Drittes Kapitel

Die soziale Bewegung im Lichte herrschender Parteianschauungen

Im umgekehrten Verhältnis zu der sozialgeschichtlichen Bedeutsamkeit der geschilderten Zustände steht der Wert der Überlieferung über die Rückwirkung dieser Zustände auf die Geschichte und das Ideenleben des Volkes.

Gerade in bezug auf die Geschichte des sozialen Gedankens ist die Tradition für Rom noch ungleich dürftiger als für Hellas.

Welch ein Gegensatz zu Athen zeigt sich allein darin, daß den Römern eine wahrhaft politische Komödie fehlte! Was die Demokratie von Athen nur auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung ertrug, war von vorneherein unmöglich in der aristokratischen Republik, wo die Polizei[348] von einem oligarchischen Cliquenregiment abhing und Schauspieler und Dichter überwiegend auf die Gunst der Optimaten angewiesen waren. Ein selbständiger Geist wie Nävius, der es wagte, die Bühne zu einer Stätte der freien Kritik zu machen, büßte seine Kühnheit mit dem Exil. »Leid drohen die Meteller Nävius dem Dichter«, das konnte sich jeder gesagt sein lassen, der etwa den Versuch des Nävius erneuern wollte. Ein Aristophanes war auf diesem Boden undenkbar! Gewiß haben auch in Rom Tausende von armen Teufeln über den »Unsinn« und die »Verrücktheit« der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung reflektiert, gewiß hat sich auch die Phantasie römischer Proletarier an einem kommunistischen Paradies berauscht, aber auf der Bühne ist dies revolutionäre Kritik der Gesellschaft schwerlich recht zum Wort gekommen.

Für das römische Lustspiel war eben von Anfang an nicht die politische Komödie des Athens des 5. Jahrhunderts, sondern das harmlosere Sittenstück Menanders und seiner Genossen Muster und Vorbild. Es bleibt sogar lange Zeit ein Spiel aus der Fremde, das nicht einmal den Schauplatz seiner Geschichte nach Rom zu verlegen wagt. Und wenn man dann später auch von der fabula palliata, vom Drama im Griechenkostüm zur Schöpfung eines nationalen Lustspiels fortschritt, so scheint doch auch hier der Schauplatz meist außerhalb Roms, in den kleinen Landstädten gewesen zu sein, und die Haltung gegenüber der Tagespolitik ist offenbar auch jetzt noch im allgemeinen eine recht zurückhaltende geblieben. Zwar meint Cicero einmal, daß trotz der großen Mannigfaltigkeit von Sentenzen im römischen Lustspiel niemals eine als Anspielung auf die Zeitverhältnisse verwertbare Stelle vorkam, die dem Volke entgangen oder nicht vom Schauspieler selbst hervorgehoben worden wäre.1 Allein wir sehen gerade aus dieser Bemerkung, daß die Kritik des Dichters meist eine mehr indirekte, die Nutzanwendung auf die Tagesinteressen wesentlich Sache des Hörers war. Daß eine öffentliche Persönlichkeit, die im Theater anwesend war, »nicht einmal von den Schauspielern verschont wurde«, erscheint in demselben Zusammenhang als etwas ganz Außergewöhnliches und Demütigendes.

Immerhin würde diese Komödie, die als fabula tabernaria meist in der bescheidenen Behausung von kleinen Leuten, unter Handwerkern, Krämern usw. spielte, manche wertvollen Einblicke in das Denken und Empfinden des Volkes gewähren. Aber gerade hier, wo unser Interesse[349] beginnt, versagt die Überlieferung völlig. Aus den kümmerlichen Überresten der togata ist für uns nichts zu entnehmen.

Dieser Zustand der dramatischen Dichtung und ihrer Überlieferung schafft eine Lücke, welche der Geschichtschreiber der Gesellschaft um so schmerzlicher empfindet, als ihn auch sonst die Tradition fast völlig im Stiche läßt. Die vernichtende Katastrophe, welche die originalen zeitgeschichtlichen Quellen für die Erkenntnis der letzten Jahrhunderte der Republik bis auf die Zeit Ciceros und Cäsars getroffen hat, macht eine wirkliche Geschichte der sozialen Bewegung unmöglich. Fast alles, was auf die inneren Triebkräfte und den Ideengehalt dieser Bewegung ein Licht werfen könnte, ist ja für uns verloren. Die ganze offenbar massenhafte Literatur von Monographien und zeitgenössischen Geschichtswerken, von Denkwürdigkeiten, Autobiographien und Pamphleten, von Volks-, Senats- und Gerichtsreden, die öffentlichen Akten, wie z.B. die Senatsprotokolle, alles ist außer dürftigen Bruchstücken zugrunde gegangen. Die uns noch vorliegende spätere Literatur aber, die aus den verlorenen Quellen geschöpft hat, ist in sozialgeschichtlicher Hinsicht von unglaublicher Dürftigkeit.

Entweder haben wir es mit eleganten Effektbildern der Schulrhetorik zu tun, wie bei den plutarchischen Biographien, oder mit hohlen Deklamationen und Raisonnements der Schulphilosophie, einer Geschichtsauffassung, die auch nicht entfernt an eine historische Erforschung und Analyse der sozialpsychischen Faktoren dachte und sich mit nichtssagenden moralisierenden Betrachtungen über Sittenverfall u. dgl. begnügte, um die Genesis großer sozialer Kämpfe zu erklären. Und wer wollte auch von diesen Literaten der Kaiserzeit, von einem Plutarch, Appian und Cassius Dio, denen das innere Leben der Republik schon in nebelhafter Ferne lag, etwas anderes erwarten! Dazu kommt, daß in dieser ganzen Geschichtschreibung alles Interesse sich auf das biographische, das politische und militärische Interesse konzentriert, das wichtigste sozialgeschichtliche Tatsachenmaterial einfach beiseite gelassen wird. Sogar ein Werk, wie das Appians, welches das Revolutionszeitalter von den Gracchen bis auf Cäsar zum Gegenstand einer monographischen Darstellung macht, bietet fast ausschließlich Kriegsgeschichte. Die einzige wirtschafts- und sozialgeschichtliche Erörterung von Belang, die sich bei ihm findet, die berühmten, die Geschichte der Gracchen einleitenden wertvollen Bemerkungen über den ager publicus, sind nicht sein Eigentum, sondern stammen aus der verlorenen Quelle,[350] die er hier ausgeschrieben hat. Der kaiserliche Advokat schreibt eben auch nur als Rhetor, dem die Probleme historischer Forschung fremd sind. Von sozialhistorischem Verständnis und Interesse vollends ist bei diesem Geschichtschreiber der Bürgerkriege keine Rede. Wie bezeichnend ist allein seine Verhöhnung der armen Schlucker, die »ins Dunkel des Privatlebens gebannt, weil sie nichts Besseres zu tun haben und einen Trost für ihre Armut brauchen, auf die Philosophie sich werfen und auf die Reichen und die Leute in Amt und Würden schmähen, aber damit nicht sowohl ihrer angeblichen Mißachtung von Reichtum und Macht Ausdruck geben, sondern dem puren Neid«!2 Was hätte so viel Engherzigkeit und hochmütige Beschränktheit für die Geschichte der sozialen Ideen leisten können!

Besser scheint es mit den letzten Jahrzehnten der Republik zu stehen. Für sie besitzen wir originale Werke der Demokraten Cäsar und Sallust und die zahlreichen Schriften und Korrespondenzen eines Augenzeugen und Mithandelnden wie Cicero. Eine Literatur, die uns einen Einblick in das Detail der geschichtlichen Vorgänge gestattet wie für keinen andern Zeitraum der alten Geschichte. Allein welch eine Enttäuschung erleben wir auch hier, wenn wir die Überlieferung auf ihren sozialgeschichtlichen Gehalt hin prüfen!

