Vierter Abschnitt
Der Widerspruch zwischen der sozialen und der politischen Entwicklung im freien Volksstaat

[213] Die zunehmende Differenzierung der kapitalistischen Gesellschaft der hellenischen Industrie- und Handelsstaaten steht in einem eigentümlichen Kontrast zu den Prinzipien, auf denen sich in den politisch fortgeschrittensten dieser Gemeinwesen, vor allem in Athen, das Staats- und Rechtsleben aufbaute. Während die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf eine Verschärfung des Gegensatzes von arm und reich, auf die Zunahme der Ungleichheit und Unfreiheit hindrängte, ist die politische Entwicklung beherrscht von den Ideen der Freiheit und Gleichheit. Und diese Ideen waren hier noch weit radikaler verwirklicht als in[213] irgendeinem demokratischen Gemeinwesen der Neuzeit. Selbst das »freie« Amerika hat sich bisher noch nicht zu der Höhe der Demokratisierung erhoben, wie sie Athen schon im 5. Jahrhundert erreicht hatte.

Damit tut sich ein tiefer, klaffender Widerspruch vor uns auf, wie er bis dahin in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt ward.

Man vergegenwärtige sich nur, wie hochgespannt das Ideal war, in dessen Verwirklichung die Demokratie ihren höchsten Ruhmestitel sah! Voran steht in dem Programm, in welchem die Prinzipien der Demokratie ihre glänzendste Formulierung gefunden haben – in der perikleischen Leichenrede bei Thukydides312 –, die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, welche jedes Vorrecht ausschließt, alle Berechtigung zum Ausfluß eines freien Willensaktes macht.313 Und diese Gleichheit des Rechtes schließt sofort ein Zweites in sich: das Ideal der gleichen sozialen Gelegenheit; d.h. jeder Kraft, jedem Talent ist der Wettbewerb unter den gleichen Bedingungen freigegeben. Keinem legt in den Augen der Bürger seine soziale Position, und sei sie noch so niedrig, ein Hindernis in den Weg.314 Daher ist hier auch Armut für niemand eine Schande. Weit eher erscheint es schimpflich, sich nicht aus der Armut herauszuarbeiten.315 Wird doch durch das Gleichheitsprinzip zugleich das verwirklicht, was die Grundlage aller höheren sozialen und geistigen Kultur ist, die individuelle Freiheit, die volle Selbstbestimmung jedes einzelnen! Sie ist im Volksstaat das höchste Gut.316 Denn je größer der Spielraum ist, dessen sich der einzelne für seine freie Betätigung erfreut, um so günstiger liegen die Bedingungen für die volle Entwicklung seiner Persönlichkeit. Und was in dieser Hinsicht das Freiheits- und Gleichheitsprinzip zu leisten vermag, das beweist nach unserer Rede der Erfolg, mit dem der freie Athener wirtschaftliche und politische Tätigkeit verbinde, das Verständnis, welches hier auch der Handwerker, Bauer und Arbeiter den öffentlichen Angelegenheiten entgegenbringe,317 überhaupt die glückliche harmonische[214] Bildung, durch die sich hier auch der Durchschnittsbürger den mannigfaltigsten Anforderungen des Lebens gewachsen zeige.318

Wenn man dies glänzende Gemälde der freien staatsbürgerlichen Gesellschaft und ihre Errungenschaften mit den Erscheinungen vergleicht, die uns im Schoße derselben Gesellschaft auf wirtschaftlichem Gebiete entgegengetreten sind, so erkennt man sofort, daß wir hier eben eine Idealschilderung vor uns haben, hinter der die Wirklichkeit zum Teil recht weit zurückblieb.

