dann auf dem Markt zusammengehäuft und verbrannt wurden. »Die Reichen und die Wucherer« – fügt der Bericht hinzu – »gingen betrübt von dannen. Agesilaos aber spottete ihrer und meinte, er habe nie ein schöneres Feuer gesehen.« So blieb denn noch die Landaufteilung. Und die Könige zögerten nicht, auch hier mit der gleichen Entschiedenheit vorzugehen, als sich ihnen plötzlich völlig unerwartete Schwierigkeiten in den Weg stellten.

Jetzt, wo es galt, die Grundlagen des ganzen Wirtschaftslebens neu zu gestalten, und die Zahl derer, die Opfer zu bringen hatten, eine immer größere wurde, zeigte es sich, daß die Partei der Reform keineswegs[380] bloß aus ehrlichen Schwärmern bestand, die bereit waren, im Geiste brüderlicher »Gemeinsamkeit« allem Sonderstreben zu entsagen, daß es vielmehr, wie immer bei solchen Gelegenheiten, auch falsche Freunde der Bewegung gab, die – den Raub und den Verrat im Herzen – nur soweit mitgingen, als es ihr Vorteil gebot, aber stets bereit waren, sich auf die Seite zu schlagen, wenn es nichts mehr zu gewinnen, sondern nur noch zu verlieren gab. Das egoistische Selbstinteresse, das hinter der zur Schau getragenen sozialen Gesinnung sich barg, begann jetzt seine Minierarbeit, um die Bewegung in die Richtung zu lenken, die diesem Interesse entsprach.

Es ist bezeichnend für die Unzulänglichkeit unserer Überlieferung, daß sie als Träger dieser für den Verlauf so mancher sozialen Kämpfe typischen Erscheinung nur eine einzelne Persönlichkeit nennt, Agesilaos, den sie als den bösen Geist des damaligen Sparta schildert. Er, der eine Mann, soll schuld daran sein, daß das schöne Werk, das angeblich sonst nirgends mehr einem Widerstand begegnete und aufs glücklichste vonstatten ging, schmählich vereitelt wurde.901 Er besaß – so heißt es – großen Grundbesitz, war aber tiefverschuldet und hatte daher an der Reform insoweit ein persönliches Interesse, als er sich von ihr die Befreiung von seiner Schuldenlast versprach, während er nicht im entferntesten daran dachte, nun seinerseits sein Grundeigentum preiszugeben. So habe er die Führer der Reform zu bestimmen gewußt, daß sie zunächst nur den Schuldenerlaß realisierten, weil die gleichzeitige Vornahme der Landaufteilung zu gefährlich sei und die Grundbesitzer sich eher in die letztere fügen würden, wenn man sie vorher durch den Schuldenerlaß gewonnen hätte. Wie dann aber die Masse unmittelbar darauf die Bodenteilung forderte und die Könige bereit waren, dem Drängen nachzugeben, habe er immer neue Ausflüchte und Hindernisse ersonnen, um die Sache hinauszuzögern, bis König Agis und die zum größten Teil aus armen jungen Leuten und Anhängern der Reform bestehende wehrfähige Mannschaft infolge der allgemeinen politischen Lage902 genötigt wurden, ins Feld zu ziehen und so vorläufig unschädlich gemacht waren. Darauf habe er die Autorität, die er eben damals als Ephor besaß, immer ungescheuter zur Befriedigung seiner Habgier[381] ausgebeutet, habe mehr und mehr ein tyrannisches Gebaren herausgekehrt und sich dadurch so allgemeinen Haß zugezogen, daß er sich nur noch mit einem Gefolge von Bewaffneten öffentlich zeigte. Auch die Rückkehr des Agis habe daran nichts zu ändern vermocht. Dieser mußte es mitansehen, daß der Ephor eine geflissentliche Mißachtung des Königtums zur Schau trug und die Sache der Reform zuletzt so unheilbar kompromittierte, daß die in ihren Hoffnungen betrogene Masse sogar mit den plutokratischen Gegnern gemeinsame Sache machte und der von letzteren aus dem Exil herbeigerufene König Leonidas nicht nur ungehindert nach Sparta zurückkehren, sondern auch unter Zustimmung des »Volkes« den königlichen Thron wieder einnehmen konnte!