Cäsars Denkwürdigkeiten über den Bürgerkrieg beschränken sich absichtlich auf das politisch-militärische Gebiet. Die soziale Frage wird nur gelegentlich gestreift und auch da nur, um die sozialrevolutionären Anhängsel der Volkspartei zu desavouieren und sich gegen Demagogen wie Caelius Rufus auszusprechen, der im Jahre 48 – obwohl damals noch ein Anhänger Cäsars – in ausgesprochenem Gegensatz zu dem von diesem veranlaßten gemäßigten Schuldgesetz den – allerdings vergeblichen – Versuch machte, durch das Volk alle Forderungen aus Darlehen überhaupt und noch dazu die laufenden Hausmieten auf ein Jahr kassieren zu lassen!3 Dagegen erfahren wir aus diesen allerdings unvollendet gebliebenen Memoiren kein Wort davon, daß schon im nächsten Jahre (47) ein anderer Cäsarianer, der Volkstribun Dolabella, durch eine Straßenemeute, durch Mord und Brand ein ähnliches Gesetz über den Erlaß der Hausmieten und Schulden[351] zu erzwingen suchte,4 eine revolutionäre Bewegung, die sogar die vestalischen Jungfrauen zur Flucht veranlaßte und den cäsarianischen Senat nötigte, das Vaterland in Gefahr zu erklären! Freilich hat Dolabella nicht, wie Rufus, der nach seinem Mißerfolg in Rom zu dem verzweifelten Mittel einer Sklavenempörung griff, der cäsarianischen Sache den Rücken gekehrt, sondern ist später von Cäsar trotz seiner Vergangenheit wieder zu Gnaden angenommen worden!

Überhaupt ist die Stellung Cäsars zu den hier in Betracht kommenden Fragen eine recht unsichere. Während er sich in seinen Memoiren rühmt, mit seinem Schuldgesetz das Möglichste zur Aufrechterhaltung des Kredits getan zu haben und eine Charakteristik dieses Gesetzes gibt, die es viel weniger radikal erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit war,5 hat er selber kein Bedenken getragen, nach dem Triumph seiner Sache auf die sozialistischen Willkürakte jener sozialen Demagogie zurückzugreifen und zugunsten der ärmeren Mietsbevölkerung wie zum Schrecken der Hausbesitzer einen einjährigen Erlaß aller kleinen Mieten bis zum Betrage von 2000 Sesterzen (435 Mark) zu dekretieren!6 Ein Gewaltakt, der uns nur durch ein paar kurze Notizen bei Sueton und Cassius Dio bekannt ist, während wir über die Verhältnisse und die Motive, die zu demselben geführt haben, gar nichts Genaueres erfahren. Und doch wäre es für die geschichtliche Würdigung derartiger Akte der sozialpolitischen Gesetzgebung von höchstem Wert, einen wenn auch tendenziösen Bericht des Gesetzgebers selbst zu besitzen!

Freilich hatte Cäsar, der es als sein Ziel proklamierte, auch in wirtschaftlicher Hinsicht der zerrütteten Gesellschaft den ersehnten Frieden zu bringen und sie von der lähmenden Furcht vor der Kassation der Schuldbücher, »der ständigen Begleiterscheinung von Krieg und Brüderzwist«, zu befreien, das allergrößte Interesse daran, die Konzessionen, die er nun einmal den Radikalen der Partei hatte machen müssen, möglichst in Vergessenheit geraten zu lassen.

Die offenkundigen oder geheimen Beziehungen zu den Männern des Umsturzes, welche die Gegner weidlich ausschlachteten, waren für den Retter der Gesellschaft eine höchst unbequeme Erinnerung. Und der »Catilina« seines Parteigenossen Sallust ist ja unverkennbar mit zu dem[352] Zwecke geschrieben, diesen Anklagen gegen die cäsarische Politik den Boden zu entziehen. Daher ist auch diese Schrift, die einzige historische, die wir über die Bewegung von einem Zeitgenossen besitzen, ein tendenziöses Parteipamphlet, von dem wir eine objektive Darstellung der sozialen Zeitgeschichte nicht erwarten dürfen.

Für Sallust sind die Träger der catilinarischen Bewegung samt und sonders ein verbrecherisches Gesindel, mit dessen Umsturzplänen die Sache eines Patrioten wie Cäsar nichts zu tun hat. Die Geschichte der Verschwörung erscheint hier unter einem rein moralischen und strafrechtlichen Gesichtspunkt. Statt uns durch eine eingehende Analyse der sozialen und ökonomischen Struktur der Gesellschaft die Genesis der Umsturzbewegung verständlich zu machen, speist uns Sallust mit allgemeinen moralisierenden Betrachtungen ab, die eine Art Sittengeschichte Roms von Äneas bis Cäsar enthalten und zu einer sozialgeschichtlichen Kausalerklärung auch nicht im entferntesten ausreichen.

Die Tatsache, daß bei den Angriffen auf die bestehende Ordnung regelmäßig Angehörige der herrschenden Klasse selbst als Führer erscheinen, wird einzig und allein darauf zurückgeführt, daß diese Klasse, in maßlosen Luxus, in zügellose Schwelgerei und Ausschweifung versunken, ihre jungen Leute selbst auf die Bahn des Verbrechens trieb, wenn sie der ökonomischen Zerrüttung verfielen. Eine Rotte adeliger Taugenichtse ist es, die sich gegen die Gesellschaft auflehnt, weil sie, »einmal an das Lotterleben gewöhnt, dem Genuß nicht zu entsagen vermögen«.7 Und was sich an solche Deklassierte anschließt, ist nichts als Laster und Verbrechen in allen denkbaren Gestalten. »Wüstlinge, Ehebrecher, Schlemmer, die durch Spiel, Unzucht und Völlerei ihr Vermögen vergeudet, Leute, die sich in Schulden gestürzt haben, um die schlimmen Folgen verbrecherischer Taten abzukaufen, Mörder, Tempelschänder u.a., die vor Gericht schon überwiesen waren oder noch der gerichtlichen Verfolgung entgegensahen, dazu alle die, welche Faust und Zunge durch Bürgerblut und Meineid nährte, kurz alle, die unter dem beängstigenden Druck begangener Verbrechen, der Armut und des Gewissens standen,« – das war die geborene Leibgarde eines Demagogen von dem Schlage Catilinas.8 Er selbst wird als vollendetes Scheusal geschildert. Kein Verbrechen ist so furchtbar, das ihm sein Geschichtschreiber nicht zutraut. »Sein unreiner Sinn, mit Gott und Welt zerfallen,[353] konnte weder bei Nacht, noch bei Tage mehr Ruhe finden.« Einen so aufregenden, zerstörenden Einfluß übte auf seinen Geist das böse Gewissen. – »Auch sein ganzes Äußere trug das Gepräge seiner inneren Zerrüttung.«

Daß Verbrechen und Leidenschaft an dem Unternehmen Catilinas ihren reichlichen Anteil hatten, daß alle die geschilderten Elemente in der Bewegung vertreten waren, wird man Sallust ohne weiteres zugeben. Wie aber ein Teil der Catilina zugeschriebenen Greuel ohne Zweifel Erfindung und ein Produkt des unversöhnlichen Hasses ist, mit dem ihn die Partei des Besitzes begreiflicherweise verfolgte, so wird man doch wohl bezweifeln dürfen, ob sein Anhang so ausschließlich der Welt des Verbrechens und der schlimmsten sittlichen Verkommenheit angehörte, wie dies Sallust behauptet. Mit dieser Auffassung steht schon der Umstand in Widerspruch, daß – wie Sallust selbst später zugibt – die sozialrevolutionäre »Krankheit damals pestartig einen sehr großen Teil der Bürgerschaft überhaupt ergriffen hatte«,9 daß das ganze niedere Volk, die ganze »Plebs« überhaupt den Umsturz gewünscht und mit dem Unternehmen Catilinas sympathisiert habe.10 Eine Sympathie, die – wie noch in späteren Jahren die Schmückung seines Grabes mit Blumen und Kränzen bewies – den Tod des Mannes lange überdauert hat.

Freilich wird nun auch das Verhalten dieser nach Hunderttausenden zählenden Volksklasse fast ausschließlich von moralischen Gesichtspunkten aus beurteilt, ihre Auflehnung gegen das Bestehende ganz einseitig auf die Niedrigkeit ihres sittlichen Niveaus, auf Neid, Mißgunst und Unzufriedenheit zurückgeführt.11 Ein Gesichtspunkt, der ja etwas Richtiges in sich schließt, aber eben doch nur eine Seite der Frage berücksichtigt.