Wir sehen dies schon an dem Begriff der »Freiheit«, deren sich die Demokratie rühmte. Freiheit ist Selbstbestimmung. Wo wäre aber diese Selbstbestimmung dem Bürger allein schon durch die Beseitigung der rechtlich-politischen Unfreiheit und Ungleichheit zuteil geworden? Sie setzt nicht nur ein Negatives: Befreiung von hemmenden Fesseln voraus, sondern vor allem ein Positives, nämlich die materiellen und geistigen Güter, welche den rechtlich Freien und Gleichen auch zu einer gesellschaftlich freien Persönlichkeit, die formale Freiheit erst zu einer wirklichen machen. Die vollkommene Selbstbestimmung und damit die volle Entfaltung der Persönlichkeit ist wesentlich bedingt durch ein ökonomisches Moment, durch den Besitz. Je größer das Maß des Besitzes, um so größer319 das Maß der Entwicklung, welches für den einzelnen erreichbar ist. Aber nicht bloß die ebenmäßige Entfaltung des Menschen im Bürger, sondern auch die des Menschen als Bürgers ist in hohem Grade von diesem wirtschaftlichen Moment abhängig. Und sie war es in dem hellenischen Volksstaat um so mehr, je größere Anforderungen hier die Betätigung von Bürgerrecht und Bürgerpflicht an den einzelnen stellte. Im vollen Sinne Bürger dieses Staates sein hieß das Leben dieses Staates mitleben, d.h. persönlich an Beratung, Rechtsprechung, Verwaltung und Regierung teilnehmen; eine Teilnahme, die nur da völlig ungehemmt sein konnte, wo eben ein gewisses Maß von Wohlstand die nötige »Muße« gewährte. Was bedeutete gegenüber dieser sozialen Notwendigkeit das Prinzip der abstrakten Freiheit und Gleichheit?

Wenn aber der Besitz es war, der die freie Entfaltung des Menschen und Bürgers wesentlich mitbedingte, dann bedeutete Mangel an Besitz nicht bloß Ausschließung von materiellen Gütern, sondern von der Grundbedingung höchster persönlicher Entwicklung und voller bürgerlicher Freiheit. Wer nichts hatte als seine Arbeitskraft und dieselbe[215] in den Dienst anderer stellen mußte, um leben zu können, der blieb bei aller rechtlichen Freiheit tatsächlich immer unfrei. Die Besitzlosigkeit allein schon schuf soziale Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen verfassungsmäßig gleichberechtigten Staatsbürgern, welche die Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit auf dem Boden der Gesellschaft unmöglich machen, da diese Abhängigkeitsverhältnisse zum guten Teil in der Natur der Dinge und der Ungleichheit der Menschen selbst begründet sind.

Der Gegensatz zwischen dem politischen Freiheits- und Gleichheitsprinzip und der sozialökonomischen Lage der unteren Schichten des Demos wird uns in seiner ganzen Schärfe verständlich, wenn wir uns die Konsequenzen vergegenwärtigen, welche das Dienst- und Lohnverhältnis überhaupt und ganz besonders in einer auf der Sklavenwirtschaft aufgebauten Gesellschaftsordnung notwendig nach sich ziehen mußte.

