1. Plutokratische Tendenzen im Zeitalter der Adelsherrschaft

[128] Bei aller Mangelhaftigkeit der Überlieferung dürfen wir so viel als gewiß bezeichnen: der Sozialismus als Kritik des Kapitales ist bereits das Erzeugnis einer recht frühen Epoche der griechischen Geschichte. Schon im Laufe des 7. Jahrhunderts hat in den sozial und ökonomisch fortgeschrittensten Landschaften der hellenischen Welt die kapitalistische Wirtschaft35 einen Umfang und eine Verbreitung gewonnen, daß sie von weiten Schichten des Volkes als ein schwerer Druck empfunden ward. Hier tritt uns zum ersten Male eine soziale Klasse entgegen, die, wie sie das Produkt des kapitalistischen Wirtschaftsprinzips[128] ist, so auch als Trägerin einer sozialistischen Negation desselben auftritt.

Wenn aber die Entstehungsgeschichte des Sozialismus mit der Geschichte des Kapitalismus zusammenfällt, so ergibt sich für uns vor allem die Frage: wie alt ist denn eigentlich das, was wir als kapitalistisches Wirtschaftssystem bezeichnen? Man könnte geneigt sein, ziemlich weit in die Vergangenheit zurückzugehen. Denn eine vor allem in die Augen fallende Seite der kapitalistischen Wirtschaft: der Großbetrieb tritt uns bereits in der Welt des Epos vollentwickelt entgegen. Die homerischen Edelhöfe mit ihren Massen von Arbeitskräften, mit ihren großen Herden und ausgedehnten Ländereien lassen uns deutlich erkennen, in welchem Umfang hier neben und über dem bäuerlichen Betrieb die große Güterwirtschaft emporgewachsen, wie tief die Kluft zwischen Edelmann und Bauer auch in wirtschaftlicher Beziehung bereits geworden war.36 Allein diesem Gutsbetrieb war keineswegs von Anfang an das eigentümlich, was das spezifische Kennzeichen der kapitalistischen Wirtschaft bildet. Es war lange Zeit ein naturalwirtschaftlicher. Was der Gutsherr an Korn und Wein bauen, an Vieh züchten ließ, wanderte in der Regel nicht auf den Markt zum Verkauf, sondern in den Haushalt des Herrenhofes zum Verbrauch. Es ist Produktion zum Zwecke des Konsums, nicht des Erwerbes. Der kapitalistischen Wirtschaft nähert sich der Gutsbetrieb erst seit der Zeit, in der er für den Verkauf auf dem Markte zu produzieren begann. Und diese Wandlung erfolgt eben im Laufe des 8. und 7. Jahrhunderts, in dem Hand in Hand mit einer gewaltigen Zunahme der Bevölkerung Städtewesen und gewerbliche Betriebsamkeit, Handels- und Kolonialverkehr mächtig emporblühten und von den zahlreichen rasch wachsenden städtischen Mittelpunkten aus die Geldwirtschaft sich weithin über das Land verbreitete.37

[129] Jetzt wird das Ziel der Wirtschaft die Herstellung einer solchen Menge von Erzeugnissen, daß aus dem Verkauf eine möglichst große Einnahme entstand. Es vollzieht sich der von Aristoteles in der Politik geschilderte Umschlag des »Hausvermögens« in spekulatives Kapital, der Güterbeschaffung für den Unterhaltsbedarf in die Spekulation auf den Geldprofit, der sich als Überschuß über die Herstellungskosten ergibt.38 An Stelle der »Ökonomik« tritt mehr und mehr die »Chrematistik«, das eigentliche Kennzeichen der kapitalistischen Wirtschaft. Und damit verbindet sich noch ein anderes. Das Einkommen aus dem Gewinn der Wirtschaft soll möglichst weit über den Bedarf des Lebens hinaus gesteigert werden. Es soll zur Bildung eines großen Vermögens dienen, »Reichtum« schaffen, von dem schon Solon gesagt hat, er habe kein Ziel, das erkennbar den Menschen gesteckt ist.39