Da ist vor allem das in Rom zusammengeströmte Gaunergesindel, das die Stadt »zu einem wahren Pfuhl des Verbrechens« gemacht hat;12[354] Leute, die »überall durch Sittenlosigkeit und Frechheit es allen zuvortaten, desgleichen andere, die sich auf schmachvolle Weise an den Bettelstab gebracht, kurz alle, denen eine Schandtat oder ein Verbrechen das Verbleiben in der Heimat unmöglich gemacht hatte«. Dabei wird der aufreizenden Erinnerungen an die Zeit Sullas gedacht mit ihren massenhaften Konfiskationen und Landaufteilungen an die Armee. »Da sah man einen, den man als gemeinen Soldaten gekannt, einen Sitz im Senate einnehmen, einen andern so reich, daß er auf fürstlichem Fuße lebte. Kam es nun zum Bürgerkrieg, so dachte ein jeder den Sieg auf ähnliche Art zu benützen.« – Endlich erscheint als Anhängerschaft des Umsturzes das schon früher erwähnte arbeitslos herumlungernde Proletariat, das die Anziehungskraft der Hauptstadt vom Lande nach Rom gelockt hatte. »Sie und alle andern fanden ihre Rechnung beim Unglück des Staates.« Kurz, es sind Leute, die »ohne Eigentum, sittlich verkommen, voll ausschweifender Erwartungen betreffs der Zukunft den Bestand des Staates ebenso leichtfertig aufs Spiel setzten wie die eigene Existenz«.13

Als geheime Mitwisser und Förderer der Bewegung erscheinen endlich Leute von der Nobilität selbst, die keiner der genannten Kategorien der Armut, der Verschuldung und des Verbrechens angehörten, sondern nur durch die Unzufriedenheit mit dem herrschenden Regiment bestimmt wurden und von einer Beseitigung desselben freies Feld für, ihren Tatendrang und ihren Ehrgeiz erhofften. Überhaupt erscheint ein großer Teil der aristokratischen Jugend, wie der Jugend überhaupt, catilinarisch gesinnt, wofür Sallust ein Motiv überhaupt nicht anzugeben weiß! Er begnügt sich, der Verwunderung Ausdruck zu geben, daß Leute, die in aller Ruhe ein glänzendes oder wenigstens behagliches Leben führen konnten, das Ungewisse dem Gewissen, den Krieg dem Frieden vorzogen.14

Als das einzige Element, dessen revolutionäre Sympathien einigermaßen berechtigt erschienen, werden die Angehörigen der von Sulla Geächteten genannt, die von einem Umschwung der Dinge den Wiedergewinn ihrer geraubten Habe und ihrer bürgerlichen Rechte erhofften, sowie die durch die sullanischen Landaufteilungen um all ihr Hab und[355] Gut gekommene Bevölkerung eines Teiles Etruriens, die in ihrem Elend und ihrer Erbitterung über das erlittene Unrecht ebenfalls eine Umwälzung herbeisehnte.15 Aber was bedeutet dieses Element im Verhältnis zu der Gesamtheit der nach Sallust am Umsturz beteiligten oder mit ihm sympathisierenden Massen? Es bleiben nach dieser Schilderung immer noch Hunderttausende, die weiter nichts als Neid und Begierde antreibt, wie eine einzige große Räuberschar über die Gesellschaft herzufallen.

Daß an der revolutionären Gärung in diesen Massen alle die bösen Instinkte und die Einflüsse der gefährlichen Elemente beteiligt waren, die Sallust nennt, ist ja ohne weiteres klar. Aber ebenso klar ist es, daß der Versuch, diese tiefgehende und allgemeine Bewegung auf das Niveau einer kriminalgeschichtlichen Episode herabzudrücken, der Wirklichkeit nicht entfernt gerecht wird. Es bleibt bei diesem Tendenzgemälde völlig unbeachtet, daß die oligarchisch-plutokratische Klassenherrschaft, die Sallust selbst als eine »unerträgliche« bezeichnet, und der Klassenhochmut, der »die Armut als Schande ansah«,16 in den Kreisen der Armut und des Elends ganz naturgemäß eine Reaktion hervorrufen mußte, die an sich einer gewissen Berechtigung nicht entbehrte. Und wenn nun diese Armen und Elenden bei der völligen Unfähigkeit der herrschenden Klasse zu sozialreformatorischen Taten nichts mehr von Reformen, sondern alles nur noch von der Revolution erwarteten, kann man sie deshalb ohne weiteres in ihrer Gesamtheit mit der vaterlandslosen Rotte von Verbrechern identifizieren, welche die Früchte der Revolution für sich einzuheimsen gedachten?

Überaus bezeichnend für den ungeschichtlichen Standpunkt Sallusts ist die Reflexion, mit der er seine psychologische Analyse des »verblendeten« Geisteszustandes17 des Volkes einleitet: »Während vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne alles überwunden dem römischen Staate zu Füßen lag und während man sich in Rom selbst der Ruhe und Reichtums in Fülle erfreute – beides Güter, die der Mensch doch sonst als die höchsten achtet – fanden sich Bürger, die mit verstocktem Sinn darauf ausgingen, sich und den Staat ins Verderben zu stürzen.«18 Der Satz erinnert lebhaft an die Argumentation jener manchesterlichen[356] political economy, die sich an den ungeheuren Fortschritten des Reichtums und dem Glanze der Kultur berauscht und es gar nicht zu begreifen vermag, daß der Arme, der von dieser Fülle blutwenig abbekommt, so »verstockt«19 sein kann, hier nicht alles in schönster Ordnung zu finden oder gar die »Ruhe«, deren das Kapital zu seinem Wachstum bedarf, zu stören!

Als ob die Armen, die das Elend »unter die Dachziegel« verschlagen »wo die Tauben nisteten«,20 die beklagenswerten Insassen der übervölkerten Mietskasernen Roms mit ihren finsteren und engen Behausungen, Anlaß gehabt hätten, sich an dem strahlenden Glanz der Reichtümer zu sonnen, die sich vor ihren Augen in den Palästen der weltgebietenden Amts- und Geldaristokratie häuften! Als ob sie sich mit den Brosamen, die für sie gelegentlich abfielen, einfach hätten bescheiden und die Frage nach der volksverderberischen Wirksamkeit dieser Konzentration des Reichtums, nach der Möglichkeit einer besseren Verteilung gar nicht hätten aufwerfen sollen, während doch die schamlose und frivole Verschwendung, das schnöde Spiel, das hier mit dem Reichtum getrieben ward, die Kritik auch dem Blödesten förmlich aufdrängte!21

Sallust hat selbst unbewußt eine Kritik seiner Auffassung gegeben in den Worten, die er dem Cato in einer Senatsrede in den Mund legt. »In diesem Augenblick handelt es sich nicht um die Beschaffenheit unserer sittlichen Zustände, nicht um die Größe und den Glanz der Herrschaft römischer Nation, sondern ob das, was wir haben – wie man sonst darüber denken mag – unser Eigentum bleiben oder samt uns den Feinden gehören soll.«22

[357] Das war in der Tat das ausschlaggebende Moment: der Kampf um das Eigentum! Und diese Situation stellte Probleme, über die man mit einseitigen moralisierenden Betrachtungen nicht hinwegkommen konnte, deren richtige Beurteilung noch ganz andere Erkenntnisse voraussetzte, an die freilich der Redner in diesem Zusammenhang nicht gedacht hat.

Daß ein Geschichtswerk, welches die spezifisch soziale Frage und ihren Einfluß auf das Ideen- und Empfindungsleben des Volkes so wenig berücksichtigt, für unser sozialgeschichtliches Problem nur geringe Ausbeute gewähren kann, liegt auf der Hand. Ein Mangel, der noch dadurch verschlimmert wird, daß sich dieses Parteipamphlet fast gar nicht um die Mitteilung originalen Materiales bemüht hat. Eine ganze zahlreiche Literatur von Akten und Briefen, Denkschriften und Reden, aus denen sich ohne Zweifel ein klares Bild von dem inneren Verlauf der Bewegung hätte gewinnen lassen, ist für diesen Geschichtschreiber der sozialen Revolution kaum vorhanden.23 Fast nur das Nächstliegende, die Schriften Ciceros, sind verwertet, und das sind gerade diejenigen Quellen, die am wenigsten als Grundlage für eine tiefere und allseitige Beurteilung dienen konnten.