Setzt nicht das Lohnverhältnis an und für sich schon den Besitzlosen der Gefahr aus, auf die volle Anerkennung seiner menschlichen Persönlichkeit, auf jene höheren sozialen Rechte und Ansprüche verzichten zu müssen, wie sie eben das Freiheits- und Gleichheitsprinzip der Demokratie enthielt? Man hat mit Recht bemerkt, daß, soweit die Arbeiter vereinzelt auftreten, nicht durch ihre Organisation die Arbeitsbedingungen zu ihren Gunsten beeinflussen können – und wie schwierig war dies unter den geschilderten Verhältnissen! – der Arbeitskäufer es ist, der das Maß der Kultur bestimmt, an dem der Arbeiter Anteil hat.320 Da Nutzung der Arbeitskraft zugleich Nutzung des Menschen selbst ist, so räumt ja der Arbeiter durch den Verkauf seiner Arbeitskraft321 einem andern zugleich die Herrschaft über seine Person ein: demselben, dem er politisch als »Freier« und »Gleicher« gegenübersteht! Seine Lebensführung wird in körperlicher, moralischer, geistiger und damit auch sozialer Hinsicht abhängig vom Arbeitgeber. Und dieser letztere, von dessen privatwirtschaftlichem Standpunkt aus322 die Entlohnung des[216] Arbeiters nur ein Teil der Produktionskosten und daher die Arbeit selbst nicht ein mitwirkender Faktor der Produktion, sondern ein bloßes Produktionsmittel ist, das wie jedes andere sachliche Produktionsmittel nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten gewertet, erworben und wieder abgestoßen wird, – er ist ohnehin oft wenig geneigt, der Persönlichkeit des Trägers der Arbeitskraft die Rücksicht angedeihen zu lassen, welche das höhere soziale und allgemein menschliche Interesse fordert. Hat doch selbst das Christentum diese Konsequenz des Lohnverhältnisses nicht zu beseitigen und nicht zu verhindern vermocht, daß der Arbeiter für die vulgäre Unternehmerlogik häufig nur als bloßes Werkzeug der Produktion in Betracht kommt, nicht als der freie und gleiche Kontrahent, der wie jedes andere Mitglied der Gesellschaft als Selbstzweck anzuerkennen ist.

Wenn schon bei ausschließlich freier Arbeit eine solche soziale Erniedrigung des Arbeitenden möglich ist, so kann dieselbe – bei aller politischen Freiheit – einer Wirtschaftsordnung nicht fremd gewesen sein, in der die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung der einfachsten Menschenrechte entbehrte. Wie war eine menschlich befriedigende Gestaltung des Arbeitsverhältnisses in größerem Umfang da zu erwarten, wo die besitzende Klasse die Mehrheit der Arbeitenden von Rechts wegen und in voller Übereinstimmung mit der öffentlichen Moral als bloßes Arbeitsinstrument, als »Sache« behandeln konnte?

In den Augen von Arbeitgebern, die gleichzeitig oder abwechselnd mit Freien auch Sklaven beschäftigten, mußte unwillkürlich der Unterschied zwischen beiden bis zu einem gewissen Grade zurücktreten, zumal in einem gewerblichen Betrieb im Ergasterion,323 dessen Epistates (d.h. Betriebsleiter) oft genug ein Sklave oder Freigelassener war. War ja doch die Lage des Arbeiters, während er im Lohn arbeitete, in bezug auf das Verhältnis zu der Tätigkeit, an der er teilnahm, eine der Lage des unfreien Arbeiters ganz analoge! Seine Arbeit wurde ebenso wie die des Sklaven von dem Arbeitsherrn oder dessen Beauftragten geleitet, die Art und Richtung seiner Arbeit genau ebenso geregelt wie beim Sklaven. Und oft genug hatte er kaum mehr Aussicht als dieser, sich dereinst selbst als Teil der leitenden und herrschenden Menschenkraft fühlen zu dürfen. Wie ferner der Sklave nicht mehr erhielt als das zur Fristung[217] des Lebens Notwendige, und der ganze Überschuß seiner Arbeit dem Herrn zufiel, so erhielt auch der freie Arbeiter in seinem Lohn häufig nicht mehr als das Existenzminimum.

In Wirklichkeit war also die Sachlage keineswegs so, wie sie der Dichter schildert, daß nämlich von den Freien jeder nur einem diene: dem Gesetz; der Sklave aber zweien: dem Gesetz und dem Herrn.324 In Wirklichkeit konnte sich auch gegenüber dem Freien, den die Arbeit zur Lohnarbeit zwang, der Unternehmer als Herr fühlen, dem jener naturgemäß bis zu einem gewissen Grade ebenso zu gehorchen hatte wie der Unfreie. Und wie konnte es da ausbleiben, daß auf seiten des Brotherrn gelegentlich die Neigung hervortrat, auch in der Behandlung des Arbeiters den Unterschied zu vergessen?325