Die ersten Spuren dieser Entwicklung reichen bis in die Zeiten des epischen Gesanges zurück. Die Herren, vor denen der jonische Aöde singt und aus deren Leben er die Züge für seine Schilderungen entnimmt, sind nicht mehr bloß Männer des Waffenwerkes. Sie haben ein ausgeprägt ökonomisches Interesse. Und die schon im Epos erkennbaren zahlreichen Fortschritte in der Organisation der Arbeit, der Intensität der Bodenkultur, der allgemeinen Betriebsweise der Landwirtschaft überhaupt zeugen von ihrem erfolgreichen Bestreben, sich den Anforderungen gewachsen zu zeigen, welche die Leitung eines landwirtschaftlichen Großbetriebes an den Gutsherrn stellte.40 Wie ein moderner Landwirt wird in dem Erntebild des Achilleusschildes der Gutsherr dargestellt. Er steht mitten unter seinen Feldarbeitern, »die Freude im Herzen« (γηϑόσυνος).41 Und diese Freude an Besitz und Erwerb kommt überall im Epos zum lebhaftesten Ausdruck. Daß Adel mit Reichtum verbunden sei, ist eine so selbstverständliche Vorstellung für das Epos, daß bei der Charakteristik adeliger Männer die Begriffe »reich und edel« ganz formelhaft gebraucht werden. Und wie der Dichter im Lobe der Helden, besonders der Gefallenen mit Vorliebe auf diesen Vorzug hinzuweisen pflegt, so lieben es die im Epos auftretenden Edlen, sei es bei erstmaligen Begegnungen oder, wo es darauf ankam, sich persönliche Geltung zu[130] verschaffen, nicht bloß durch die Berufung auf den Adel, sondern ganz besonders auf ihren Reichtum sich zu legitimieren, wobei mitunter in naivster Weise die einzelnen Bestandteile des Reichtums aufgeführt werden: die großen Schafherden, die Menge von Saatfeldern, Baumpflanzungen usw.!42 Selbst dasjenige Moment, welches recht eigentlich den Ehrenvorzug des Adels bildet, Wehrhaftigkeit und kriegerischer Ruhm muß es sich bei solchen Gelegenheiten gefallen lassen, erst nach dem Besitz erwähnt zu werden! Schon kündigt sich die Zeit an, wo der Reichtum allen anderen Vorzügen mit Erfolg den Rang in der Gesellschaft streitig macht.

Ein Odysseus will lieber noch länger in der Welt umherstreifen, wenn er dann nur mehr Hab und Gut nach Hause brächte! Kein Wunder, daß der Adel auch die neuen Erwerbsarten seinem Interesse dienstbar machte, welche der Aufschwung des Verkehrslebens der wirtschaftlichen Spekulation eröffnete. Er mußte es, wenn er nicht hinter dem mächtig emporstrebenden städtischen Bürgertum zurückbleiben wollte. Frühzeitig erscheint er an den industriellen und kommerziellen Unternehmungen beteiligt, auf die ihn ja der für den Export immer wichtiger werdende Anbau von Handelsgewächsen (Wein und Öl), der Besitz von Tonlagern und Erzgruben, die Schafzucht von selber hinwies. Schon bei Homer steigen Edle selbst zu Schiffe, um Erz gegen Eisen einzutauschen.43 Der Bruder der hochadeligen Sappho führt eine Ladung lesbischen Weines nach Ägypten,44 und auch von Angehörigen des attischen Adels wird aus derselben Epoche die persönliche Beteiligung am Seehandel berichtet.45 Selbst ein Theognis, der sonst dem aristokratischen Standesgefühl den denkbar schroffsten Ausdruck verlieh, hat dem Geist der neuen Zeit seinen Tribut gezahlt. Er hat durch den unglücklichen Ausgang eines überseeischen Handelsunternehmens seine Güter verloren und sich später eifrig bemüht, »sowohl zu Lande, wie auf dem breiten Rücken des Meeres« das Verlorene durch Handel wieder zu gewinnen.46 Ja er versteigt sich einmal sogar – im Widerspruch zu seinen sonstigen ethischen Grundsätzen – zu dem Wunsche: »Wäre ich reich und hätte die Gunst der Unsterblichen, so würde ich mich um andere Tugend nicht kümmern!«47