An sich wäre ja Cicero, der uns in seinen Reden und Briefen mitten ins Getriebe des politischen Lebens hineinführt und uns dasselbe oft von einem Tag zum andern verfolgen läßt, mehr als alle anderen berufen gewesen, die wertvollsten Aufschlüsse zu gewähren. Allein leider nahm gerade er als Theoretiker wie als Staatsmann eine Stellung ein, welche ihn von vorneherein unfähig machte, gesellschaftliche Fragen unbefangen zu beurteilen.

An dem Beispiel dieses hochbegabten Geistes zeigt sich recht deutlich die Wahrheit der alten Erfahrung, daß keiner Wissenschaft so viele Klippen drohen wie der der sozialen Ökonomik, daß nirgends der Mensch so »interessiert« urteilt wie hier, nirgends soviel übertrieben und gelogen wird wie in sozialökonomischen Debatten. »Bei Erörterung von Maßnahmen, welche das »Mein und Dein« betreffen, ist objektive, neutrale, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit suchende Aussage eine seltene Ausnahme.«24 Daß ein Mann, der sich so wie Cicero überall[358] als Vorkämpfer der – ja gerade damals schwer bedrohten – Besitzesinteressen fühlte, nicht zu diesen seltenen Ausnahmen gehörte – und, fast möchte man sagen, nicht gehören konnte –, das darf uns nicht wundernehmen; zumal, wenn wir bedenken, daß er sich nicht bloß in rein theoretischen Erörterungen zu äußern hatte, sondern auch in Kampfesreden, deren Inhalt die Leidenschaft des Tages und die politische Tendenz des Redners bestimmte.

Überaus bezeichnend für Ciceros psychologische Abhängigkeit von Klassenanschauungen ist seine »Pflichtenlehre«, die zugleich sein soziales Glaubensbekenntnis enthält.25 Er zählt hier die Leute auf, denen man nach dem von ihm in der Hauptsache völlig anerkannten Ehrenkodex der oberen Zehntausend gesellschaftliche Achtung und Rücksichtnahme schulde! Es sind alle diejenigen, die sich in einem »respektablen« Beruf und in »großen« Dingen bewährt haben,26 die »Gutgesinnten« (d.h. die herrschenden Klassen der Optimaten und Ritter) und die sich um den Staat Verdienste erwarben oder noch erwerben, wie die Männer in öffentlichen Ehrenstellen und Ämtern. Was den Bürger als solchen betrifft, so muß er sich damit begnügen, daß man wenigstens einen Unterschied zwischen ihm und dem Fremden macht und gegen ihn die Rücksichten beobachtet, die durch das Interesse des allgemeinen menschlichen Verkehres überhaupt gefordert werden;27 eine Rücksicht, die dem Armen gegenüber mit der Pflicht der Wohltätigkeit so ziemlich erschöpft ist. Daß auch der, den sein Stern nicht auf die Höhen jener »respektablen« Gesellschaft emporgehoben, sowie jede ehrliche Arbeit als solche Anspruch auf soziale Wertschätzung hat, der Gedanke liegt dieser Gesellschaftsmoral völlig ferne!

Ja, sie geht geflissentlich darauf aus, die sozialen Gegensätze, die sich aus dem wirtschaftlichen Arbeitsleben und dem Berufsleben überhaupt ohnehin schon in reichlichem Maße ergeben, womöglich noch zu verschärfen und zu vertiefen. Man denke nur an die überaus charakteristische Scheidung, welche diese Pflichtenlehre zwischen »anständigen« und »gemeinen« Geschäften und Erwerbszweigen macht.28 »Bescholten« – und zwar nach der Ansicht des Verfassers mit Recht – »sind zunächst[359] diejenigen Erwerbsarbeiten, bei denen man sich den Haß des Publikums zuzieht, wie die der Zolleinnehmer und der gewerbsmäßigen Geldverleiher, während die der Hochfinanz angehörigen Zollpächter, die die Zöllner zwangen, die Abgaben mit blutsaugerischer Grausamkeit einzutreiben, Gentlemen sind. Unanständig und gemein ist ferner das Gewerbe aller Lohnarbeiter, denen ihre körperliche, nicht ihre geistige Arbeit bezahlt wird. Denn für diesen Lohn verkaufen sie sich sozusagen in die Sklaverei.29 Gemeine Leute sind auch die Krämer, die en gros einkaufen, um en detail zu verkaufen. Denn sie kommen nicht fort, wenn sie nicht über die Maßen verlogen sind. Auch die Handwerker treiben sämtlich gemeine Geschäfte. Denn man kann nicht Gentleman sein in der Werkstatt.30 Am wenigsten ehrbar aber sind die Gewerbe, welche im Dienste des Sinnengenusses stehen, so z.B. – um mit Terenz zu reden31 – Salzfischhändler, Fleischer, Köche, Geflügelhändler, Fischer, dazu noch etwa die Parfümhändler, Tanzmeister und die ganze Sippschaft der Spielbuden. – Diejenigen Erwerbszweige aber, welche eine höhere Bildung voraussetzen oder bedeutenden Nutzen schaffen, wie die Heilkunde, die Baukunst, der Unterricht in anständigen Gegenständen, sind anständig für diejenigen, deren Stand sie angemessen sind (!).32 Der Handel aber, wenn er Kleinhandel ist, hat als gemein zu gelten.33 Nur der große Kaufmann, der von allen Seiten eine Masse von Waren herbeischafft und ohne Übervorteilung eine Menge von Menschen in deren Besitz setzt, ist nicht gerade sehr zu tadeln. Ja, wenn er des Gewinstes satt oder vielmehr mit dem Gewinste zufrieden, wie oft zuvor vom Meere in den Hafen, so schließlich aus dem Hafen selbst sich auf den Grundbesitz zurückzieht, so darf man wohl mit gutem Recht ihn loben. Aber unter allen Erwerbszweigen ist keiner besser, keiner ergiebiger, keiner erfreulicher, keiner des feinen Mannes würdiger als der Grundbesitz.« – »Also« – so faßt Mommsen das Ergebnis dieser Liste zusammen – »der anständige Mann muß streng genommen Gutsbesitzer sein! – Es ist vollkommen[360] ausgebildete Plantagenbesitzeraristokratie mit einer starken Schattierung von kaufmännischer Spekulation und einer leisen Nüance von allgemeiner Bildung.«34 Was außerhalb der guten Gesellschaft steht, ist für Cicero lediglich Pöbel.35

Hatte jener Volksmann so ganz unrecht, wenn er meinte, daß die Klasse, die man die der »Optimaten« nannte, sich den übrigen Volksgenossen gegenüber wie eine eigene »Nation« fühlte?36 Und was hat der Vorkämpfer dieser Optimaten darauf zu erwidern? Er sucht zwar dem Begriff eine höhere, ethische Bedeutung zu vindizieren, indem er – dem Wortsinn gemäß – als Optimaten alle die betrachtet wissen will, welche in Wirklichkeit die »Besten«, die »Edelsten« des Volkes im ethischen Sinne sind.37 Wer sind aber diese »Besten«? Es sind vor allem »die Wortführer des Staatsrates (d.h. des Senates) und ihre Gesinnungsgenossen daselbst, es sind die Mitglieder der Gesellschaftskreise, denen der Zutritt zur Kurie offen steht« (d.h. denen Abkunft und Vermögen die Ämterkarriere gestattet). Denn – das ist die Grundbedingung der Zugehörigkeit zu dieser Klasse der Besten – man darf nicht »in seinen Vermögensverhältnissen beengt sein« (!),38 muß sich »in einer guten finanziellen Lage befinden«.39 Daher können auch »Bürger aus Munizipalstädten und vom Lande, Geschäftsleute und Freigelassene« Optimaten sein, wenn sie nur zu den beati possidentes gehören.40

Kein Wunder, daß bei dieser Anschauungsweise Cicero als Staatsmann seinen Blick so einseitig auf ein Bruchstück der Gesellschaft gerichtet hält, statt auf das Ganze zu sehen, daß er die Sache der herrschenden sozialen Gruppe ohne weiteres mit der des Staates identifiziert, als wäre sie selbst die ganze Gesellschaft! Nur eine Politik,[361] welche die Ziele und Interessen der Optimaten vertritt,41 soll die wahrhaft staatserhaltende sein. Denn »die Besitzenden sind unsere Armee«.42 Ihnen gegenüber hat eine andere Partei im Grunde keine Daseinsberechtigung im Staate! Die Volkspartei hat ja bei all ihrem Tun und Wollen von jeher nur den Beifall der Menge im Auge gehabt, während es anerkanntermaßen Optimatengesinnung ist, das Urteil der »Besten« zur Richtschnur aller Politik zu machen.43 Bei allen Interessenkonflikten im Staate ist ihr Interesse das entscheidende.