Für den Besitzlosen war es aber um so schwieriger, sich diesen Konsequenzen des Arbeitsverhältnisses zu entziehen, als ja das Maß der Herrschaft des Arbeitgebers über seine Person bei all der Freiheit, die er in der Demokratie genoß, nicht von seinem eigenen Willen, sondern von dem Zwang der wirtschaftlichen Lage abhing. Das Dichterwort: »Diene als freier Mann, so wirst du kein Unfreier sein«,326 hatte für ihn doch nur eine sehr beschränkte Geltung. Bestimmend für seine Entschlüsse und seine ganze Lage waren vielmehr die Worte der »Frau Armut« in der aristophanischen Komödie:


»An der Seite ich sitze dem Arbeitsmann, ihn als Herrin treibe zur Arbeit,

Daß in Mangel und Armut müh'n er sich muß, zu beschaffen, wovon sich erhalten.«327


Die Armut raubt ihm den Schlaf. Wenn er nicht hungern will, heißt es: »Auf an die Arbeit.«328 Oder wie Rodbertus sich ausdrückt: »Der Arbeitsvertrag mit dem Lohnherrn, der bei freier Arbeit an die Stelle der Anordnung des Sklavenbesitzers tritt, ist nur formell, nicht materiell frei, weil der Hunger fast völlig die Peitsche ersetzt.«329 Und wenn es nun nicht ausbleiben konnte, daß der Besitzlose unter diesem Zwang[218] – um des Brotes willen – sich oft genug Arbeitsbedingungen fügen mußte, welche in wirtschaftlicher Hinsicht kaum viel günstiger waren als die von Sklaven, wenn es, um mit Menander zu reden, oft besser war, Sklave eines guten Herrn zu sein, als in elender Freiheit zu leben,330 wie hätte da die soziale Wertung des freien Arbeiters eine wesentlich höhere sein können als die des unfreien?

Man sieht, es sind durchaus realistische Erwägungen und positive soziale Tatsachen, auf welche sich die bekannte Ansicht des Aristoteles stützen kann, daß auch das freie Arbeitsverhältnis in gewissem Sinne etwas vom Sklavenverhältnis an sich habe.331 Ja, es läßt sich sogar verstehen, wie er dazu kommen konnte, die Herrschaft des Herrn über den Sklaven (die ἀρχὴ δεσποτική) und die des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer als gleichartig zu behandeln und den Hauptunterschied nur darin zu sehen, daß der unfreie Arbeiter einem bestimmten Herrn dient, der freie jedem beliebigen!332 Diese aristotelische Anschauung ist nur der – allerdings schroffe und übertreibende, aber in gewissem Sinne nicht unzutreffende – Ausdruck der Tatsache, daß der besitzlose Arbeiter und Lohnhandwerker bei aller rechtlichen Freiheit tatsächlich unfrei ist. Sie kennzeichnet scharf die wirkliche materielle Unfreiheit des Besitzlosen gegenüber dem Arbeitsherrn, der über sein und seiner Familie tägliches Brot gebietet. Wie oft mag der kleine Mann selbst die Wahrheit des aristotelischen Wortes an sich empfunden haben, daß, was sich nicht selbst zu genügen vermag, unfrei ist.333 Daß übrigens[219] Aristoteles damit nur einer weitverbreiteten Anschauungsweise Ausdruck verlieh, zeigt die Definition des Begriffes »Lohnarbeiter«, die uns in einem antiken Wörterbuch erhalten ist. »Es sind Freie, die aus Armut um Geld sich zu sklavischen Diensten verstehen.«334 Daher hat sich auch ein Mann, dessen politischer und sozialer Standpunkt von dem des Aristoteles grundverschieden war, der Demokrat Demosthenes, in ganz ähnlichem Sinne dahin geäußert, daß gar viele niedrige Geschäfte, die eigentlich Sklaven zukommen, auch den Freien durch die Armut aufgedrungen werden, um dessentwillen man sie billigerweise bemitleiden sollte!335

