3. Agrarsozialismus und Agrarreform im 6. Jahrhundert

[155] Man darf auf Grund des allgemeinen Eindruckes, den wir von der ganzen Zeitatmosphäre gewonnen haben, mit Sicherheit annehmen, daß die geschilderte Stimmung in den Massen ungleich weiter verbreitet war, als unsere kümmerliche Überlieferung erkennen läßt. Denn was wissen wir im Grunde von der ganzen denkwürdigen Epoche? Und wer wollte nach den vereinzelten zufälligen Streiflichtern urteilen, welche kleine Strecken dürftig erhellen, während ringsum tiefes Dunkel herrscht?

Läßt uns doch die Überlieferung fast durchweg schon über die grundlegende Frage im unklaren, welche von den verschiedenartigen revolutionären Bewegungen, von denen die Zeit erfüllt war, im einzelnen Falle in Betracht kommen. Auch steht für sie begreiflicherweise diejenige Bewegung im Vordergrund, die im allgemeinen die siegende war: die rein bürgerliche, der Kampf der Bürger- und Bauernschaften um die Beseitigung der Privilegien des herrschenden Standes und die Anerkennung der Gleichheit vor dem Gesetz. Weniger deutlich erkennbar ist dagegen die vom Kleinbürger- und Kleinbauerntum vertretene demokratische Unterströmung, welche die Freiheits- und Gleichheitsforderung wesentlich radikaler auffaßte, als die oberen – an der Bevorzugung des Besitzes festhaltenden – Schichten des Bürgertums, aber allgemeinere Erfolge erst in der nächsten Epoche errang. Und die geringsten Spuren vollends hat natürlich die noch radikalere Bewegung hinterlassen, welche der politischen Befreiung ohne weiteres die soziale folgen lassen wollte, aber mit diesem ihrem Utopismus noch weniger durchzudringen vermochte, als der politische Radikalismus.

Dazu kommt, daß in den Anfängen die proletarische Bewegung mehr von dunklen Instinkten geleitet wurde, ein klares Ziel, ein bestimmt formuliertes Programm für und nur ganz ausnahmsweise noch erkennbar ist. Auch hier trifft die Bemerkung Carlyles zu, daß die ersten Regungen jener unglücklichen tief vergrabenen Masse wie die Bewegungen des Enceladus sind, der, wenn er über seine Schmerzen klagen will, Erdbeben hervorrufen muß. »Es sind Bewegungen vollständig instinktiver Art, die sich an dasjenige halten, was zunächst liegt und gegen das anstürmen, was ihnen handgreiflich im Wege zu stehen scheint. Es sind Taten, die ursprünglich zum großen Teile die Formen des Raubes und[155] der Plünderung annehmen.«123 Der unmittelbare Zweck ist, den Feind irgendwo in seinem Besitztum zu vernichten, wie es z.B. (um 640) die aufrührerischen Massen in Megara taten, die ihren »Haß gegen die Reichen« dadurch sättigten, daß sie über die Herden der großen Grundbesitzer herfielen und sie abschlachteten.124

Dieses Ereignis, welches für uns die Geschichte der proletarischen Bewegung in der hellenischen Welt einleitet, ist geradezu typisch für die ersten Formen proletarischer Bewegungen überhaupt. Es ist ein Kampf gegen die äußerlich wahrnehmbaren Dinge, in denen sich der Gegner gleichsam verkörpert: wie der industrielle Proletarier der neueren Zeit die Fabriken und Maschinen zertrümmerte, weil er bei ihrem Aufkommen sah, daß sie den Handarbeitern Konkurrenz machten, wie er sich gegen die Wohnungen der Unternehmer wandte, die als die Zwingburgen der neuen Gewalthaber erschienen,125 so richtete sich die Wut jener ländlichen Proletarier des alten Megara gegen die Schafzucht der reichen Grundbesitzer, die gewiß schon damals zur Proletarisierung des Bauernstandes, zum Legen von Bauernhöfen und zur Verwandlung des Ackers in Weideland ebenso beigetragen hat wie in den Tagen des Thomas Morus, der die Schafe reißende Bestien nennt, welche Menschen fressen und das Land verwüsten.126