[131] So vollzieht sich eine innere Annäherung des Adels an die Klasse, welche auf der gewerblichen und merkantilen Spekulation ihren Lebensberuf machte und in wirtschaftlicher Hinsicht dem Adel vielfach ebenbürtig zur Seite trat, ja ihn oft genug überflügelte. Und diese Annäherung fand ihren Ausdruck in jener »Mischung des Edlen mit dem Gemeinen«, welche der adelige Sänger so tief beklagt hat. »Edelleute verschmähen es nicht, ein gemeines Weib, des gemeinen Mannes Tochter zur Gattin zu nehmen, wenn sie nur viele Schätze mitbringt. Und auch das edle Weib verschmäht es nicht, die Gattin des reichen Mannes zu werden; sie will den Reichtum statt des Adels. Das Geld ehren sie, darum freit der Edle die Tochter des Reichen und den Reichen die Tochter des Edlen. Das Geld vermischt die Stände.«48 – »Nicht umsonst verehren dich die Menschen am meisten, o Plutos; denn du erträgst auch den gemeinen Sinn, mit dir du begehrtester aller Götter wird auch der Gemeine ein edler Mann.«49

In einer Zeit, der es in dieser Weise zum Bewußtsein gekommen war, daß »Reichtum Macht« ist,50 konnte es auf die Dauer unmöglich ausbleiben, daß auch die bürgerliche Tätigkeit, wenn sie mit materiellem Erfolg gekrönt war, zum Aufsteigen in die höhere Klasse führte. Mehr und mehr nimmt dieselbe ein plutokratisches Gepräge an. Ist doch schon um die Wende des 8. und 7. Jahrhunderts das Wort gesprochen: »Dem Reichtum folgt die Ehre.«51 – »Hab und Gut ist die Seele des armen Sterblichen.«52 Und das folgende Jahrhundert hat den Gedanken noch schroffer formuliert in dem berüchtigten Motto einer zahlungsfähigen Moral, daß »das Geld den Mann macht und kein Armer eine Ehre hat«.53 In der volkstümlichen Polemik Solons gegen die herrschende Klasse des damaligen Athens tritt das Moment der Geburt völlig zurück hinter der scharfen Betonung der Tatsache, daß diese »Mächtigen«[132] eben zugleich diejenigen sind, welche »im Reichtum prunken«,54 welche rücksichtslos das Geldinteresse vertreten.55 Und ganz ähnlich ist es z.B. in Milet, wo im 6. Jahrhundert die aristokratische Partei auch als die der Reichen κατ᾽ ἐξοχήν erscheint,56 und anderwärts, wo die Aristokratie als die »Fetten« oder die »Schweren« (οἱ παχεῖς) bezeichnet werden, als die, welche »das Vermögen«, das Geld haben.57 Neben dem Gegensatz von vornehm und gering kommt jetzt mehr und mehr der von reich und arm als Merkmal der Klassenscheidung in Betracht.58

Das Eindringen kapitalistischer Gesichtspunkte in die Ökonomie des großen Grundbesitzes, die Umbildung der alten Aristokratie in plutokratischem Sinne konnte sich nun aber nicht vollziehen, ohne daß auch die Gesittung und Lebensanschauung der herrschenden Klasse in mancher Hinsicht eine andere wurde. Handel und Gewerbfleiß eröffneten ganz neue Möglichkeiten des Lebensgenusses. An die Stelle des mehr auf die Massenhaftigkeit des Konsums gerichteten Luxus der älteren Zeit, bei dem die Genußfähigkeit des einzelnen immerhin eine beschränkte war und der daher auch nicht seine ganze Lebensführung bestimmen konnte, treten jetzt die zahlreichen feineren Bedürfnisse der entwickelten Kultur hervor: Pracht und Glanz der Wohnung, der Kleidung usw., sich steigernder Begehr nach den Waren der Fremde. Es ist ein Luxus, der mehr das ganze Leben durchdringt und der damit recht eigentlich – wie schon Aristoteles bemerkt hat59 – dem Bedürfnis einer Gesellschaftsklasse entgegenkam, in der der soziale Wert des einzelnen überwiegend nach einem materiellen Maßstab geschätzt wurde.