Was soll man angesichts der naiven Offenherzigkeit, mit der hier das Optimatentum zugleich als die Partei des Besitzes anerkannt wird, zu der Behauptung sagen, daß diese Klasse zugleich die »Auslese« des Volkes,44 die sittlich respektable Bürgerschaft κατ᾽ ἐξοχήν darstellt? Zumal wenn man mit dieser Charakteristik der Optimaten die Art und Weise vergleicht, wie Cicero sich wiederholt vertraulich über dieselben Leute geäußert hat! So meint er einmal (und zwar vier Jahre früher!), ein Mann, wie er dem Staate not tue, lasse sich auch nicht im Traume auffinden.45 Die gepriesenen Optimaten bezeichnet er hier als »so töricht, daß sie der Hoffnung leben, ihre Fischteiche würden ihnen erhalten bleiben, wenn die Republik untergeht«. »Unsere Koryphäen glauben ihre Bäume in den Himmel gewachsen, wenn sie Meerbarben in ihren Fischteichen haben, die ihnen aus der Hand fressen.«46 »Sie haben keine wichtigere Sorge« – heißt es später einmal – »als ihre Ländereien, ihre lieben Villen, ihre armseligen Moneten.«47 »Die sonst zur Partei der Gutgesinnten gehören, begnügen sich (mitten in der großen Krisis des Staates!) ruhig ihre Zinsen zu buchen« (i.J. 49).48 »Sie lassen sich's wohl sein bei üppigen, endlosen Diners!«49

Hat doch Cicero sogar in derselben Rede, in der er die Partei des Besitzes mit der der Sittlichkeit und des reinsten Patriotismus identifiziert, nicht umhin gekonnt, sich gegen diejenigen zu wenden, welche nur »zum Schlafen, Essen und Genießen geboren zu sein glauben«;50[362] die nun aber eben doch einen recht beträchtlichen Teil der Optimaten bildeten! Allein er bedurfte nun einmal jenes logischen salto mortale, um zu dem Schlusse kommen zu können, daß Optimateninteresse und Staatsinteresse ein und dasselbe sei.51 Ist es da zu hart, wenn man von Cicero gesagt hat: »In seinen theoretischen Schriften verurteilte er die Plutokratie und bezeichnete Wucher als Mord;52 in der praktischen Politik waren Plutokraten und Wucherer seine treuesten Freunde!«53

Wenn nach Ciceros Definition alle die Optimaten sein sollen, die »keine Schuld drückt, die nicht schlecht und frech von Natur oder von Raserei besessen sind«, kurz die »sittlich intakt und vernünftig« sind, so sind natürlich die Männer der Volkspartei von alledem das Gegenteil. Zu den Popularen gehören alle »unruhigen Neuerer, alle Verwegenen und Verworfenen«, die – durch die eigenen Instinkte ohnehin schon leicht zur Empörung gegen die staatliche Ordnung geneigt – durch einen bloßen Wink aufzureizen sind.54 Zu ihnen gehört ferner die große Masse derjenigen, die teils infolge bösen Gewissens und aus Furcht vor dem Strafgesetz nach Revolution und Umsturz verlangen, oder deren rasende Leidenschaftlichkeit nur in Bürgerzwist und Rebellion ihre Befriedigung findet, sowie endlich diejenigen, die infolge ihrer schlechten ökonomischen Lage lieber in einem allgemeinen Brand, als für sich allein zugrunde gehen wollen.55 – Anklagen, die ja zum Teil vollberechtigt sind, bei denen aber ganz übersehen wird, daß das Bild, welches hier Cicero von der sozialen Demokratie entwirft, das häßliche Zerrbild der Sünden der herrschenden Klasse selbst ist,56 daß ferner auch die »ökonomisch Beengten«, die kleinen Leute, die Armen und Elenden ebenso ein berechtigtes Interesse zu vertreten haben, wie die »Glücklichen«, daß der Staat nicht bloß die »durch göttlichen Segen gemehrten und gehäuften Güter« der Besitzenden57 gegen die[363] Angriffe von unten her zu schützen, sondern auch der großen Mehrheit des Volkes eine Fürsorge zuzuwenden hat, welche ihm im Kampf gegen die durch diese Häufung der Güter entstandenen Mißverhältnisse und Notstände, in seinem Ringen um größere Beteiligung an den Gütern der Kultur zu Hilfe kommt, – das sind Gedanken, welche von dieser Staatsanschauung möglichst beiseite geschoben werden.

Nicht eine von wahrhaft sozialer Gesinnung getragene und alle Volksgenossen gleichmäßig umspannende staatliche Wohlfahrtspolitik ist ihr das »Herrlichste und Wünschenswerte«, sondern eine – »ehrbare Ruhe« (!), wie sie das Ideal aller Vernünftigen und – natürlich! – Wohlhabenden sei.58 Die Grundlagen dieser »Ruhe« aber und die Interessen, welche die Regierung zu schützen hat, sind folgende: die Staatsreligion, die Auspizien, die Amtsgewalt der Behörden, das Ansehen des Senates, die Gesetze, das Herkommen, die Gerichte und die Rechtsprechung, das öffentliche Vertrauen (der Kredit), die Provinzen, die Bundesgenossen, die Ehre des Reiches, das Heer und die Finanzen, – das sind »die zahlreichen und hohen Güter«, deren Hort die Republik sein will. Daß es noch andere gleich hohe Ziele für sie gab, an deren Verwirklichung die Masse des Volkes allerdings ein größeres Interesse hatte als die »glückliche« Minderheit, daß z.B. die Förderung des sozialen Fortschrittes doch mindestens ebenso die Aufmerksamkeit der Regierung verdiente wie die Aufrechterhaltung des »Herkommens«, davon schweigt die Aufzählung gänzlich! Ein einseitiger politischer Doktrinarismus, der sich gerade gegen das verschloß, was damals mit am meisten dazu beitrug, nicht nur das »Einlaufen in diesen Hafen der ehrbaren Ruhe«59 zu erschweren, sondern dem gepriesenen Herrschaftssystem der Optimaten selbst das Grab zu graben: gegen den furchtbaren Ernst der sozialen Frage! Was ein wahrhaft hippokratischer Zug an dem herrschenden System war, das wird von dieser engherzigen polizeistaatlichen Auffassung als ein Vorzug gefeiert!