Ähnliche Erscheinungen wie in Megara hat die soziale Revolution ohne Zweifel auch anderwärts gezeitigt, wo die Verhältnisse ähnlich lagen. In solchen Epochen hochgehender innerer Gärung erhalten ja die verbrecherischen Instinkte ohnehin freien Spielraum dadurch, daß hier die Hefe vom Volksboden emporkommt, und daß diese auf dem tiefsten Niveau stehenden Elemente, die irgendwo Anschluß suchen müssen, sich naturgemäß derjenigen Partei oder Gruppe angliedern, die zur bestehenden Ordnung im schroffsten Gegensatze steht. So sehen wir, wie in demselben Megara nicht sehr lange nach der erwähnten revolutionären Bewegung[156] die kommunistische Begehrlichkeit der Masse die schlimmsten Orgien feiert. Die Armen drangen in die Häuser der Besitzenden ein,127 verlangten, daß man ihnen gute Mahlzeiten auftischte, und wo man ihnen nicht willfahrte, brauchten sie mit der größten Frechheit Gewalt!128

Hier tritt uns zum ersten Male in der griechischen Geschichte jenes Element sozialer Zersetzung entgegen, das wir als Pöbel bezeichnen, dessen charakteristische Eigenart in einer instinktiven Feindschaft gegen das Gebäude der Zivilisation besteht. Es ist die Masse, die dem ausgearteten, durch Zufall gesetz- und zügellos gewordenen Tierstaat, dem Bienen- oder Hornissenschwarme gleicht, wenn er ohne Königin mörderisch und selbstmörderisch über den nächsten schuldigen oder unschuldigen Gegenstand herfällt: die ewig blinde, in ihrer Aufregung blind wütende Masse, der »Sklave, wenn er die Kette bricht«.

Und noch eine andere Beobachtung drängt sich auf: die Ironie der Geschichte ahndet hier an den Besitzenden gerade das, worin ihr sittliches Verschulden lag: die Überschätzung des irdischen Gutes, das Übermaß des Strebens nach Verbesserung des materiellen Daseins. Die Menge handelte ja im Grunde nur nach der Moral, die ein Dichter der Zeit in die bezeichnenden Worte gekleidet hat: »Erst suche dir Lebensunterhalt, die Tugend, wenn du bereits zu leben hast.«129 Auch der Neid findet hier seine Befriedigung, für den ein materialistischer Luxus der denkbar beste Nährboden ist. Denn da diese Empfindung sich gutenteils nach dem Maße des Verständnisses richtet, das man von dem Genusse anderer hat, so sind es eben die – von der ungebildeten Masse naturgemäß am besten verstandenen und gewürdigten – grobsinnlichen Genüsse, an denen Neid und Klassenhaß sich am heftigsten entzündet. Und in ihrer[157] Aneignung, im Kommunismus des Genießens, wird denn auch vor allem der Triumph des Sieges gesucht.

Allerdings kommt in diesen Ausschreitungen einer revolutionären Masse auch noch ein anderes, innerlich berechtigteres Moment zum Ausdruck. Sie sind zugleich das Symptom einer psychologischen Veränderung in den unteren Volksschichten, ganz ähnlich derjenigen, welche die kapitalistischen Tendenzen der Zeit in den höheren hervorgebracht hatten. Während früher, unter der Herrschaft überwiegend naturalwirtschaftlicher Daseinsformen, der einzelne in seine Lebenshaltung sozusagen hineingeboren wurde, seine Bedürfnisse autoritativ feststanden, ergriff nun auch die Masse derselbe Zug, der die treibende Kraft der neuen Zeit geworden war: wie der Unternehmungsgeist der höheren Klassen die Weite der Welt zu umspannen begann, so erweiterten sich naturgemäß auch beim Volke die Grenzen wirtschaftlichen Strebens. Seine Bedürfnisse, bisher gewohnheitsmäßig beschränkt, beginnen sich zu steigern. Der Trieb nach einer Besserung der Lebenshaltung war auch hier erwacht und ließ sich nicht mehr zurückdämmen.