An diesem Bericht ist jedenfalls so viel geschichtlich, daß die Sache der Reform durch ihre eigenen Anhänger kompromittiert wurde. Wie weit aber die Verantwortlichkeit dafür einzelne bestimmte Persönlichkeiten trifft, inwieweit insbesondere die Motive und die Handlungen des Agesilaos richtig gezeichnet sind, das entzieht sich unserer Beurteilung, da der Bericht, so wie er vorliegt, an Rätseln und Widersprüchen reicher ist als an wirklichen Aufschlüssen.903

Was soll man z.B. zu der dem Agesilaos zugeschriebenen Behauptung sagen, man könne durch den Schuldenerlaß die Grundbesitzer so sehr mit der Bodenreform aussöhnen, daß sie sich ohne Murren in die Einziehung ihres Grundbesitzes fügen würden! Eine Argumentation, die verständlich wäre, wenn es sich um ein überschuldetes Kleinbauerntum gehandelt hätte, das bei einer neuen Bodenteilung seine Lage nicht wesentlich verschlechtern, wohl aber durch den Schuldenerlaß verbessern konnte. Wie paßt aber diese Begründung auf die hundert Latifundienbesitzer, in deren Händen ja nach demselben Bericht das gesamte Bodeneigentum konzentriert gewesen sein soll? Hier liegt ein so flagranter Widerspruch der Erzählung mit ihren eigenen geschichtlichen[382] Prämissen vor, daß man unmöglich annehmen kann, Agesilaos habe gegenüber König Agis und Lysander in dieser Weise argumentiert. Wie konnte ferner der eine Mann, zumal nach der grundsätzlichen Unterordnung des Ephorats unter das Königtum, der Reform ernstliche Schwierigkeiten bereiten, wenn wirklich, wie der Bericht behauptet, jeder Widerspruch gegen sie verstummt war?

Ebenso unverständlich bleibt es, wie der Ephor seine Tyrannenrolle spielen konnte gegenüber einem König, der an der Spitze eines Heeres zurückkam, das nach demselben Bericht zum größten Teil aus begeisterten Anhängern seiner Ideen bestand und von einer »wunderbaren Hingebung« für ihn erfüllt war. Und wie konnte endlich durch das Verhalten eines einzelnen der allgemeine Stimmungswechsel herbeigeführt werden, der für diese Masse zugleich den Verzicht auf alle ihre Hoffnungen enthielt?

Auf diese Fragen und Bedenken hat die Überlieferung keine Antwort. Und so müssen wir uns mit der bereits angedeuteten Wahrscheinlichkeit begnügen, daß Interessenkonflikte und infolge davon Mißtrauen und Haß in den eigenen Reihen die Partei der Reform zersetzten und schwächten und eine Enttäuschung und Verbitterung hervorriefen, welche die Gegner mit Erfolg für sich auszunützen verstanden. Allem Anscheine nach hat es auch auf seiten des Agis an der nötigen Entschlossenheit gefehlt, die widerstrebenden Elemente mit der rücksichtslosen Gewaltsamkeit niederzuschlagen, ohne die nun einmal, so wie die Dinge lagen, eine Katastrophe nicht mehr abzuwenden war.