Die soziale Frage ist ja überhaupt für den Staat Ciceros eine recht nebensächliche Erscheinung. Zwar betont er in seiner Definition des[364] Staates auch den Wohlfahrtszweck60 und preist mit emphatischen Worten das nimmer rastende Streben des staatlich organisierten Menschen, »den Reichtum des Menschengeschlechtes zu mehren«, das Dasein »immer sicherer und behaglicher zu gestalten«,61 allein das Schwergewicht fällt auch hier durchaus auf die Steigerung der Güterproduktion, die Vermehrung des Reichtums, während die von der hellenischen Staatswissenschaft62 so energisch aufgeworfene Frage nach der Verallgemeinerung des Wohlstandes völlig zurücktritt. Daher wird auch die Aufgabe des Staates gegenüber dem Güterleben von einem ganz einseitigen individualistischen Standpunkt aus beurteilt. Was Produktion und Erwerb vom Staate fordern, ist Freiheit und Sicherheit; eine Forderung, die für diese Bourgeoisökonomie eine so sehr alles andere überragende Bedeutung hat, daß ihre Befriedigung geradezu als der Staatszweck κατ᾽ ἐξοχήν betrachtet wird. »Staaten und Städte« – heißt es in der Pflichtenlehre – »sind hauptsächlich zu dem Zwecke gegründet, daß jedermann im Besitze des Seinigen bleibe. Denn wenn auch in den Menschen ein natürlicher Trieb zur Vergesellschaftung wirksam war, so ließ sie doch die Hoffnung auf Sicherheit des Eigentums den Schutz der Städte suchen.«63 Und derselbe Gedanke wird dann ein zweites Mal noch schärfer dahin formuliert, daß es der eigentliche Zweck des Staates und der Städte ist, daß die Menschen freien Besitz und unverkümmerte Sicherheit ihres Eigentums haben.64

Demgemäß wird auch bei der Schilderung der »Wohltaten«, welche die staatliche Gemeinschaft dem Bürger erweist oder erweisen soll, fast ausschließlich der Schutz des Privateigentums erörtert. »Vor allem hat die Regierung darauf zu sehen, daß jeder Bürger im Besitze des[365] Seinen bleibt und der Privatmann nicht durch Anordnungen des Staates einen Teil seines Eigentums verliert«65 Ja, zum Schlusse wird noch einmal derselbe Gedanke wiederholt und allen Staatsmännern dringend ans Herz gelegt, sich »niemals auf eine Art des Schenkens einzulassen, wobei man den einen gibt, den anderen nimmt«.66 Denn wem das Staatswohl am Herzen liege, dessen Hauptbestreben werde dahin gehen, daß durch Rechtsgleichheit und gerechtes Gericht jeder in seinem Besitze geschützt und weder der kleine Mann widerrechtlich vergewaltigt, noch dem Wohlhabenden die Behauptung oder Wiedererlangung seines Eigentums durch Mißgunst erschwert oder unmöglich gemacht wird.67

Niemand wird das, was an dieser Anschauung berechtigt ist, verkennen. Aber ebenso unverkennbar ist die Einseitigkeit, mit der hier immer nur von den Rechten des Eigentums und fast gar nicht von seinen sozialen Pflichten geredet wird. Daß das Privateigentum und die Vertragsfreiheit eine Tendenz zur Ausbeutung und Schädigung des wirtschaftlich Schwachen entwickeln kann, die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit für ihn wertlos macht, daß der große Besitz eine für den Staat und die Wohlfahrt der Gesellschaft gefährliche, ja unerträgliche Macht erlangen kann, daß also die Einschränkung des Privateigentums und die Begrenzung des Gebietes der Privatwirtschaft ebensosehr zu den Aufgaben staatlicher Wohlfahrtspolitik gehören, wie der Schutz des Eigentums, davon ist in dieser Pflichtenlehre keine Rede. Ebensowenig davon, daß neben dem Schutz des Eigentums und der wirtschaftlichen Freiheit nicht minder die Frage in Betracht kommt: wie ist Eigentum und ökonomische Selbständigkeit möglichst weiten Volkskreisen zugänglich zu machen?

Die einzige Verpflichtung, die der Reichtum gegenüber der Armut hat, ist eine rein moralische: die des freiwilligen Almosengebens. Der hellenische Gedanke, daß der Staat das Recht hat, eine höhere soziale Pflichterfüllung zu erzwingen, den Besitzenden Opfer zugunsten gedrückter und notleidender Volksschichten von sich aus aufzuerlegen, wird hier gänzlich ignoriert, dagegen der Regierung um so mehr ans Herz gelegt, mit allen Mitteln, sei es im Krieg oder Frieden,[366] dahin zu wirken, daß das Machtbereich des Staates, sein Gebiet und seine Einkünfte immer mehr zunähmen.68 Eine Politik, die unter den damaligen Verhältnissen in wirtschaftlicher Hinsicht doch vor allem der Plutokratie zugute kommen mußte!

Eine völlige Befreiung des Staatsmanns von sozialpolitischen Sorgen gelingt ja allerdings auch dem Optimismus Ciceros nicht. Er kann z.B. nicht umhin, der gefährlichen hauptstädtischen Masse das Zugeständnis zu machen, daß die staatlichen Kornspenden innerhalb gewisser Grenzen berechtigt seien.69 Auch kann er sich angesichts der ungeheueren Kreditkrisen der Revolutionszeit und der Opfer, die sie den Besitzenden auferlegten, der Überzeugung nicht verschließen, daß der Staat eine Wirksamkeit in der Richtung entfalten müsse, daß die Verschuldung nicht bis zu einem Grade anwachse, wo sie dem Staate selbst gefährlich wird.70 Allein es sind das eben halb widerwillige und im Interesse der Besitzenden selbst gemachte Zugeständnisse, die ein tieferes sozialpolitisches Interesse nicht erkennen lassen. Wird doch selbst da, wo es als Aufgabe des Senates bezeichnet wird, »des Volkes Freiheit und Nutzen zu wahren und zu mehren«, dieser Aufgabe eine andere vorangestellt, nämlich die, »den Glanz der zunächststehenden Rangklassen zu verbürgen«!71

Ein recht drastisches Licht wirft auf diesen Standpunkt die Bemerkung, welche Cicero an die Verschuldungsfrage knüpft. Er weist darauf hin, daß man niemals die Vernichtung der Schuldverschreibungen eifriger betrieben habe, als in der Zeit seines Konsulates. Eine revolutionäre Bewegung, die sich aus allen Gesellschaftsklassen rekrutierte, habe sich mit Waffengewalt und Heeresmacht durchzusetzen versucht. Und in der Tat sei ja auch die Verschuldung niemals eine größere gewesen. Also eine soziale und ökonomische Krisis, wie man sie schlimmer kaum denken kann! Und was hat Cicero für ein Heilmittel? Er meint:[367] die Bewegung, soweit sie gewaltsam ist, erstickt man in Blut; und denen, die auch dann noch ihre Gläubiger nicht befriedigen wollen, erklärt der Konsul: »Entweder ihr zahlt, oder ich lasse euer Hab und Gut versteigern.«72 Damit ist die Sache erledigt! »Denn wenn man keine Hoffnung mehr hat, zu betrügen (!), so ist man eben genötigt, zu bezahlen.«73 Dieses Prinzip habe sich bei der Niederschlagung der catilinarischen Bewegung so bewährt, daß Cicero sich rühmen zu dürfen glaubt, nie seien die Schulden vollständiger und leichter bezahlt worden als in der Zeit seines Konsulats. Ja, er habe durch sein Verfahren »das ganze Übel im Staat mit Stumpf und Stil ausgerottet«!74

Mit solchen Kuren à la Doktor Eisenbart glaubt der Mann der schwersten sozialen und ökonomischen Krankheitserscheinungen Herr werden zu können! Angesichts einer so intensiven und allgemeinen Verschuldung, wie er sie für diese Epoche der Bürgerkriege selbst zugesteht, leugnet er das Vorhandensein eines wirklichen Notstandes einfach ab. Die Krisis soll nur durch eine Rechtsverweigerung von seiten der Schuldner herbeigeführt sein, nicht durch eine wirtschaftliche Notlage derselben. Sie sollen samt und sonders in die Kategorie der Betrüger gehören! Daß darunter auch Leute sein konnten, die ohne ihr Verschulden durch die allgemeine Krisis in Bedrängnis geraten waren, oder Leute, für welche die Drohung des Konsuls Verjagung von Haus und Hof bedeutete, wird einfach ignoriert. Sie mochten »einsam verderben«! Wenn nur »Ruhe« geschaffen war!