Ebenso ist es begreiflich, daß bei der rohen und verwilderten Masse, wenn sich auf dem Boden des Bestehenden eine Befriedigung ihrer Ansprüche nicht erreichen ließ, diese psychologische Wandlung kommunistische Gelüste erzeugte. Mit der Begier nach dem größtmöglichen Gewinn verband sich hier ganz naturgemäß der Trieb zum Teilen und Gleichmachen. Eine andere Frage ist es freilich, ob schon bei diesen ersten Ausbrüchen des sozialrevolutionären Geistes die unzweifelhaft vorhandenen kommunistischen Ansätze zur Entwicklung gekommen sind. Ob und inwieweit man hier schon dazu fortgeschritten ist, an Stelle der unmittelbar sichtbaren Dinge die dahinter liegenden Rechtsordnungen zu bekämpfen, auf denen die bestehende Güterverteilung beruhte, das erfahren wir nicht.

Um so bedeutsamer ist es, daß uns ein solches positives Programm gesellschaftlicher Umgestaltung fast gleichzeitig in der agrarrevolutionären Bewegung des benachbarten Attika begegnet. Hier traten damals unter den Arbeitern des Grund und Bodens, unter den überschuldeten Parzellenbesitzern und Pächtern, Teilbauern, Tagelöhnern, Knechten usw. Gedanken des Umsturzes zutage, die selbst einem so radikalen Sozialreformer wie Solon als überschwenglich und töricht, als Ausfluß räuberischer Gier erschienen.130 Diese Gedrückten und Beladenen der Gesellschaft[158] wollten nicht bloß die Schlachten der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Demokratie schlagen. Denn die Gleichheit und die Freiheit, die diese meinten, konnte ihre materielle Not nicht beseitigen. Auch sie haben bereits gewußt, was die Wähler von 1789 in den doléances de cahiers ihren Vertrauensmännern aussprachen: daß die Stimme der Freiheit dem Herzen eines Elenden, der vor Hunger stirbt, nichts verkündet. Sie wollten, daß mit den neuen Ideen staatsbürgerlicher Freiheit und Gleichheit auch auf dem Gebiete des Güterlebens Ernst gemacht werde, daß die formale Freiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz gesteigert werde zur materiellen Gleichheit und sozialen Unabhängigkeit. Und so verlangten sie – wie Solon uns mitteilt – die gleiche Beteiligung aller am Grund und Boden des Vaterlandes.131 »Das Land der Masse« – diese Forderung tritt uns hier zum ersten Male als die Parole der Enterbten entgegen.

Ein Prinzip von ungeheurer Tragweite! Es bedeutete eine völlige Umwälzung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital – soweit dies Kapital mit dem Grund und Boden verbunden war – zugunsten der Arbeit! Wenn alle den gleichen Anteil an dem wichtigsten Produktionsmittel erhalten, wird der Anteil an dem Gesamtertrag der Volkswirtschaft, der auf die Arbeit fällt und der unter den bisherigen Verhältnissen immer kleiner zu werden drohte, mit einem Schlage gewaltig vermehrt. Hatte die bisherige Entwicklung vielfach zum Untergang der ökonomischen Selbständigkeit der landbauenden Klasse geführt, indem sie den Bauern von seinen Produktionsmitteln trennte und in einen besitzlosen Proletarier verwandelte, so sollten jetzt die Produktionsmittel, soweit sie zum Monopol von Großgrundbesitzern und Kapitalisten geworden waren, wieder in das Eigentum des arbeitenden Volkes zurückkehren. Die Arbeit sollte das Joch des Kapitalismus abschütteln und das Grundeigentum aufhören, als Mittel sozialer Übermacht und ökonomischer Ausbeutung zu dienen. Was der adelige Poet als eine Torheit verabscheut,132 davon will auch der revolutionäre Feldarbeiter nichts mehr wissen: er will nicht mehr auf fremdem Grund und Boden für andere sich mühen. Dem freien, auf eigener Scholle gesessenen Mann sollen die Früchte seiner Arbeit ungeschmälert zufallen.