Was die entscheidende Krisis selbst betrifft, so scheint das erste Opfer derselben Agesilaos gewesen zu sein. Nur der Beliebtheit seines Sohnes Hippomedon soll er es zu verdanken gehabt haben, daß man sein Leben schonte und ihn ins Exil gehen ließ. Das gleiche Schicksal ereilte den König Kleombrotos, der sich in den Poseidontempel auf Tänaron flüchtete. Nur mit Mühe entging er dem Grimm des Königs Leonidas, der mit einer Schar Bewaffneter zum Tempel kam, um an dem Eidam für seine Entthronung Rache zu nehmen. Wenn die romantische und rührende Erzählung Phylarchs einen geschichtlichen Kern hat, so war die Rettung des flüchtigen Königs allein das Werk seiner Gattin Chilonis, der edlen Tochter des Leonidas, die, wie früher zum Vater, so jetzt in gleicher Treue zum Gatten hielt und durch ihr Flehen den Vater und seine Freunde bestimmt haben soll, daß sie auch den Kleombrotos unversehrt ins Exil entließen. Da sich inzwischen auch Agis, an[383] seiner Sache verzweifelnd, in den Schutz eines Tempels904 geflüchtet hatte und seine Anhängerschaft offenbar völlig desorganisiert war, so stand der siegreichen Reaktion nichts mehr im Wege, was sie an der Vollendung ihres Werkes hätte hindern können.

Das noch von Reformfreunden besetzte Ephorat wurde ohne weiteres in ihrem Sinne umgestaltet. Man setzte einfach die bisherigen Ephoren ab und ernannte andere an ihre Stelle, die bereit waren, die Hand zur Vernichtung des Agis zu bieten. Mit ihrer Hilfe gelang es bald darauf, den König, der sich nicht vorsichtig genug innerhalb der Grenzen des Tempelasyles hielt, zu verhaften und in den Kerker zu werfen. Hier wurde er in einem tumultuarischen Gerichtsverfahren, währenddessen König Leonidas die Umgebung des Gefängnisses mit seinen Soldtruppen besetzt hielt, von den Ephoren und einigen hinzugezogenen Ratsherren zum Tode verurteilt und sofort dem Stricke des Henkers überliefert. Selbst die Frauen des Königshauses wurden nicht verschont. Auf ihre Bitte ins Gefängnis eingelassen, wurden auch Mutter und Großmutter des Königs verhaftet und durch den Strang hingerichtet! Der Sieg der Plutokratie war ein vollständiger, ohne daß, wie es scheint, irgendeine ernsthafte Gegenwehr versucht wurde.

Überaus bezeichnend für den Geist der plutokratischen Reaktion ist die Tatsache, daß König Leonidas Agiadis, die junge und schöne Witwe des unglücklichen Agis, um ihre Reichtümer für seine Familie zu gewinnen, mit ihrem Kinde gewaltsam aus ihrem Hause wegführen ließ und sie nötigte, eine neue Ehe mit seinem noch kaum dem Knabenalter entwachsenen Sohn Kleomenes einzugehen!

Wieweit im übrigen die plutokratische Schilderung der siegreichen Reaktion den Tatsachen entspricht, wieweit sie Schablone und Mache ist, das läßt sich bei dem Fehlen jedes Parallelberichtes nicht mehr erkennen. Der König, der jetzt allein die Monarchie vertrat, verfolgte nach dieser Schilderung in bezug auf die von der Revolution bekämpften Tendenzen eine Politik des unbedingten Gehenlassens.905 Wenn man nur ihn selbst in seinem Wohlleben nicht störte, dann mochten auch die anderen unbekümmert um die Wohlfahrt des Ganzen in Müßiggang und Schwelgerei verkommen und jeder einzelne in schrankenloser Habgier für sich zusammenraffen, soviel er immer konnte!906 Dagegen sei es geradezu gefährlich gewesen, von der alten Zucht und der Gemeinschaft[384] der Übungen und Männermahle, von der Gleichheit der Bürger auch nur zu reden.

Daß nach der Niederwerfung der sozialen Revolution Genußsucht und Bereicherungssucht in verstärktem Maße hervortrat, hat ja allerdings die psychologische Wahrscheinlichkeit für sich. Solange die Parole der Gleichheit und der Moral der Entbehrung und Selbstentäußerung an der Tagesordnung war, hatte ja die plutokratische Gesellschaft nicht mehr zu einem ruhigen Genuß ihres Reichtums kommen können. Jetzt, wo der Tugendstaat der Gleichheit gründlich Schiffbruch gelitten hatte, war es ein naturgemäßer Rückschlag, daß man sich beeilte, das Versäumte nachzuholen, um so mehr, als der Luxus, den man um sich verbreitete, recht augenfällig die Macht des Besitzes dokumentierte und der Gleichheitsidee der Revolution Hohn sprach.