Ebenso ist es ein Symptom der durch die Sklavenwirtschaft allerdings verstärkten, aber der einseitig kapitalistischen Auffassung überhaupt entsprechenden Herabdrückung des Arbeiters zum Produktionswerkzeug, daß auch für die rechtliche Auffassung des Lohnverhältnisses der freie Arbeiter unter einem Gesichtspunkt erschien, der ihn in gewisser Hinsicht ebenfalls auf eine Stufe mit dem Sklaven stellte. Das griechische Recht behandelte den Lohnarbeiter in derselben Weise als Arbeitsware wie die Menschenware, den Sklaven, indem es den Arbeitsvertrag unter den Begriff der Miete subsumierte. Man »mietete« einen Tagelöhner, Arbeiter, Diener usw. genau so, wie man ein Pferd, einen Esel, einen Sklaven mietete.336

Es folgt nun aber aus der Natur des Abhängigkeitsverhältnisses, in welchem sich die bloße Arbeitskraft gegenüber dem Besitz befindet, noch ein weiteres. Dasselbe führt nämlich dazu, daß nun in den Augen der Besitzenden die Handarbeit überhaupt als eine Beschäftigung der Abhängigen, die handarbeitende Klasse als eine abhängige und untergeordnete erscheint: damals genau so wie – heute, nur daß allerdings diese in der entwickelten Kultur bei den höheren Klassen allezeit hervortretende Mißachtung der Handarbeit damals noch verschärft wurde[220] infolge der massenhaften Ausübung dieser Arbeit durch rechtlose Menschen. Die Empfindung für das, was Standesehre ist, das Gefühl, sich selbst in seiner Arbeit geehrt zu wissen, das erhebende Bewußtsein, einen sozialen Beruf auf das beste zu erfüllen, konnte da, wo der freie Arbeitsmann auf seinem Wege so oft den Sklaven neben sich fand, nicht nur in dem Lohnarbeiter, sondern auch in dem kleinen Handwerker schwerlich recht aufkommen, mochte immerhin ein Kleon im Schurzfell selbst die Rednerbühne besteigen. Zudem mußte sich ja ein großer Teil des Handwerkerstandes selbst sagen, daß auch ihm, wenn nicht die Abhängigkeit von einem einzelnen Arbeitsherrn, so doch die Abhängigkeit vom Broterwerb die volle politische und geistige Betätigung verwehrte,337 daß also für ihn das Prinzip der Freiheit und Gleichheit gleichfalls eine empfindliche Einschränkung erlitt.

All das muß man sich vergegenwärtigen, um das illusorische Moment in der Anschauungsweise zu erkennen, welche die oben charakterisierte Lobrede auf die Demokratie zum Ausdruck bringt. Und die von einer sozialen Betrachtung der Dinge ausgehende Staatstheorie hat denn auch nicht verfehlt, diese Illusionen eines einseitigen politischen Doktrinarismus gründlich zu zerstören. Der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen dem politischen Freiheits- und Gleichheitsprinzip einerseits und der im sozialen Organismus herrschenden Unfreiheit und Ungleichheit anderseits hätte gar nicht klarer und schärfer dargelegt werden können, als es von Aristoteles in der Politik geschehen ist. – Wenn im Staate möglichste Gleichheit und Brüderlichkeit bestehen soll – sagt Aristoteles – so ist da, wo starke Gegensätze von arm und reich sich finden, die Verwirklichung dieser Prinzipien unmöglich. Denn die Besitzlosigkeit nötigt die Armen zu demütiger Unterwürfigkeit.338 Die Abhängigkeit von den Reichen bringt sie in eine Lage, in der sie sich von den letzteren beherrschen lassen müssen, wie die Sklaven von ihren Herren, zumal viele Reiche eben nur so zu herrschen gewohnt sind, wie Herren über Sklaven.339 Es entsteht so im Staat ein anderer Staat (wir würden sagen eine »Gesellschaft«) »nicht von freien Männern, sondern[221] von Herren und Knechten, von denen diese mit Mißgunst zu jenen empor- und jene mit Verachtung auf diese herabsehen«,340 ein Zustand, der von Gleichheit und Brüderlichkeit weit entfernt ist!341 – Und Aristoteles zieht auch sofort die Konsequenz dieses Widerspruches. Er meint: Wer nicht über ein gewisses Maß von Besitz verfügt, vermöge dessen er sich wirklich frei und als Gleicher unter Gleichen fühlen kann, wer insbesondere einem wirtschaftlichen Dienst- und Abhängigkeitsverhältnis sich unterwerfen muß,342 der ist nicht befähigt zur Ausübung der Pflichten und Rechte, welche der hellenische Staat seinen Vollbürgern übertrug. Denn wie kann man »einmal Herr und dann wieder Diener« sein?343