Ja, man kann sagen: die persönliche Arbeit wird geradezu zum entscheidenden[159] Faktor der Produktion und der Verteilung des Produktionsertrages gemacht. Denn da der Bodenanteil, der bei der Aufteilung an den einzelnen gefallen wäre, naturgemäß ein beschränkter war und das Maß einer bäuerlichen Wirtschaft nicht überschritt, so hätte sich der Forderung, die schon Hesiod an den Bruder richtet: »Arbeite, törichter Perses« (ἐργάζεο, νήπιε Πέρση) – niemand mehr entziehen können. Die Klassenunterschiede verschwinden. Auch der Edelmann muß ein Bauer werden und selbst zum Pfluge greifen.133 So wird – modern gesprochen – der Reichtum einzelner und die Wohlhabenheit weniger sich in das Genughaben aller verwandeln.

Welch ein Umschwung seit der Zeit, wo die Aöden von dem Edelmanne sangen, daß er »gleich einem Gotte im Volke geehrt ward«!134 Es sind Forderungen, die an die radikalsten Gedanken der Bauernkriege oder vielmehr der modernen agrarsozialistischen Bewegungen erinnern.135 Die Schlagwörter, wie sie z.B. in der Bewegung der Fasci unter den unglücklichen Teilbauern Siziliens hervorgetreten sind: »Wir wollen, daß, wie wir arbeiten, alle arbeiten, daß es keine Reichen und keine Armen geben soll, daß alle Brot für sich und ihre Kinder haben. Wir müssen alle gleich sein,« das ist alles ganz ebenso bereits von den armen Teilpächtern und Landarbeitern des 6. vorchristlichen Jahrhunderts empfunden und ausgesprochen worden. Auch sie wollten, daß »alle in allem gleich« seien.136 Und wenn der sozialdemokratische Parteitag des Jahres 1894 den Satz aufstellte: »Die Agrarfrage als notwendiger Bestandteil der sozialen Frage wird endgültig nur dann gelöst werden, wenn der Grund und Boden mit den Arbeitsmitteln den Produzenten wiedergegeben ist, die heute als Lohnarbeiter oder Kleinbauern im Dienste des Kapitals das Land bestellen,« so ist das nichts anderes, als was die – uns durch Solons Elegie aufbewahrte – sozialistische Formel ebenfalls in Aussicht stellt.137

[160] Nun ist ja allerdings das ökonomische Endziel der ganzen Bewegung nicht eigentlich ein sozialistisches. Sie will ja nicht an die Stelle der kapitalistischen eine sozialistische Organisation, eine Gemeinwirtschaft setzen. Vielmehr sollen die großen Wirtschaftsformen, soweit sich solche bereits herausgebildet hatten, der kapitalistische Eigenbetrieb einerseits und die gleichfalls kapitalistische Wirtschaft mit den von einem Wirtschaftszentrum abhängigen Teilbauern anderseits eine Rückbildung in kleinbürgerlichem oder vielmehr kleinbäuerlichem Sinn erfahren. Die großen Güter sollen zu Bauernstellen zerschlagen und die Teilpächter unabhängige Eigentümer werden. Das Ziel ist also ein ähnliches, wie es einem Babeuf und St. Just138 vorschwebte: eine Wirtschaftsordnung, die zwar auf dem Prinzip der ökonomischen Gleichheit, aber nicht auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, am Grund und Boden beruht, die insoferne also keine sozialistische, sondern eine kleinbürgerliche oder -bäuerliche und individualistische ist. Als das Ideal der ganzen Bewegung erscheint die wirtschaftliche Gleichheit auf dem Boden des Privateigentums.