Beseitigt war damit freilich diese Idee nicht. Sie lebte in zahlreichen Gemütern fort, und nicht einmal von seinem eigenen Hause vermochte sie König Leonidas ferne zu halten. Unter seinen Augen erwuchs der Held, der entschlossen war, Sparta auf demselben Wege groß zu machen, den König Agis vergebens beschritten hatte.

Verschiedene Antriebe wirkten zusammen, den jugendlichen Thronfolger Kleomenes ins demokratische Lager zu treiben: die Zeitphilosophie der Stoa, die eben damals in Sparta an Sphäros einen gerade bei der Jugend überaus beliebten und wirksamen Vertreter besaß, die Einwirkungen der edlen Fürstin, welche die Erinnerungen an den gemordeten ersten Gatten in der Seele des jugendlichen Gemahls geflissentlich nährte, und – nicht am wenigsten – der eigene hochfliegende Sinn, der die Kraft in sich fühlte, das ganze Staats- und Gesellschaftsgebäude aus den Fugen zu heben und auf neuen Grundlagen wieder aufzubauen.

Und dabei war dieser fürstliche Sozialrevolutionär, der im Jahre 235 nach dem Tode des Leonidas den Spartiatenthron bestieg, für die Oligarchie ungleich gefährlicher als König Agis. Infolge der Verödung des Proklidenhauses alleiniger König, war er von vorneherein der Notwendigkeit überhoben, mit der Rivalität eines gegnerischen Monarchen rechnen zu müssen. Anderseits bot seine Persönlichkeit, die kühle Besonnenheit und nüchterne Selbstbeherrschung, mit der er die Ausführung seiner Pläne bis zum geeigneten Zeitpunkt zu vertagen wußte, eine ganz andere Bürgschaft des Erfolges als die stürmische Leidenschaftlichkeit eines Agis.

[385] Kleomenes sah zu scharf, um die Rolle des sozialistischen Propheten zu spielen, der für den Sieg einer Politik der Armen und Enterbten nur des guten Willens dieser Masse zu bedürfen glaubt. Für ihn war die Erfahrung nicht vergebens, daß die Interessen der kommunistischen Stürmer nur zu leicht auseinandergingen und daß ihre Scharen nur zu leicht vor dem Ziele sich auflösten, wenn es galt, einer ernsten Gefahr ins Auge zu sehen. Er sah, daß er für die Verwirklichung seiner Pläne eine einheitlichere, geschlossenere Macht hinter sich haben müsse, als diese atomistische Masse, der schon die mannigfache Abhängigkeit von den Besitzenden das einheitliche Handeln erschwerte, und in der jeder von dem anderen fürchten mußte, daß er sich schleunigst seitwärts schlagen würde, sei es, weil er etwas für sich erhaschte oder auch nur, weil er sich nicht für die anderen opfern wollte. Eine Macht, welche von derartigen zersetzenden Tendenzen frei war, konnte aber nur eine militärische sein, ein kriegerischer Verband, in dem die Disziplin und Kameradschaft jeden einzelnen zum Organ eines einheitlichen Gesamtwillens machte, in dem es für den einzelnen keine andere Autorität und keine andere Hoffnung gab, als den Feldherrn.

So war sein nächstes Ziel die Schaffung einer Söldnerarmee, wie sie sich ja in diesem Zeitalter der militärischen Tyrannis so oft als Werkzeug des sozialen Umsturzes bewährt hatte. Und die Zeitverhältnisse kamen ihm in diesem Bestreben mächtig zu Hilfe. Sie führten eben damals zu langwierigen Kämpfen mit den im achäischen Bund vereinigten Staaten des Peloponnes, welche Sparta nur durch die Aufstellung eines starken Söldnerheeres zu bestehen vermochte. Dieses aus heimatlosen Fremden, wie aus heimischen Proletariern bestehende Heer wußte er in der Gemeinschaft eines langen Kriegslebens und durch eine Reihe kriegerischer Erfolge so enge an seine Person zu ketten, daß er es im Jahre 227 wagen zu dürfen glaubte, das große Unternehmen ins Werk zu setzen.