Wer kennt nicht die Schilderungen und bildlichen Darstellungen aus dem Leben der jonischen und attischen Aristokraten: den Glanz des äußeren Auftretens, den Prunk der Bestattungen usw.60 Sie schreiten einher auf hohen Schuhen, in Purpurgewändern und den Duft ausgesuchter Salben um sich verbreitend, mit goldenen Armspangen und goldenem[133] Stirnschmuck angetan und selbst das Haar in »goldenen Fesseln«. Letzteres besonders bezeichnend! Die vornehmen Herren wollen nicht bloß die »Anständigen« sein, sondern auch die »Zierlichen«. Mitten in das Rokoko und in die Zeiten des ancien régime versetzen uns die Lockenfrisuren und die kunstreich geflochtenen Zöpfe, durch welche die Angehörigen der feinen Gesellschaft den weiten Abstand, der den reichen Mann vom Armen trennte, auch im Äußeren recht sinnenfällig zum Ausdruck brachten. Eben deshalb steigert sich die Zierlichkeit bis zur Geziertheit, wird überhaupt der Geist der Etikette und der Konvention in dieser Gesellschaft immer mächtiger.61 Weil die gesellschaftlichen Abzeichen der Ausdruck der sozial begünstigten Position sind und weil der Reichtum ihre Hauptgrundlage ist, wird auf ihre Schaustellung der größte Wert gelegt.

Der äußerliche materielle Zug in dem Dasein der herrschenden Gesellschaftsschicht konnte natürlich nur dazu beitragen, daß die wirtschaftlichen Bestrebungen in ihrem Sinnen und Trachten noch mehr in den Vordergrund traten. Dieser Art des Luxus und des Lebensgenusses ist ja, wie Aristoteles in seiner psychologischen Motivierung der Chrematistik treffend ausgeführt hat, gleich dieser selbst eine gewisse Richtung ins Endlose eigen.62 Jedenfalls ermöglichte die neue Geldwirtschaft die Steigerung des Luxus bis zu einem Maße der Verschwendung, wie sie – zumal was die vermögenzerrüttende Wirkung betrifft – unter den alten naturalwirtschaftlichen Formen des Daseins in dieser Weise nicht möglich war.63

Kein Wunder, daß die innerlich durchaus verwandte Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft: die Unbegrenztheit ihres Strebens immer allgemeiner zum Durchbruch kam. Auch der Aristokrat, der für den Markt produzierte und seine Schiffe auf den Meeren schwimmen hatte, unterlag dem Gesetz des größtmöglichen Gewinnes, welches das Lebensprinzip der neuen Gesellschaft geworden war. Und oft genug mag auch bei ihm dieser neue Erwerbstrieb zur Habsucht entartet sein. Auch[134] er wurde ergriffen von jenem Durst nach Reichtum, der überall mit der merkantilen Spekulation sich einstellt. Das Wort, daß man niemals sein Herz am Reichtum übersättigen kann, stammt von einem Edelmanne dieser Zeit!64

Allerdings ist der Tadel gesprächiger als das Lob; und man muß sich gerade hier vor falschen Verallgemeinerungen hüten. Aber es gibt doch zu denken, daß in der Literatur, in welcher die Zeitstimmung am unmittelbarsten und lebhaftesten zum Ausdruck kommt, in der Lyrik, das nimmer ruhende Hasten und Jagen nach Gewinn und Genußrecht eigentlich als die Krankheit der Zeit erscheint.

Aber auch die vom Adel, die ihre Seele noch nicht der neuen Zeit verschrieben hatten, konnten sich dem spekulativen Zuge derselben unmöglich ganz entziehen. Wenn der aristokratische Grundbesitz auch unter den neuen durch die Geldwirtschaft geschaffenen Verhältnissen seine soziale Position behaupten wollte, so brauchte er Geld und immer wieder Geld. Denn je mehr die Geldwirtschaft durchdrang, um so mehr wurde für jeden einzelnen die Macht des Geldes fühlbar als die Ware, die für alle unentbehrlich und für die alles käuflich war, besonders die zahlreichen neuen Befriedigungsmittel einer gesteigerten Lebenshaltung, die man in der eigenen Wirtschaft nicht produzieren und doch auch nicht mehr entbehren konnte.65 Die Verhältnisse selbst drängten den Landwirt dazu, aus seinem Grundbesitz eine möglichst ergiebige Geldquelle zu machen.