Was hatte der doktrinäre Liberalismus der politischen Demokratie gegen diese Logik vorzubringen? Er mochte dem Besitzlosen noch so eindringlich die Lehre predigen, daß Arbeit und Armut keine Schande sei; die demokratische Gesetzgebung mochte den kleinen Mann direkt durch Strafandrohungen gegen die Verächtlichmachung seiner Berufsarbeit schützen; wie konnte sie gegen die Macht brutaler ökonomischer Tatsachen aufkommen? Was hatte die von ihr proklamierte Ehre der Arbeit zu bedeuten, wenn die Vorkämpfer des demokratischen Prinzipes selbst den Armen, der niedrige Arbeit tun mußte, als des Mitleides wert beklagten?344

In der Agora mochte sich der Besitzlose an den Schlagwörtern der Freiheit und Gleichheit berauschen, mit denen die Demagogen auf der Pnyx um sich warfen, – auf der Bühne, die das Leben bedeutete, klang es ihm ganz anders in die Ohren! Hier konnte er in immer neuen Wendungen von dem hören, was ihm selbst im Kampf und in der Not des Lebens tausendfach zum Bewußtsein kam: von den Fesseln und Banden, mit welchen die gesellschaftliche Unfreiheit und die Naturtatsache der Ungleichheit des Menschenwesens seinen Freiheitsstolz und sein trotziges Gleichheitsgefühl niederhielt, von der Mißachtung seiner Armut und Niedrigkeit: »Wir leben nicht, wie wir wollen, sondern wie wir können.«345 – »Das Geld ist Blut und Seele den Sterblichen.[222] Wer das nicht hat, der wandelt unter Lebenden wie ein Toter.«346 – »Auch der Sklave wird geehrt, wenn er zu Reichtum gelangt, der Freie, der arm ist, gilt nichts.«347 – »Arm sein heißt mißachtet und ehrlos sein.«348 – Und der Arme selbst hat nur zu oft das Gefühl, daß »alles auf ihn herabsieht«.349 – »Viele zwingt die Armut – wider die Natur – sich mit Dingen abzugeben, die ihrer unwürdig sind.«350 Und was dergleichen Klagen mehr sind.

Die tatsächliche materielle Unfreiheit der Besitzlosen, die Tatsache, daß das Bewußtsein, Bürger eines »freien« Gemeinwesens zu sein, für den Menschen nicht ausreicht, daß der Mensch auch zu leben haben muß, sie kann kaum schärfer zum Ausdruck gebracht werden.