Das Heer stand damals in Arkadien, das bürgerliche Aufgebot sowohl wie die Soldtruppen; und der König leitete die Operationen so, daß es zu einer Trennung der beiden Korps kam. Dann zog er plötzlich mit den Söldnern in der Richtung auf Sparta ab, während die Bürgerwehr ruhig im Felde stehen blieb. Unterwegs entdeckte er den zuverlässigsten seiner Leute sein Vorhaben. Die Ephoren sollten noch am Abend beim Mahle überrascht und unschädlich gemacht werden.

In der Nähe der Stadt angelangt, sandte er einen gewissen Eurykleidas[386] voraus, der unter dem Vorwand einer Botschaft vom Heere sofort die Ephoren in ihrem Amtshause aufsuchen sollte, wo sie um diese Stunde sämtlich zum Syssition vereinigt waren. Andere Vertraute des Königs mit einer kleinen Truppenabteilung folgten ihm auf dem Fuße nach, und während er noch mit den Ephoren sprach, drangen sie mit gezückten Schwertern in den Saal, stürzten sich auf die Ephoren und machten sie nieder. Nur einem, der verwundet liegen geblieben war, gelang es, sich in das anstoßende Heiligtum des Phobos zu retten. Man schenkte ihm später das Leben. Nur die wenigen, die den Ephoren zu Hilfe eilten, teilten deren Schicksal. Sonst wurde kein Blut vergossen. Wer sich ruhig verhielt, blieb verschont; und wer die Stadt verlassen wollte, wurde nicht gehindert.

Tags darauf wurde dann von Kleomenes das Werk staatlicher und sozialer Neugestaltung sofort in Angriff genommen. Zuerst wurde über achtzig Bürger – offenbar die Hauptstützen der Plutokratie die Acht ausgesprochen. Sie mußten ins Exil gehen, während ihr Hab und Gut dem Staat verfiel. Dann wurden die Amtsstühle der Ephoren bis auf einen entfernt, den von nun an der König einnahm: d.h. die Fülle der im Ephorat vereinigten Gewalt sollte fortan mit dem Königtum verbunden sein. Ein Schritt, der den vollständigen Bruch mit dem bestehenden Verfassungsrecht bedeutete und dem König eine Machtstellung vindizierte, die man nicht ganz mit Unrecht als eine tyrannische bezeichnet hat.907 Denn wenn sich auch Kleomenes später, um das Anstößige der Alleinherrschaft zu mildern, und der »lykurgischen« Tradition zuliebe in seinem Bruder Eukleidas nominell einen Mitregenten bestellte, so war er doch tatsächlich der Monarch, der mit souveräner Machtvollkommenheit über die Geschicke des Staates entschied.

Es wäre von hohem Interesse, wenn wir den authentischen Wortlaut der Rede besäßen, in welcher Kleomenes seinen Staatsstreich vor dem Volke rechtfertigte und das Programm der sozialen und politischen Wiedergeburt entwickelte. Immerhin ist die Rede, die ihm Plutarch in den Mund legt und die natürlich im wesentlichen das Werk Phylarchs ist, von einer gewissen Bedeutung, da sie die Stimmung der sozialrevolutionär gesinnten Zeitgenossen des Kleomenes vortrefflich[387] wiedergibt und daher gewiß manches enthält, was mit den Erklärungen des Königs selbst dem Sinne nach übereinstimmt.