Die ökonomische Situation der landbauenden Klasse war eben keineswegs eine solche, daß sich daraus mit Notwendigkeit eine sozialistische Zielsetzung, das – auf dem Großbetrieb beruhende – Gemeinschaftsideal, hätte ergeben müssen. Im Gegenteil! wenn man von der – durch die aufblühende Gewebeindustrie begünstigten – Schafzucht absieht, bestand in der agrarischen Entwicklung an und für sich durchaus keine stärkere Tendenz zum großen Betrieb, als zum kleinen. Der schon damals hochentwickelte gartenmäßige Anbau und die Spatenkultur, überhaupt die Vorherrschaft der »individuellen« Kulturen, bei denen der Ertrag nach Qualität und Menge wesentlich mit von der Güte der geleisteten Arbeit abhängt und daher die menschliche Arbeitskraft die[161] Hauptrolle spielt, war dem Kleinbetrieb überaus günstig. Sind doch selbst die großen Besitzungen, soweit es sich um diese Kulturen handelte, offenbar sehr häufig in eine Reihe kleinerer Betriebseinheiten zerlegt geblieben und in der Form des Teilbaues von kleinen Wirten bestellt worden.139 Wenn aber die Vergesellschaftung der Produktion nicht notwendig zu einem höheren, d.h. leistungsfähigeren Wirtschaftssystem führte, vielmehr die kleinbetriebliche Form unter Umständen eine höhere Bedeutung hatte, leistungsfähiger war, als die großbetriebliche, wenn wir selbst heutzutage noch nicht mit Bestimmtheit sagen können, welches die Entwicklungstendenz im Agrarwesen ist, noch auch welche Betriebsform und ob überhaupt eine bestimmte in der agrarischen Produktion die überlegene ist,140 – was hätte da den ohnehin von Natur »antikollektivistischen« Bauern veranlassen sollen, von der seinen innersten Neigungen allein entsprechenden individualistischen Betriebsweise abzugehen?

Ist doch selbst die moderne sozialdemokratische Bewegung in dieser Hinsicht noch keineswegs einhellig über ihre Vorgänger im 6. Jahrhundert v. Chr. hinausgegangen!141 Noch im Jahre 1893 begegnen wir im »Vorwärts« der Erklärung, daß die Vorteile des Großbetriebes in der Landwirtschaft problematisch seien, daß die Kooperation der Arbeiter das Arbeitsprodukt des einzelnen nicht erhöhe und daher der gemeinschaftliche Betrieb nicht im Wesen der Landwirtschaft begründet sei. Demgemäß erscheint es auch dem »Vorwärts« selbstverständlich, daß der Landarbeiter keinen Drang nach sozialistischer Produktionsweise verspürt, sondern ein Stück Land zu individueller Produktion haben will. »Dem Sozialismus des industriellen entspricht der Landhunger des ländlichen Arbeiters, und wenn er die Macht hätte, so würde er nicht eine sozialistische Produktionsweise einführen, sondern die Güter der großen Grundbesitzer teilen«142 – genau so, wie es schon das ländliche Proletariat des alten Hellas erstrebt hat.[162]

Wenn nun aber selbst in der modernen Sozialdemokratie eine »kleinbürgerliche Strömung«143 vorhanden ist, die trotz ihres Sozialismus nicht für die Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Produktion eintritt, und wenn es selbst nach dem Zugeständnis von Engels und anderen Vertretern derselben Richtung noch keineswegs sicher ist, ob die moderne Arbeiterklasse willens sein wird, mit den »kleinbürgerlich-sozialistischen« Anschauungen dieser »Bauernverewiger« aufzuräumen, warum sollten wir da der Bewegung der attischen Feldarbeiter wegen ihrer kleinbürgerlichen Ziele alle kommunistische und sozialistische Tendenz absprechen?