»Aber« – sagte die Doktrin zu dem Armen – »unser freies Gemeinwesen gibt dir ja freie Bahn, dich emporzuarbeiten. Es ist eine Schande, wenn du es nicht tust.« Denn dem Trägen hilft Gott nicht.351 Ein seltsamer Optimismus in einer Gesellschaft, in welcher der Arbeiter meist eben nur ein Werkzeug für den Besitzenden war, um selbst auf der Leiter des Reichtums rascher emporzuklimmen, während der Besitzlose oft mit einem Lohn abgefunden ward, bei dem die Möglichkeit, durch Tüchtigkeit und Fleiß vorwärtszukommen, entweder ganz ausgeschlossen oder eine äußerst beschränkte war! Als ob es überhaupt bei der grausamen Kargheit der Natur jemals eine Gesellschaft geben könnte, in der die Golddecke, an der alle zerren, nicht zu knapp wäre! Wie oft mochte[223] an dieser Naturtatsache und an der Übermacht der geschichtlich gegebenen Besitzverhältnisse über die besitzlose Arbeit, des großen Kapitals über das kleine alle Arbeitsenergie des wirtschaftlich Schwachen, all sein Sehnen nach Freiheit und Selbstbestimmung zuschanden werden! Wie viele mögen es an sich empfunden und erlebt haben, daß nicht das Gesetz, welches sie sich selbst gegeben, sondern jene anderen mächtigeren Gesetze, welche die Größe und Verteilung des Arbeitsertrages bestimmten, über die Freiheit und Selbständigkeit des Bürgers entschieden. Hier traf ja recht eigentlich das zu, was Roscher einmal von diesem Widerspruch in der Demokratie gesagt hat, daß »alle Gleichheit vor dem Gesetz, alle aktive Beteiligung am Staat für die Masse papierne, ja aufreizende Phrase ist, wenn der Arbeitslohn nicht hoch steht«.352

In der Tat nur zu treffend hätten die von der Wucht wirtschaftlicher Machtverhältnisse und unabänderlicher Naturtatsachen niedergehaltenen Schwachen der Gesellschaft jener optimistischen Aufforderung zum frischen, fröhlichen Wettbewerb die Worte der Dichter und Weisen des Volkes entgegenhalten können: »Wie kann man über den Kamm der Wogen hinwegschreiten? Unsere Armut flieht der Segen.«353 – »Die Armut ist unser größter Widersacher.«354 – »Den Geringen pflegen die Götter auch nur Geringes zu geben.«355 »Das Lebensschifflein des Armen hält sich bescheiden die Küste entlang; das Leben der Reichen dagegen gleicht der Fahrt über die hohe See. Ihnen ist es leicht, Taue auszuwerfen, zu landen und ihr Schiff auf den bergenden Strand zu bringen, – nicht so dem Armen!«356

Zudem, war es wirklich die intellektuelle und moralische Tüchtigkeit, der im freien wirtschaftlichen Ringen die höchsten Erfolge winkten? Erwiesen sich nicht oft genug diejenigen als die stärksten, welche in der Verfolgung ihrer Ziele am skrupellosesten verfuhren, dem Geiste der Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit tatsächlich am meisten Hohn sprachen? Und war es nicht nur zu oft das Los der Schwachen, von[224] diesen Starken unterdrückt und ausgebeutet zu werden?357 Ist doch das böse, maßlos übertreibende Wort von der »Million, die man nicht erwirbt, ohne mit dem Ärmel das Zuchthaus zu streifen«, dem Sinne nach schon damals ausgesprochen worden! »Gerade die größten Schurken« – heißt es bei Euripides – »führt der Reichtum in die ersten Reihen.«358 Und bei Menander: »Kein braver Mann ist je schnell reich geworden!«359 – »Ich,« – klagt der arme Bauer bei Aristophanes – »ein gottesfürchtiger und gerechter Mann, war arm und lebte kümmerlich! Reich sah ich andere: Tempelräuber, Rednervolk, Betrüger, Sykophanten, Schurken.«360 Es drängt sich ihm durchaus nicht die perikleische Erwägung auf, daß es schimpflich sei, sich nicht aus der Armut herauszuarbeiten. Der Gedanke hätte ihm wie Hohn geklungen. Er legt sich vielmehr die Frage vor, ob nicht der Arme besser täte, zu »ändern seine Art« und