Der Redner beginnt mit einer Anklage gegen das Ephorat, das den Untergang der lykurgischen Institutionen verschuldet und alle die bis in den Tod verfolgt habe, welche die Wiederherstellung dieser »schönsten und göttlichsten« Ordnung herbeisehnten. Dann rechtfertigt er die Anwendung von Gewalt. Es sei unmöglich gewesen, die schweren sozialen Krankheitserscheinungen, die sich in Sparta eingenistet, Genußsucht und Luxus, das Schulden- und Zinsenelend und die noch älteren Übel der Gesellschaft, den Gegensatz von Armut und Reichtum, ohne Blutvergießen zu heilen. Selbst einem Lykurg sei dies nicht gelungen! Zum Schlusse endlich proklamiert er die in Aussicht genommenen Radikalmittel: Neuaufteilung des ganzen Grundes und Bodens, Erlaß aller Schulden, Aufnahme auserlesener nichtbürgerlicher Elemente in die Vollbürgerschaft zur Verstärkung der Wehrkraft.

Und dem Worte folgt die Tat. Nach dem Vorbild des Agis stellte der König als der erste sein Besitztum dem Staate zur Verfügung. Ihm folgten Verwandte und Freunde und zuletzt alle übrigen Bürger, so daß die Neuverteilung des Grundbesitzes sofort in Angriff genommen werden konnte. Jeder Bürger erhielt ein Landlos zugewiesen, auch die, welche verbannt worden waren. Sie sollten zurückkehren dürfen, sobald die neuen Verhältnisse sich gefestigt haben würden. Ferner wurde die wehrhafte Bürgerschaft durch die Aufnahme geeigneter Periöken, die natürlich auch an der Landzuweisung beteiligt wurden, auf die Stärke von 4000 Köpfen gebracht und als Lebensprinzip des neuen in sich völlig homogenen Bürgertums die Gemeinschaftsidee der altspartanischen Verfassung mit ihrer gemeinsamen Erziehung, ihren gemeinsamen Übungen und Männerwahlen aufgestellt, bei deren Durchführung der König an dem schon genannten Stoiker Sphäros einen wertvollen Helfer fand.908

Mit emphatischen Worten preist sein Geschichtschreiber des bewunderten Königs Tat. Er vergleicht die bisherige Staats- und Gesellschaftsordnung Spartas mit einem verstimmten Saitenspiel. Jetzt sei die Harmonie wiederhergestellt gewesen durch die Rückkehr zu »jener weisen dorischen Satzung und Lebensordnung Lykurgs«.

[388] Uns wird das Urteil nicht so leicht! Denn wir wissen nicht, unter welchen Reibungswiderständen und Schwierigkeiten sich das verwickelte Werk sozialer Neugestaltung im einzelnen vollzog.909 Wir wissen nicht, wie der Grundgedanke der Revolution, die Abschaffung der Klassenunterschiede, in der Entwicklung der nächsten Jahre die Probe bestand. Gönnte doch nicht einmal Kleomenes selbst dem neuen System der Gleichheit und Brüderlichkeit die Zeit, sich ungestört einzuleben! Für ihn war die soziale Reform nicht das letzte und höchste Ziel. Vor seinem Geiste stand noch ein anderes: die Erhebung des spartanischen Staates zu alter Macht und Größe! Als sozialer Revolutionär gedachte er die Waffe zu schmieden für die Verwirklichung der Pläne des Staatsmannes und Heerführers; und so wurde der Bestand seiner Schöpfung abhängig von den Wechselfällen in der Politik und auf dem Schlachtfeld. Eine Unsicherheit, welche von vorneherein der Konsolidierung der neuen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung hindernd im Wege stand.

Allerdings hatte das Reformwerk die militärischen und moralischen Kräfte des Staates bedeutend gesteigert; und die Erfolge, welche Kleomenes im Kampfe mit der achäischen Eidgenossenschaft errang, schienen zu den größten Hoffnungen zu berechtigen. Aber auf die Dauer erwiesen sich die gerade durch sein Reformwerk entfesselten Mächte des Widerstandes doch stärker, als all sein Geist und Wagemut und alles »lykurgische« Wesen.