Gibt ihr nicht schon das Verlangen nach Gleichheit der Lebensbedingungen, die Idee der Gleichwertigkeit aller und der daraus geschöpfte Anspruch auf ein bonheur commun in gewissem Sinne eine kommunistische Färbung? Und gleicht nicht auch dieser attische Zukunftsstaat, in welchem jedermann eine Heimstätte und das wichtigste Produktionsmittel für den notwendigen Lebensbedarf zuteil werden soll, einem großen Gasthaus, in dem für jeden ein ausreichendes Gedeck bereitsteht? Ist endlich nicht der Weg, der zum Ziele führen sollte: die Überführung des Grund und Bodens in das gesellschaftliche Eigentum ausgesprochen sozialistisch, wenn dies auch nur als einmaliger Akt gedacht war und der Masse das klare Bewußtsein fehlte, daß man, um die Gleichheit aufrechtzuerhalten, immer wieder von neuem zu einer gesellschaftlichen Regelung der Besitz- und Einkommensverhältnisse gedrängt worden wäre?144

Wenn wir – aus eben diesen Gründen – schon das Programm der spartanischen Bodenreformer als ein sozialistisches bezeichnen mußten, wie viel mehr noch ist dies der Fall bei dem der attischen Landarbeiter![163] In Sparta haben selbst die extremsten Sozialrevolutionäre aus der Bürgerschaft das kapitalistische Wirtschaftssystem, soweit es sich um das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit handelte, nicht angetastet. Die wirtschaftliche Existenz der herrschenden Klasse sollte ja gerade nach der Ansicht der Vertreter des Lykurgideals recht eigentlich auf dem arbeitslosen Renteneinkommen beruhen, das sie von der arbeitenden Klasse bezog. Nur dieses Renten einkommen wollten sie gesellschaftlich reguliert wissen. In Attika dagegen handelt es sich gerade recht eigentlich um einen Kampf gegen das kapitalistische System als solches und gegen den müßigen Rentengenuß, um eine gerechtere Verteilung des Arbeitsertrages, um die Begründung eines auch das arbeitende Volk145 mitumfassenden Reiches der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.146 Und sollte der Glaube an die Möglichkeit einer so radikalen Ausgleichung der sozialen Gegensätze nicht allein schon genügen, um den attischen Revolutionär dieser Zeit als Sozialisten zu bezeichnen?

Wie ernstlich durch diese agrarrevolutionäre Bewegung der ganze Bestand der Gesellschaft bedroht war,147 zeigt die Übertragung der Diktatur auf den Mann, der den Beruf in sich fühlte, »Gewalt und Recht verbindend«148 die soziale Krisis zu lösen, sowie die enormen Opfer, welche Solons Reformwerk, die sog. »Abwälzung der Lasten«, der besitzenden Klasse auferlegte: die Aufhebung aller Leibeigenschaft, der Rückkauf der in die Fremde verkauften Schuldner aus öffentlichen Mitteln, die radikale Kassierung aller hypothekarischen und auf Verpfändung der Person beruhenden Schulden;149 eine Reform, die nach der Ansicht des Aristoteles vielfach geradezu die Verarmung der Gläubiger zur Folge hatte150 und die man nicht mit Unrecht in gewissem Sinne eine Neuverteilung des Eigentums genannt hat.

Und damit ist nicht einmal alles erschöpft, was Solon für die unteren Klassen getan hat! Wir wissen z.B., daß seine Gesetzgebung sich auch mit der Lage der armen Teilbauern beschäftigte;151 und es kann[164] nicht zweifelhaft sein, daß ihnen die solonische Sozialreform mancherlei besondere Erleichterungen gebracht hat.152 Von welcher Tragweite ist endlich das prinzipielle Zugeständnis, welches der Gesetzgeber der antikapitalistischen Zeitströmung machte: die Aufstellung eines Maximums für den Erwerb von Grund und Boden!153