All dies muß man sich vergegenwärtigen, wenn man den Landhunger verstehen will, der sich in dieser Zeit der Grundaristokratie bemächtigte. Sollte das Geldeinkommen sich mehren, so mußte die Bodenrente steigen, der Umfang des Gutsbetriebes oder des Gutsbesitzes eine möglichste Ausdehnung erfahren. Auf den »fetten Acker« weist ein Dichter des 6. Jahrhunderts den hin, dessen Herz nach Reichtum verlangt; denn der Acker »ist das Horn der Amalthea«.66 Mehr Land und größerer Ertrag wird[135] das Losungswort der Herren und jede Gelegenheit benützt, es zu verwirklichen.

Solche Gelegenheit mochten schon die alten Klientel-, Pacht- oder Hörigkeitsverhältnisse darbieten, die einen Teil der ländlichen Bevölkerung seit alter Zeit in Abhängigkeit vom Adel erhielten, Verhältnisse, die es demselben gewiß vielfach ermöglichten, Bauernland zum Rittergut zu schlagen oder den Anteil des Grundherrn am Bodenertrag auf Kosten seiner abhängigen Leute zu steigern. Der kapitalistische Individualismus beraubte diese Verhältnisse ihres patriarchalischen Charakters und machte sie zu einem Mittel der Ausbeutung des Nebenmenschen. Die Bedingungen, unter denen die Hintersassen oder auch die Pächter des Gutsherrn wirtschafteten, wurden möglichst zugunsten des letzteren verändert; und wenn sie den gesteigerten Verpflichtungen nicht nachkommen konnten,67 so machte er immer rücksichtsloser von den Zwangsbefugnissen Gebrauch, die ihm ein hartes Schuldrecht gegenüber dem Säumigen einräumte. Sie wurden mit Weib und Kind seine leibeigenen Knechte, die er wie seine Sklaven als unbedingt abhängige, auf das Existenzminimum gestellte Arbeiter seinem Gutsbetrieb dienstbar machte oder durch Verkauf über die Grenze unmittelbar zur Mehrung seines Geldeinkommens verwendete.

Ein anderer Weg, das gewünschte Ziel zu erreichen, war das Auskaufen von Bauernhöfen, ein Bestreben, das durch die Zeitumstände in hohem Grade begünstigt ward. Gerade damals war ja die Widerstandsfähigkeit des mittleren und kleinen Bauernstandes gegen die Aufsaugungsgelüste des großen Besitzes vielfach geschwächt. In solchen Epochen großer ökonomischer Umwälzungen kommen die wirtschaftlich Schwachen gegenüber den Stärkeren immer in Nachteil. Der Bauer besaß nicht die Elastizität, um sich den veränderten Verhältnissen so[136] rasch anzupassen. Die bald auch auf den Kleinverkehr ausgedehnte Geldwirtschaft stellte den Bauer in steigendem Maße in die allgemeine Verkehrswirtschaft und damit in Verhältnisse hinein, denen er mit seiner geschäftlichen Unkenntnis, mit seiner geringen Kapitalkraft und Kreditfähigkeit ungleich weniger gewachsen war, als der geschäftskundige, kapitalkräftige und in dem korporativen Zusammenhalt seiner Klasse zugleich einen mächtigen Rückhalt besitzende Gutsherr. Unter diesen neuen Verhältnissen und gegenüber einem solchen Wettbewerb mochte es dem Bauern oft sehr schwer werden, sich auf seiner Hufe gegenüber dem Vergrößerungsbedürfnis adeliger Gutsnachbarn zu behaupten. Schon die Schwierigkeit, das Geld aufzubringen, dessen auch er jetzt in steigendem Maße bedurfte, brachte ihn häufig in eine Notlage. Sie wird eine der wesentlichsten Ursachen der allgemeinen und großen Verschuldung gewesen sein, die uns in Landschaften wie Attika und Megara als einer der schwersten wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Zeit entgegentritt, wenn auch hier und anderwärts noch eine Reihe anderer Momente mitgewirkt hat, wie Kriegsnot, wirtschaftliche Krisen, allzu großes Wachstum der Bevölkerung u. dgl. m.