Kann es eine größere Oberflächlichkeit, um nicht zu sagen einen größeren Cynismus, in der Beurteilung sozialökonomischer Fragen geben? Es ist der denkbar bequemste Standpunkt, der sich gegenüber diesen Fragen einnehmen läßt, und bei dem man sich allerdings alles weitere Nachdenken ersparen kann; die vollendete Unfähigkeit, das Wesen der Armut im Zusammenhang mit dem Gesamtleben des Volkes zu erkennen und hiernach auf Mittel zur Abhilfe zu sinnen, statt einfach zu verneinen und niederzuschlagen.75

Allerdings hat sich Cicero gelegentlich auch in anderem Sinne geäußert.[368] In der Rede gegen das von dem Volkstribunen Servilius Rullus (64) beantragte Ackergesetz erklärte er, daß er gegen eine Sozialpolitik, welche sich des Mittels der »lex agraria« bediene, an und für sich nichts einzuwenden habe.76 Er preist sogar – seinen Zuhörern zuliebe – die beiden Gracchen, die »hochberühmten, genialen Männer«, die »Lieblinge der römischen Plebs«. Obwohl die gracchische Agrarpolitik in bestehende Besitzverhältnisse eingegriffen, da die von ihnen der Plebs ausgelieferten Staatsländereien bis dahin in Privatbesitz gewesen, wie Cicero nicht ohne Absicht hervorhebt, erklärt der angehende Konsul, er wolle es nicht machen wie die »meisten«, die in jedem Lob der Gracchen schon ein Verbrechen sehen. Denn durch die weise Politik und durch die Gesetze der Gracchen sei die Republik in vieler Hinsicht befestigt worden.77

Allein es ist für jeden, der den sozialpolitischen Standpunkt Ciceros kennt, ohne weiteres klar, daß diese Verherrlichung der Gracchen in seinem Munde nichts ist, als politische Heuchelei. Sie ist eine Konzession an die Masse, vor der er sich in dieser Rede um jeden Preis als der »volksfreundliche« Konsul aufzuspielen sucht.78 Um den Preis der Popularität und um den Zweck der Rede, die Beseitigung des verhaßten Ackergesetzes, zu erreichen, kommt es ihm auch nicht auf eine, Sympathieerklärung für die »vielgeliebten« Gracchen an, die angesichts seiner wahren Gesinnung das reine sacrifizio dell' intelletto ist. Geradezu komisch aber wirken die Verbeugungen, die er bei dieser Gelegenheit vor dem hauptstädtischen Pöbel macht. Er denunziert nämlich den Gegner wegen einer angeblichen Äußerung im Senat, daß die städtische Plebs zuviel politische Macht besitze und deshalb »ausgeschöpft« werden müsse, wozu er mit gemachter Entrüstung bemerkt, der Mann habe so gesprochen, als ob es sich um die Leerung einer Kloake handle und nicht um einen Teil der besten Bürger.79 Im Grunde seines Herzens denkt er natürlich von der »Plebs« genau ebenso wie der Urheber jenes, drastischen Bildes.80 Trotzdem regaliert er diese Masse, zu der das niedrigste[369] Gesindel gehörte, mit dem Ehrennamen, den er sonst nur der »Auslese« der Bürgerschaft gönnt! Genau entsprechend dem Rezept, das in der Schrift seines Bruders Quintus über die Bewerbung um das Konsulat gegeben wird: »Dem Senat und der Hochfinanz gibt man durch sein Tun und Handeln volle Bürgschaft für eine konservative, »ruheliebende« Gesinnung, – das Volk speist man mit demokratischen Redensarten ab!«81

Übrigens kommt auch hier unter dem Gewande des Volksfreunds für den Tieferblickenden, der sich nicht mit hochtönenden Phrasen abspeisen läßt, sehr bald deutlich genug der Pferdefuß zum Vorschein! Nicht etwa darin, daß sich Cicero gegen das Ackergesetz des Tribunen erklärte – das war selbstverständlich und sachlich gerechtfertigt –, sondern in der Art und Weise der Begründung. So extrem und verwerflich das bekämpfte Ackergesetz war, es enthielt doch immerhin den berechtigten Gedanken einer Verminderung des Proletariats durch Schaffung mittlerer und kleiner Bauernstellen. Wie drückt sich aber Cicero um diesen Gedanken herum? Er sucht die vorgeschlagene Kolonisation in Italien durch die Behauptung lächerlich zu machen, daß dafür nur dürres Ödland oder versumpfte Fiebergegenden in Betracht kommen würden. Und den angeblichen Schrecknissen und Mühsalen, die den Ansiedler da draußen erwarten sollten, stellt er die Genüsse und Freuden gegenüber, die dem Proletarier die Hauptstadt gewähre. »Wenn ihr mich hören wollt, Quiriten, so haltet fest, was ihr habt: die Gnadengeschenke (d.h. die Spenden des Staates und der Aristokraten), das freie Leben (!), euer Stimmrecht, eure Würde (!), die Stadt, das Forum, die Spiele, die Feste und alle die anderen Annehmlichkeiten«,82 die eben nur Rom bietet! Also – das ist der Schluß dieser Weisheit – der Stumpfsinn oder vielmehr die gewissenlose Gleichgültigkeit gegen jedes soziale Interesse, das soziale Philistertum, das sind in den Augen dieses[370] Predigers der sozialen Stagnation die Eigenschaften, die er am liebsten im Volke verbreitet sähe!83 Es ist ein Appell an die gemeinen Instinkte, des großen Haufens, der die Aufrichtigkeit der unmittelbar vorhergehenden Billigung der gracchischen Agrarpolitik in recht bedenklichem Lichte erscheinen läßt. Denn diese Argumentation ließ sich ja genau ebenso gegen alle anderen Ackergesetze geltend machen, die der Redner doch zum Teil als einwandsfrei anerkennt! Wenn es als Lebensziel des Proletariers proklamiert wird, sich in Rom »im Glanze der Republik zu sonnen«,84 kann von einer Sozialpolitik, welche den Proletarier zum Bauern machen wollte, überhaupt keine Rede sein. Es ist einfach die Bankerotterklärung der plutokratischen Republik gegenüber der sozialen Frage durch den Mund ihres eigenen Vorkämpfers!

Aber das ist es ja gerade, was Cicero im Grunde seines Herzens wünscht. Die Ackergesetze, die allerdings immer eine gewisse Gefahr für die bestehenden Besitzverhältnisse enthielten, und die »Agrarier« (agrarii nostri, wie er die Bodenreformer nennt) sind ihm in innerster Seele verhaßt.85 Sogar die maßvolle Bodenreform Cäsars (60/59) kostet ihm eine schlaflose Nacht. Obwohl Cäsar weiter nichts vorschlug, als daß das kampanische und anderes italische Domanialland und eventuell noch – aus dem Ertrag der neuen östlichen Provinzen hinzuzukaufende – Grundstücke an arme Bürger aufgeteilt werden sollten, von denen jeder mindestens drei Kinder hatte, erklärt Cicero das ganze Projekt geradezu für empörend. Den Gedanken, auf dem ager Campanus Bauern anzusiedeln, muß nach seiner Ansicht – schon wegen des Verlustes der kampanischen Pachtgelder für den Staat – jeder Gutgesinnte verabscheuen,86 obwohl diese Bodenreform in keiner Weise bestehende Eigentumsrechte verletzte. Daher hat er auch da, wo er sich. keinen Zwang aufzuerlegen braucht, über die Gracchen ganz anders geurteilt, als auf dem Forum. In den Büchern von den Pflichten und vom Staat erscheint die gesamte, d.h. nicht bloß die revolutionäre, sondern auch die sozialreformerische Politik der Gracchen als eine geradezu selbstmörderische und für den Staat verhängnisvolle. Wie sie[371] »durch den Streit um Landaufteilung sich selbst zugrunde richteten«,87 so haben sie »durch das ganze System ihrer Tribunatspolitik dies eine Volk in zwei Teile gespalten«, so daß »in einer Republik gewissermaßen zwei Senate und – man möchte fast sagen – zwei verschiedene Völker einander gegenüberstehen«!88 Und Cicero hat bei anderer Gelegenheit nicht versäumt, in diesem Streite zweier »Völker« in einseitigster Weise Partei zu ergreifen.

