Aus den Vorreden der ersten Auflage

Eine Geschichte des antiken Sozialismus ist noch nicht geschrieben. Die junge Wissenschaft der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat sich aus naheliegenden Gründen überwiegend dem Mittelalter und der Neuzeit zugewendet, während die Altertumskunde trotz trefflicher Einzelarbeiten den Fortschritten der modernen Staats- und Sozialwirtschaft noch lange nicht genügend gefolgt ist, obwohl wir in Deutschland nach dem epochemachenden Vorgang von Stein und Gneist längst gelernt haben, die Geschichte des Staates und seiner Verfassung auf der Geschichte der Gesellschaft aufzubauen.1

Allerdings sind die Schwierigkeiten derartiger Arbeiten außerordentlich groß! Einerseits wird schon die rein philologisch-historische Behandlung durch die Beschaffenheit der antiken Überlieferung in hohem Grade erschwert, anderseits sieht sich hier der Forscher ununterbrochen genötigt, in Gebiete überzugreifen, die er unmöglich alle beherrschen kann. Eine allseitige Würdigung sozialgeschichtlicher Erscheinungen ist nicht möglich ohne eine systematische Verwertung der Ergebnisse der verschiedenartigsten Wissenszweige: der Psychologie, der Ethik und Rechtsphilosophie, der Rechts- und Staatswissenschaften, der Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft, der allgemeinen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte usw. Dazu kommt, daß diese Ergebnisse vielfach höchst schwankend, unsicher und widerspruchsvoll sind, daß häufig nicht einmal über die wissenschaftliche Terminologie eine gewisse Einigung erzielt ist. Gerade die Sozialwissenschaft stellt auf dogmengeschichtlichem Gebiete ein Chaos dar!2

[5] Allein so groß das Wagnis ist, das der Historiker auf sich nimmt, wenn er unter solchen Verhältnissen an eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialgeschichte herantritt, umgehen läßt sich dieselbe auf die Dauer von der Altertumswissenschaft nicht. Wenn sich das, was Lassalle im Hinblick auf eine Rede Böckhs gesagt hat, bewahrheiten und »die antike Bildung die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes bleiben« soll,3 dann muß auch eine Darstellung des antiken Lebens erreicht werden, die – um mit Nitzsch zu reden – die alte Welt von denselben Lebensfragen bis zum Grunde bewegt zeigt, welche noch heute zum Teil ungelöst jeden ehrlichen Mann beschäftigen.4

Die traditionelle Zunftbetrachtung, die die großen sozialen Kulturfragen mehr oder minder ignorieren zu können glaubt, weil dabei, wie ein Philologe von des Verfassers Buch über die antiken Großstädte gemeint hat, das »philologische Interesse zurücktrete« (!), setzt selbst den Wert herab, welchen die Antike gerade für die Gegenwart gewinnen könnte.5 Denn wenn wir nicht imstande sind, unsere Wissenschaft von der Antike zugleich als eine Wissenschaft vom antiken Volkstum in all seinen Lebensäußerungen auszubauen, werden wir nimmermehr dazu gelangen, die antike Welt uns und anderen wirklich lebendig zu machen.

Und wie viel ist hier für die Erkenntnis antiken Lebens noch zu tun! Wo hätten wir z.B. eine wirklich genügende kritische Analyse und sozialpolitische Würdigung der platonisch-aristotelischen Staats- und Gesellschaftstheorie oder eine historisch-genetische Darstellung der sozialen Demokratie von Hellas und Rom und der Revolutionierung der antiken Gesellschaft durch die soziale Frage? Ein Phänomen, das in der republikanischen Epoche der antiken Kulturmenschheit die Phantasie der Menschen, wie die praktische Politik mehr als ein halbes Jahrtausend hindurch beschäftigt hat und den weltfremden Doktrinarismus, der in der sozialen Demokratie, diesem ungeheuren Instrument der Zersetzung und Zerstörung, nur eine »vorübergehende« Erscheinung zu sehen vermag, gründlich ad absurdum führt.[6] Wer hier von den richtigen Gesichtspunkten aus und mit der richtigen Fragestellung an die Quellen herantritt, wird selbst da, wo kaum eine Nachlese möglich schien, überraschende Resultate gewinnen, wahre Entdeckerfreude erleben können.

1893 und 1901.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. V5-VII7.
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