War aber einmal in Form von Forderungsrechten in das freie bäuerliche Eigentum Bresche gelegt, war einmal der Hypothekenstein auf Bauernland errichtet, zum Zeichen der Verpfändung,68 so ging der Prozeß der Enteignung des Bauern unaufhaltsam weiter. Die an sich enorme Höhe des Zinsfußes in dieser Zeit und die wucherische Ausbeutung der Not sorgten dafür, daß die Verschuldung nur zu oft mit der völligen Insolvenz endigte. Dann durfte sich derjenige, den der Gläubiger als kümmerlichen Teilpächter auf der Scholle seiner Väter sitzen ließ, noch glücklich preisen im Vergleich mit dem, dessen Land eingezogen und zum Rittergut geschlagen wurde, der zum proletarischen Gutsarbeiter oder gar zum unfreien Knecht, zu einem Mittelding zwischen Arbeitstier und Mensch herabgedrückt ward.

So machte die kapitalistische Ausgestaltung der Agrarwirtschaft immer größere Fortschritte. Immer fühlbarer trat die Tendenz hervor, die agrarische Gesellschaft in zwei sozial gesonderte Klassen zu spalten, von denen die eine die Produktionsmittel, Grund und Boden, Rohstoffe und Werkzeuge besaß, die andere nichts oder fast nichts als ihre Arbeitskraft[137] und häufig nicht einmal über diese frei verfügen konnte. Denn ein Teil der Freien hatte sogar das Recht auf eigene Arbeit und eigenen Erwerb eingebüßt. Die Schuldknechtschaft gab dem zum Herrn des Schuldners gewordenen Gläubiger ein Eigentumsrecht an Arbeit und Erwerb des Knechtes. Er konnte über dessen Person verfügen, soweit es die Ausübung dieses Rechtes erforderte, das so zu einem Eigentum an der Persönlichkeit selbst ward. Hier traf das Wort in seiner ganzen Furchtbarkeit zu: »Indem man den Boden der spekulativen Ausbeutung und Verpfändung überlieferte, überlieferte und verpfändete man seine Bewohner.«69


»In Knechtschaft lag das Land, – sagt Solon von dem Attika seiner Zeit –

So manchen hat ... Willkür oder hartes Recht

In fremden Knechtesdienst geschickt. So mancher unmutvoll

Entfloh dem Schuldzwang, irrte fern von Land zu Land

Der eignen Sprache Laut vergessend, heimatlos.«70


Dazu kam, daß in diesem ökonomischen Kampf des Edelmannes gegen den Bauern nicht bloß das wirtschaftliche Übergewicht auf seiten des ersteren war, sondern auch alle die Vorteile, welche der Besitz der Macht gewährte. Aus den Reihen der regierenden Herrn gingen ja die Richter und die Organe der Verwaltung hervor, die das Recht sprachen und die Bußen und Strafen verhängten. Aristokraten waren die Priester, die allein zu künden verstanden, was dem Willen der Götter genehm sei, Aristokraten die »Ausleger der göttlichen und menschlichen Rechte«.71 Furchtbare Waffen in der Hand einer Klasse, die entschlossen war, diese Machtstellung rücksichtslos in ihrem Interesse auszunützen! Und es ist ja nicht bloß durch die Klagen der Unterdrückten, sondern auch durch die eigenen Standesgenossen hinreichend bezeugt, daß mit der kapitalistischen und plutokratischen Entwicklung der Aristokratie vielfach die Entartung zur ausbeuterischen Klassenherrschaft Hand in Hand ging. Reichtum und ein Übermaß politischer Macht in einer Gesellschaftsklasse vereinigt müssen eben naturgemäß, wie schon Aristoteles bemerkt hat, diese Klasse mit Übermut und Habgier erfüllen.72

Einen ergreifenden Ausdruck hat die Erbitterung über diesen gesellschaftlichen Despotismus in den Worten der Fabel gefunden, die der bäuerliche Sänger aus dem armen Dorfe am Helikon an die Herrschenden richtet, »die klug sich's deuten mögen«.[138]


»So zur Nachtigall, der melodischen, sagte der Habicht,

Da er gar hoch in den Wolken sie trug mit den packenden Krallen,

Diese jedoch wehklagte, zerfleischt von den Krallen, den krummen,

Jämmerlich, – jener nun sprach zu ihr, bewußt sich der Stärke:

Törin, wozu das Geschrei? Ein Stärkerer hält dich gefangen.