Wenn auch Solon, wie er selbst sich ausdrückt, mit gutem Grund nicht alles das erfüllte, was in der bitteren Not das Volk von ihm begehrte,154 wenn der kommunistisch-sozialistische Schlachtruf gegen die Ungleichheit des Eigentums keinen Widerhall bei ihm fand und die sozialdemokratische Anschauung, daß die aristokratisch-plutokratische Verteilungsordnung einer rein demokratischen Platz machen müsse, von seiner Seite eine entschiedene Zurückweisung erfuhr, so zeigt doch diese Beschränkung des »Anhäufungsrechtes« deutlich, wie sehr Solon den gesunden Grundgedanken der Bewegung zu würdigen wußte, den Gedanken, daß die Staatsgewalt für eine stärkere Demokratisierung der Volkswirtschaft, für die soziale Reform im Sinne einer gleichmäßigeren Verteilung des Volkseinkommens eintreten müsse. » Volkswirtschaft oder Unternehmerwirtschaft?« Das war hier die Frage! Und Solon hat sich ihr nicht entzogen. Was dem entfesselten Privatkapitalismus als Wirtschaftssystem recht eigentlich sein Gepräge gibt: die Tendenz zu möglichst intensiver – jede Rücksicht auf das allgemeine Interesse der Volkswirtschaft und Gesellschaft beiseite setzender – Vermögensbildung, fand durch seine Reform eine grundsätzliche Schranke an dem Interesse der staatlichen Gemeinschaft, mit dem ein unbegrenztes Wachstum von Einkommen und Vermögen in den Händen weniger unvereinbar[165] ist. Es war ein Triumph sozialer Gesinnung und staatlichen Pflichtbewußtseins, des Mitgefühles für die Armen und Schwachen155 über den einseitig kapitalistischen, seinem innersten Wesen nach unstaatlichen Individualismus. Ein hochbedeutsamer Fortschritt zur sozialen Gestaltung des Privatrechtes und in so ferne ein κτῆμα ἐς ἀεί, mag man auch über die Maßregel an sich und ihren Erfolg noch so verschiedener Meinung sein.156

Nichts könnte auf die Mächtigkeit und Gefährlichkeit der damaligen sozialrevolutionären Bewegung ein helleres Licht werfen, als die Energie, mit der hier die Staatsgewalt im Interesse des sozialen Friedens an das Verteilungsproblem herantrat und den Kampf gegen das Joch eines staatsfeindlichen Kapitalismus ihrerseits aufnahm. Zugleich ist es ein Beweis für die Ausdehnung jener Bewegung, daß man sich nicht bloß in Attika, sondern, wie unser Gewährsmann hinzufügt,157 auch in anderen Staaten zu ähnlichen staatssozialistischen Maßregeln gedrängt sah und die Vermögensanhäufung ebenfalls durch gesetzliche Verbote zu beschränken suchte.158

Wie bedeutsam ist es endlich, daß selbst diese tiefeingreifenden Reformen der sozialen Gärung nicht völlig Herr zu werden vermochten! Wenn trotz der solonischen Lastenabschüttelung ein Teil der attischen Bevölkerung in proletarische Zustände versunken blieb159 und nur noch[166] von dem gewaltsamen Umsturz, von der Diktatur eine Besserung seiner Lage erwartete, so ist auch dies wieder ein Beweis dafür, wie intensiv schon hier die Kehrseite der Plutokratie, das Elend als sozialer Klassenzustand, der Pauperismus sich fühlbar gemacht hat, und welch einen wesentlichen Anteil an der sozialen Bewegung der Zeit trotz der kleinbürgerlichen Ziele das proletarische Element gehabt hat.160 Und daß dies nicht bloß für Attika gilt, zeigt eine Erscheinung, die so häufig das letzte Ergebnis des Klassenkampfes gewesen ist, nämlich das Emporkommen der Gewaltherrschaft oder Tyrannis, die ja nach Aristoteles in der Regel auf ein massenpsychologisches Entstehungsmotiv, auf den »Haß gegen die Reichen«,161 zurückzuführen ist. Anderseits wird man wohl annehmen dürfen, daß der Umschlag der neuen staatsbürgerlichen Freiheit in den Cäsarismus nicht so oft erfolgt wäre, wenn nicht die Furcht vor dem Gespenst der sozialen Revolution auch die Besitzenden vielfach mit der Tyrannis ausgesöhnt hätte.

Wenn es aber der Tyrannis gelungen ist, den Sieg der sozialen Revolution zu verhüten, den extremsten agrarsozialistischen Forderungen die Spitze abzubrechen, so ist dies gewiß nicht ohne weitgehende Konzessionen an die radikalen Elemente möglich gewesen, denen die Tyrannis selbst in der Regel ihr Emporkommen verdankte.