Unsere dürftige Überlieferung läßt kaum mehr recht ahnen, welch eine Gärung der Sturz der Plutokratie durch das alte Heraklidenkönigtum im ganzen Peloponnes hervorrief.910 Überall regten sich die Massen, hörte man die Schlagwörter der sozialen Revolution: Schuldenentlastung und Bodenaufteilung. Wohin den königlichen Sozialrevolutionär sein Siegeszug führte, da schlugen ihm die Herzen der Armen und Gedrückten entgegen, für die es eine ausgemachte Sache war, daß das Werk der sozialen Befreiung nicht am Eurotas halt machen könne.911 Aber so sehr diese volkstümlichen Sympathien der Großmachtspolitik des Königs förderlich schienen, er wurde durch sie sehr bald in einen Widerspruch verwickelt, der auf seine ganze Lage doch auch wieder lähmend zurückwirkte.

[389] Sollte, konnte er diese Erwartungen wirklich erfüllen und die Rolle des sozialen Erlösers für die ganze Halbinsel übernehmen? Schon der bloße Versuch würde eine Verwirrung und Zerrüttung aller Verhältnisse herbeigeführt haben, die sein eigentliches Ziel, die politische Einigung des Peloponnes, in unabsehbare Ferne gerückt hätte. So waren Enttäuschungen unvermeidlich; und wenn ihm z.B. eine so wichtige Stadt wie Argos wieder verloren ging, so wird dies ausdrücklich darauf zurückgeführt, daß er der dortigen Bevölkerung den Schuldenerlaß, den sie von ihm erhofft hatte, nicht gewährte.912

Auf der anderen Seite aber genügte die bloße Furcht vor einer sozialen Umwälzung, um den größten Teil der besitzenden Klassen zum unversöhnlichen Gegner des »Tyrannen« zu machen. Ein Antagonismus, der so stark war, daß diese Republikaner selbst davor nicht zurückschraken, sich dem Königtum in die Arme zu werfen und die königlich makedonischen Truppen ins Land zu rufen. Noch klingt die Erregung dieser Tage in den Worten nach, die der durchaus antikapitalistisch gesinnte Geschichtschreiber des Kleomenes dem leitenden Staatsmann des achäischen Bundes, Arat, widmet: »Ein Greuel war ihm das Schwarzbrot und der Mantel aus Grobzeug und noch mehr die Vernichtung des Reichtums und die Aufrichtung der Armut; – in seinen Augen das schwerste Verbrechen, das Kleomenes begehen konnte –;913 und so unterwarf er sich mit ganz Achaia der Krone und dem Purpur und makedonischen Satrapenbefehlen.«

Dieser Koalition war Kleomenes nicht gewachsen. Und es ist eine eigentümliche Selbstironie, wenn der Berichterstatter, der die antikapitalistische Politik des Königs mit enthusiastischen Worten feiert, angesichts der weit überlegenen materiellen Hilfsmittel der verbündeten Gegner wehmütige Reflexionen anstellt über die Macht, welche dem Gelde als dem »nervus rerum« im allgemeinen und im Kriege insbesondere innewohnt!914 In einer Zeit, in der der Krieg durch die Entwicklung des Söldnertums eine kapitalistische Großunternehmung geworden war, war es in der Tat geradezu verhängnisvoll, daß es dem Spartiatenkönig mit äußerster Mühe kaum gelang, die Mittel für die Löhnung seiner Söldner aufzubringen. Wird doch sogar die vorschnelle Annahme der Schlacht bei Sellasia (222), die mit der völligen Niederlage des Kleomenes und der Vernichtung seiner Armee endete, von[390] Phylarch auf den Geldmangel zurückgeführt, der es ihm nicht gestattet habe, die Entscheidung mit den Waffen länger hinauszuzögern!915 Der Mann, der gegen den Kapitalismus den Vernichtungskrieg geführt, geht unter als ein Opfer des Kapitalmangels!