Und so schön du auch singst, wie ich dich führe, so gehst du.

Je nach Belieben erwähl' ich zum Schmauß dich oder entlaß dich.«73


Vor den Herren fühlt sich der Schwache rechtlos, weil er machtlos ist. Er hat die Empfindung, daß man ihm gegenüber jenes brutale Recht des Stärkeren walten läßt, das die unvernünftige Natur beherrscht, wo »Fische und Tiere des Waldes und schnell befiederte Vögel einander verzehren unkundig des Rechtes,«74 das in einer höheren sittlichen Welt herrscht. Ein Gefühl, aus dem heraus ein unbekannter Dichter an jene Tierfabel die pessimistische Moral geknüpft hat:


»Tor ist, wer sich erkühnt, mit den Stärkeren je sich zu messen,

Nie kann Sieg er gewinnen und trägt zur Schande noch Unglück.«75


Die hehre Göttin des Rechtes »Dike durchwandelt klagend die Stadt und die Sitze der Menschen, verdrängt durch die Käuflichkeit der Herrschenden, der Geschenke verzehrenden, die frevlen Sinnes beugen das Recht, mit schiefem Spruche entscheidend, Unheil schmiedend den anderen«.76 – Auf sie ist gewiß auch mit gemünzt der Weheruf des Dichters über die »Göttern und Menschen verhaßten« faulen Drohnen, welche »die Arbeit fleißiger Bienen verzehren«.77 Von den Männern des Volkes aber heißt es:


» ... Nimmer am Tage

Ruhn sie von Arbeitslast und Leid, ja selber die Nacht nie!«78


Man darf diese Äußerungen eines durch trübe persönliche Erfahrungen verbitterten Mannes nicht ohne weiteres verallgemeinern. Wie verbreitet aber am Ende dieser Periode die Übelstände waren, die Hesiod in seiner Heimat beklagt, zeigt das vernichtende Urteil, welches ein so unbefangener Zeuge, wie Solon, über seine Standesgenossen gefällt hat. In seinem Mahnwort gegen die »Pleonexie der Reichen«, wie es Aristoteles bezeichnet,79 nennt Solon ihre schnöde Habgier und ihren Übermut,80 die Quelle aller sozialen Kämpfe seiner Zeit. Er spricht von[139] der Überhebung und der Maßlosigkeit der Wünsche dieser Reichen, die – obwohl im Schoße des Glückes des Guten in Fülle genießend – den begehrlichen Sinn nicht zähmen wollen und durch Übersättigung willenlos der Sünde verfallen.81 »Die am meisten unter uns haben – klagt er in dem schönen sozialen Gemälde, in dem er von dem Gewinnstreben der verschiedenen Berufe spricht –, sie mühen sich noch einmal so sehr. Wer könnte sie alle befriedigen?«82 Und in einem anderen Gedichte heißt es: »Durch ihren Unverstand arbeiten sie selbst am Verderben des Staates, von Habsucht verleitet.« »Die Führer des Volkes sind von ungerechtem Sinn, sie werden bald ihrer schweren Frevel harte Strafe büßen müssen. Sie wissen ihren Durst nach Geld und Gut nicht im Zaum zu halten,83 es genügt ihnen nicht, sich in Ruhe ihres wohlhäbigen Besitzes zu freuen. Durch Unrecht und Gewalttat mehren sie ihren Reichtum, ohne Scheu vor dem Gute der Tempel und des Staates stehlen und rauben sie, der eine hier, der andere dort. Sie achten nicht die heiligen Satzungen der Dike, welche schweigend gewahrt, was geschehen ist und noch geschieht. Aber sie wird mit der Zeit kommen, Vergeltung zu üben. Unheilbare Wunden sind der Stadt schon geschlagen, mit raschen Schritten geht sie schnöder Sklaverei entgegen, oder die Empörung bricht aus und der schlafende Bürgerkrieg wird aufgeweckt, der die fröhliche Jugend vieler dahinrafft.« – »Solches Unheil bereitet sich im Volke vor, von den Armen sind viele verkauft mit schmählichen Fesseln gebunden in fremdes Land geschafft, und sie müssen – der Gewalt gehorchend – der Knechtschaft kummervolles Elend tragen.« Nicht bloß das harte Recht, sondern die Willkür ist es, die so manchen der Heimat beraubt und in fremden Knechtesdienst geschickt hat. Und auf den in der Heimat Geknechteten lastet nicht der Schimpf der Unfreiheit allein, sie müssen auch noch zittern vor dem harten Sinn der Herren!84