An eine allgemeine Verstaatlichung und systematische Neuaufteilung des Grund und Bodens konnte ja allerdings auch die neue Monarchie kaum denken. Mit ihrer auf die Befriedigung der großen Mehrheit des Volkes berechneten Politik hätte es sich schlecht vertragen, wenn sie sich zum Organ einseitig kleinbäuerlicher und proletarischer Ideale gemacht hätte. Und noch weniger wäre ein solcher bäuerlicher Radikalismus vereinbar gewesen mit den materiellen und ideellen Kulturbestrebungen[167] der Tyrannis, mit ihrer umfassenden Fürsorge für die industrielle und kommerzielle Entwicklung, mit ihrer großartigen Pflege der Kunst, besonders der Baukunst, alles Dinge, für welche in dem Zukunftsstaat der extrem-agrarischen Volkspartei schwerlich ein Platz war.

Aber die Tyrannis hatte doch vielfach die Mittel, wenigstens einen Teil des radikalen Programms zu verwirklichen. Man mag die Fähigkeit des Staates zur Leitung der im sozialen Leben wirksamen Kräfte noch so niedrig veranschlagen, so viel steht fest, daß die Macht des Staates gerade auf agrarischem Gebiete eine große ist. Und diese Macht war ja eben damals durch das Emporkommen der neuen Monarchie wesentlich gesteigert. Von ihren Gegnern – den Vertretern des aristokratischen Grundbesitzes – waren die einen im Kampfe gefallen, andere hatten sich aus dem Lande geflüchtet oder waren ins Exil getrieben worden. Umfangreiche, der Konfiskation verfallene Ländereien standen der Staatsgewalt zur Verfügung. Sie hatte die Möglichkeit, zahlreiche Teilpächter zu freien Eigentümern zu machen oder durch Aufteilung großer Güter neue Bauernstellen zu schaffen. Es ist undenkbar, daß die Tyrannis, die doch sonst als eine eifrige Förderin des Bauernstandes bekannt ist, diese Möglichkeit nicht ausgenützt haben sollte, dem Lande den sozialen Frieden zu geben,162 zumal eine solche Änderung in der Güterverteilung zugleich die Macht des der Tyrannis feindlichsten Standes in hohem Grade schwächen mußte. Und es hat daher alle Wahrscheinlichkeit für sich, wenn von Peisistratos berichtet wird, daß er den Armen Vorschüsse gemacht habe, um ihnen den selbständigen Betrieb einer bäuerlichen Wirtschaft zu ermöglichen.163 Das erste bekannte Beispiel für die Verwirklichung der Idee, daß dem Streben der besitzlosen Masse, durch die Arbeit zu einem gewissen Maß eigenen Besitzes zu gelangen, die Staatsgewalt fördernd zur Seite zu stehen hat, daß sie mit ihren ökonomischen Machtmitteln dem entgegenzuwirken hat, was den agrarischen Sozialismus der Zeit erzeugt hatte: der hoffnungslosen Trennung der Arbeit vom Besitz.[168]

Wir werden nach alledem annehmen dürfen, daß es den großen gesetzgeberischen Aktionen und der monarchischen Reformpolitik dieser Zeit gelungen ist, jene sozialistische Bewegung nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich zu überwinden, indem der bis dahin auf agrarischem Gebiete so übermächtig durchgreifende soziale Differenzierungsprozeß wieder einer größeren Ausgleichung Platz machte, die auf Unrecht und Gewalt zurückgehende Ungleichheit von Besitz und Einkommen möglichst beseitigt, durch verbesserte soziale Institutionen eine gerechtere Einkommensverteilung herbeigeführt wurde.164 Wie wäre auch sonst die so wesentlich auf der Kraft eines blühenden ländlichen Mittelstandes beruhende Demokratie des nächsten Jahrhunderts, das unaufhaltsame politische Aufsteigen der unteren Volksklassen, sowie die siegreiche – vor allem der Stärke bäuerlicher Hoplitenheere zu verdankende – Abwehr des Orients möglich gewesen?

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 155-169.
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