Die furchtbare Katastrophe zwang Kleomenes, sein Land und damit das ganze Werk seines Lebens preiszugeben. Während er auf Nimmerwiederkehr außer Landes ging, verfügte der Makedonerkönig Antigonos die Wiederherstellung des »früheren Rechtszustandes und der früheren Verfassung«,916 womit offenbar nicht bloß die Wiedereinführung der früheren politischen Institutionen, sondern auch die möglichste Wiederherstellung der wirtschaftlichen Rechtsordnung, die Restitution der von Kleomenes Verbannten oder Depossedierten gemeint ist. Eine Aufgabe, welche wesentlich erleichtert wurde durch die Lücken, welche die verlustreichen Kriege in die Reihen der von ihm mit einem Landlos Ausgestatteten gerissen hatte. Jedenfalls hatte die wiederauflebende Oligarchie allen Grund, König Antigonos als »Wohltäter, Retter und Befreier« zu feiern.917

Eine wirkliche Beruhigung der Gemüter konnte freilich durch diese einseitige Restaurationspolitik nicht erreicht werden. Das Land befand sich seitdem in einem Zustand fortwährender Gärung, und der durch den Klassenkampf entfesselte Geist blutiger Gewaltsamkeit forderte immer wieder von neuem seine Opfer. In den Kämpfen, die um den erledigten Königsthron entbrannten, sehen wir sehr bald wieder das Banner der sozialen Revolution aufgepflanzt. Schon aus dem Jahre 219/18 wird der Staatsstreichsversuch eines Thronprätendenten, namens Chilon, gemeldet, der die Masse dadurch zu gewinnen suchte, daß er »denselben Weg beschritt wie Kleomenes und ihr die Aussicht auf Landlose und Bodenverteilung eröffnete«.918 Ein Versuch, der zwar mißlang, aber schon im Jahre 206 von einem anderen Prätendenten, namens Nabis, und zwar diesmal mit Erfolg, wiederholt wurde.919

Die soziale Umwälzung, welche dieser furchtbare Wüterich über das unglückliche Land heraufbeschwor, gehört zu den greuelvollsten, welche[391] die Geschichte der griechischen Tyrannis kennt. Was durch Besitz und Ansehen über die Masse hinausragte, wurde ermordet oder verjagt, die Heiligtümer wurden geplündert, Häuser und Äcker, Frauen und Kinder der Gemordeten unter das heimische Proletariat, unter Heloten, die er zur Freiheit aufgerufen, und unter das Gesindel verteilt, aus dem sich seine Söldnerscharen zusammensetzten.920 Vorgänge, die sich bald darauf in dem von Nabis eingenommenen Argos wiederholten, wo er die besitzende Klasse aller ihrer beweglichen Habe systematisch beraubte und von dem zur Volksversammlung berufenen Pöbel Vernichtung aller Schulden und Neuaufteilung des Grund und Bodens beschließen ließ.921

Von irgendeiner höheren sozialen oder politischen Idee ist hier nirgends mehr die Rede. Die »Ausgleichung des Besitzes und der Ehre«, wie Nabis in der ihm bei Livius in den Mund gelegten Rede sein Werk bezeichnet,922 bezweckte weiter nichts als die Befriedigung der verbrecherischen Gelüste des Tyrannen und seines Anhanges. Es ist die reine Farce und frecher Hohn, wenn auch er sich als »Nachahmer Lykurgs« aufspielt.923

Eine Dauer konnte natürlich dieser »Staat von Sklaven und armen Teufeln, von Lumpen und Galgenvögeln« noch weniger haben als der Sozialstaat des Kleomenes. Schon im Jahre 192 ist er von Philopömen, dem »Letzten der Hellenen«, in Stücke geschlagen worden, ohne daß dies freilich dem zerrütteten Lande den ersehnten Frieden gebracht hätte. Denn sehr bald nach dem Untergang des Nabis sehen wir einen gewissen Chairon ganz in dessen Fußstapfen wandeln. Er konfisziert Grundeigentum und verteilt es mit souveränem Belieben an den Pöbel; und unsere Tradition enthält dunkle Andeutungen von Umsturzplänen, die »kein Mensch sonst gewagt hätte«, die also noch weiter gegangen zu sein scheinen als das, was bisher in dieser Hinsicht vorgekommen war. Pläne, die dann aber infolge des Eingreifens der Achäer unausgeführt blieben.924


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 347-392.
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