Hat doch einer von diesen, der nicht zu den Schlechtesten gehörte,[140] der Herrenmoral in einer Weise Ausdruck verliehen, welche die scheue Furcht der Unterdrückten nur zu begreiflich erscheinen läßt. Allerdings ist der »Ritterspiegel adeliger Sitte«, wie man die Dichtungen des Theognis von Megara genannt hat, aus einer Stimmung heraus geschrieben, die durch den bereits heftig entbrannten Klassenkampf maßlos verbittert war. Man wird daher nicht ohne weiteres die herrschende Klasse als solche für die brutale Forderung verantwortlich machen, welche er an die Standesgenossen richtet: »Tritt das törichte Volk mit der Ferse nieder, schlage es mit scharfem Stachel und lege ihm das Joch fest auf den widerspenstigen Nacken.«85 Allein entspricht nicht tatsächlich die Härte des Joches, das vordem der Adel von Megara der abhängigen Klasse auferlegt hatte, den »Gemeinen, den Memmen, den Schuften« – wie Theognis sie nennt –, nur zu sehr dem hier proklamierten; Regierungsprinzip und der souveränen Verachtung, mit der dieser megarische Junker auf das »dumme« Volk herabsieht?86 Voll Schmerz gedenkt er der Zeit, wo die Gemeinen »Gesetz und Recht nicht kannten«, wo die Leute mit dem Ziegenfell um die Schultern, die jetzt so zu Ehren gekommen, »noch draußen vor dem Tore wie Hirsche weideten«.87 Und jedenfalls war den Herrschenden ganz aus der Seele gesprochen der naive Wunsch des adeligen Sängers: »Es wäre gut, wenn alle Edlen Reichtum besäßen, dem gemeinen Manne ziemt es, sich in Armut zu mühen!«88 Man hat mit Recht bemerkt, daß man diese Äußerungen und die ganz den gleichen Geist atmenden Parteigesänge eines anderen Standesgenossen, des Alkaios, nicht lesen kann, ohne betroffen zu werden von dem Tone geradezu feudaler Hoffärtigkeit den unteren Klassen gegenüber, der durch alle diese politischen Kundgebungen hindurchgeht.

Wie überaus bezeichnend ist doch der Vergleich des platten Landes und seiner bäuerlichen Bewohnerschaft mit einem Wildgehege, ein Vergleich, in welchem das Pathos der Vornehmheit und Distanz bei[141] dem Junker von Megara so drastisch zum Ausdruck kommt!89 Das ist in der Tat die letzte Konsequenz dieser Herrenmoral: Was zur Masse gehört, erscheint als ein nützliches Herdentier, dessen Daseinszweck im Grunde nur der ist, dem Interesse der bevorzugten Klasse dienstbar zu sein. Der Gedanke an die Verpflichtungen, welche die höhere Stellung auferlegt, der Gedanke an die gesellschaftlichen Leistungen, auf denen allein die sittliche Berechtigung der Herrschaft beruhte, erscheint mehr und mehr zurückgedrängt durch eine Lebensansicht, für welche der Besitz der Macht lediglich ein Mittel zur Befriedigung des Klassenegoismus war.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 128-142.
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