»ein Schuft zu werden, gottlos, heillos ganz und gar,

wie jetzt in der Welt sich fortzubringen nötig scheint«.361


Man denke sich in die von Plato geschilderte Lage eines armen Handwerkers hinein, der nicht imstande war, das für seinen Betrieb nötige Kapital aufzutreiben, und der so bei aller Geschicklichkeit nicht vorwärtskommen konnte!362 Was hatte der Mann von der Freiheit und Gleichheit? Sie konnte ihm wohl gelegentlich die Genugtuung verschaffen, einen reichen Mann mit »'nem Bienenstock Goldes«363 im Gericht zu seinen Füßen zittern zu sehen oder in der Agora den reichen Leuten den Herrn zu zeigen, vor dem sie sich ducken und den sie mit öffentlichen Spenden bei guter Laune erhalten müssen.364 Aber diese »ganze Herrlichkeit und die schöne Gelegenheit, des Reichtums zu höhnen«,365 verkehrte sich für ihn draußen in ihr Gegenteil, da sie weder die Folgen seiner Besitzlosigkeit, noch die Höhe des Zinsfußes beseitigen konnte. Wie oft mochte dieser wirtschaftliche Druck dem kreditbedürftigen kleinen[225] Mann draußen im Leben dieselbe traurige Rolle des demütigen Bittstellers aufdrängen,366 zu der sich der Reiche vor ihm im Dikasterion herbeiließ!

Wo gab es überhaupt ein Lebensgebiet, auf dem dieser Widerspruch zwischen der politischen und wirtschaftlichen Gesellschaft nicht klar zutage getreten wäre? Eine Gesellschaft, in der sich neben Besitzern glänzender Herrenhöfe und vieler Morgen Landes in dürftigen Hütten arme Tagelöhner und Zwerggütler fanden, große Handelsherrn neben ärmlichen Krämern, Fabrikanten und Unternehmer, denen die Arbeitskraft von Hunderten zu Gebote stand, neben hartarbeitenden Kleinmeistern und Lohnarbeitern, – eine solche Gesellschaft konnte sich unmöglich eine demokratische nennen; wie denn überhaupt auf der Höhe der Kultur die Gesellschaft niemals im wirtschaftlichen Sinn eine demokratische sein kann.

Zwar standen alle diese Elemente auf einem für alle gleichen Rechtsboden:367 der kleine Landwirt und Handwerker genoß dasselbe Maß von Freiheit in der Verwertung seiner wirtschaftlichen Kräfte wie der große Kapitalbesitzer. Aber diese Freiheit wirkte wirtschaftlich nicht ausgleichend. Sie hatte ja für den wirtschaftlich Schwachen nicht den gleichen Wert wie für den Starken. Da die Produktivkraft des Kapitals in progressivem Verhältnis zu seiner Größe zunimmt, hat der größere Besitz vor dem kleinen im Wettbewerb ein Bedeutendes voraus und er kann gerade auf dem Boden des gleichen Rechtes und der gleichen Freiheit für alle diese Überlegenheit am erfolgreichsten zur Geltung bringen. Wie sehr ihm das auch damals geglückt ist, haben wir gesehen. So wirkte das Freiheits- und Gleichheitsprinzip der Demokratie in der Volkswirtschaft als ein Moment der Unfreiheit und Ungleichheit. Je weiter der Spielraum war, den der freie Volksstaat der Entfaltung aller individuellen Anlagen, der Betätigung jeder menschlichen Kraft gewährte, um so rascher und schroffer mußten sich auch die Unterschiede herausbilden und zwar gerade die des Besitzes.368 Daher wird in der entwickelten[226] Demokratie das Endergebnis dies, daß dieselben Volksgenossen, die durch die fortschreitende Demokratisierung aller politischen Institutionen immer mehr Freiheit und Gleichheit gewonnen hatten, vielfach zugleich unfreier und unter sich in höherem Grade ungleich wurden.

Man sieht: wir begegnen schon hier demselben Widerspruch der wirtschaftlichen Entwicklung mit dem politischen Entwicklungsprinzip der Freiheit und Gleichheit, den man als einen spezifisch modernen zu betrachten gewohnt ist.369

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 213-227.
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