In einer Rede, die er vor Gericht, also vor einer aristokratisch-plutokratisch zusammengesetzten Körperschaft hielt, bespricht er die Hoffnungen und Befürchtungen, die das Ackergesetz des Tiberius Gracchus bei den verschiedenen Klassen der Bevölkerung hervorrief. Das Volk habe es mit Freuden begrüßt, weil es meinte, nun werde der Wohlstand der armen Leute sicher begründet. Die Optimaten hätten es bekämpft, weil sie darin eine Quelle des Unfriedens erkannten und der Ansicht waren, der Staat würde seiner Verteidiger beraubt werden, wenn die Vermögenden aus ihrem langjährigen Besitz verdrängt würden.89 – Und zu dieser merkwürdigen Optimatenlogik gegenüber einem sozialen Reformwerk, das durch die Vermehrung des Bauernstandes gerade die Zahl der staatserhaltenden Elemente vermehren, die Wehrhaftigkeit der Nation erhöhen wollte, bekennt sich Cicero ganz unzweideutig als zu seiner eigenen Meinung, während er für die Hoffnungen der Armut offenbar nur kühle Ironie übrig hat! Obwohl ihm selbst einmal unwillkürlich das Geständnis entschlüpft, daß man der Übervölkerung Roms und der Verödung Italiens nur durch Äckerassignationen begegnen könne,90 verurteilt er dies große soziale Reformwerk in Bausch und Bogen als das traurige Produkt einer Entwicklungsphase des öffentlichen Geistes, in der nach seiner Ansicht »die Wünsche und Interessen des Volkes in vielen Dingen dem allgemeinen Staatswohl feindlich gegenüberstanden«.91 Ja, die Agrarpolitik des Tiberius Gracchus[372] ist ihm grundsätzlich in gleicher Verdammnis wie das verderbliche Getreidegesetz seines Bruders Gaius!92 Ohne einen Unterschied anzuerkennen, sieht er hier wie dort nichts als die Begehrlichkeit der Masse im Gegensatz zu der »besonnenen Einsicht« der oberen Klassen.93 Es ist ein Ehrentitel der erlauchtesten Männer des Staates, daß sie das Blut der Gracchen vergossen haben!94 Denn was ein Tiberius Gracchus getan, ist so schlimm, als wenn er das Kapitol, die geheiligte Stätte des göttlichen Schirmherrn der Republik, den Flammen übergeben hätte! Seine Ermordung ist ein größeres Verdienst als die Zerstörung Numantias.95

Eine interessante und für den ganzen Standpunkt des Mannes nicht minder charakteristische Probe seiner sozialgeschichtlichen Anschauungen bietet auch die Zusammenstellung der Gracchen mit den Sozialrevolutionären Spartas, mit König Agis und dem Ephor Lysander, sowie die geschichtliche Beurteilung, welche er ihnen und ihren Ideen zuteil werden läßt. Er weiß von dem sozialen Reformprogramm des spartanischen Königtums weiter nichts zu sagen, als daß die von demselben geforderte Expropriation des Grundes und Bodens ein Unrecht war. Der Gedanke, daß hier die bestehenden sozialen Verhältnisse selbst auf eine Krisis hindrängten, liegt ihm gänzlich ferne! Natürlich! Erfreute sich doch damals Sparta der Herrschaft der »Optimaten«; und unter der war für Cicero selbstverständlich alles »aufs vortrefflichste bestellt« (!),96 ähnlich wie in dem Rom der Scipionen, das ihm geradezu wie eine Verwirklichung des stoischen Idealstaats erscheint. Erst die von Agis entfesselten Klassenkämpfe, die Vertreibung der Optimaten und die Tyrannis haben über diesen so vortrefflich eingerichteten Staat den Verfall heraufbeschworen! »Und nicht genug, daß er allein fiel. Er zog auch das übrige Hellas mit in sein Verderben, indem das Unheil, das von Sparta ausging, förmlich ansteckend wirkte und sich immer weiter verbreitete.« Als ob die ganze übrige hellenische Welt sozial völlig gesund gewesen wäre und erst der Ansteckung durch Agis[373] und seine Leute bedurft hätte, um die soziale Frage überhaupt aufzurollen!97

Es ist, als ob sich Cicero instinktiv gegen die Erkenntnis verschlossen hätte, daß er und seine Standesgenossen einem Phantom nachjagten, wenn sie glaubten, zwei Dinge, die sich zueinander verhielten wie Wasser und Feuer, gleichzeitig konservieren zu können, die republikanische Verfassung und die bestehende Verteilung des Besitzes. Sie sahen nicht oder wollten nicht sehen, daß, wenn überhaupt, so nur auf dem von Tiberius Gracchus betretenen Weg, d.h. durch eine systematische Regeneration des italischen Bauernstandes, ein Gegengewicht gegen die Heere der Enterbten hätte geschaffen werden können, die den Anteil an den Gütern dieser Erde, den ihnen die Republik versagte, in blutigen Kämpfen gegen die Republik zu erringen suchten. Kämpfe, die den Besitzenden noch ganz andere Opfer gekostet haben als eine rechtzeitige Bodenreform.98

Angesichts dieser völligen Unfähigkeit Ciceros, der Vergangenheit gerecht zu werden, wird man von vorneherein darauf verzichten, eine unbefangene und tiefere Würdigung der sozialen Phänomene seiner eigenen Zeit zu erwarten; zumal es sich hier um Äußerungen handelt, die unmittelbar auf den rednerischen Effekt und die Durchsetzung bestimmter politischer Pläne berechnet waren, und bei denen Haß, Leidenschaft und Interesse noch in ganz anderer Weise mitsprachen als bei der Beurteilung von Dingen und Menschen, die bereits der Geschichte angehörten.

Tritt doch selbst in den rein theoretischen Erörterungen eine geradezu fanatische Verbohrtheit zutage, wenn es sich um Besitzesinteressen handelt! Man denke nur an das Urteil über das Schuldgesetz Cäsars in der Pflichtenlehre. Danach ist Cäsar auf solche umstürzlerische Ideen natürlich nur als Catilinarier gekommen, als er selbst noch tief verschuldet war. Warum aber hat er diese Gedanken, die er als »Besiegter« (d.h. als Genosse Catilinas) nicht verwirklichen konnte, als Sieger verwirklicht zu einer Zeit, wo er kein persönliches Interesse mehr dabei[374] hatte (d.h. selbst nicht mehr verschuldet war)? Die Antwort lautet, weil er »einen solchen Hang zur Sünde hatte, daß das Unrechttun selbst ihm einen Genuß bereitete, auch da, wo es an sich zwecklos war«.99 Ein Fußtritt, der dem töten Löwen versetzt wird von demselben Manne, der ganz kurz vorher den noch lebenden Cäsar als einen »Charakter von seltenem Edelsinn«, als das glänzendste Gestirn gepriesen, welches der Menschheit je geleuchtet!100

Wenn die Advokatenrabulistik dies einem Cäsar gegenüber fertig bringt, was kann man da erwarten, wo es sich um einen Catilina handelt?

In der Tat, man braucht die Catilinarien nur flüchtig anzusehen, um sofort zu erkennen, wie hier neben der berechtigten Entrüstung über das verbrecherische Attentat soviel tendenziöse Übertreibung, soviel einseitige Befangenheit und rhetorisches Phrasenwerk sich breit macht, daß man gar nicht daran denken kann, aus dieser Darstellung ein zutreffendes Bild von der Bewegung und ihren inneren Triebkräften zu gewinnen.101

Es ist etwas Unsagbares und Unerhörtes, was nach Cicero der Konsul und die Götter von Stadt und Staat abgewendet haben. So groß ist der geplante Frevel, daß er anfänglich geradezu undenkbar schien.102 Und auch er, Cicero selbst, hätte nie eine so ungeheuerliche Verschwörung unter Bürgern für möglich gehalten!103 Er glaubt den Tausenden und Abertausenden des versammelten Volkes versichern zu können, daß ihrer aller Leben,104 ihr Hab und Gut, Weiber und Kinder und die ganze herrliche Stadt den Flammen, dem Mordstahl, ja »fast dem Schlunde des Verderbens« entgangen sei.105 »Entrissen seid ihr, Quiriten, dem grausamsten und kläglichsten Untergang,106 behütet ihr und das römische Volk vor dem entsetzlichsten Blutbad, eure Weiber und Kinder und die vestalischen Jungfrauen vor der grausamsten Mißhandlung, die Tempel und Heiligtümer unserer hehren Vaterstadt vor dem grausigsten Brand, ganz Italien vor Krieg und Verheerung.«107

[375] Wäre es den Verschworenen geglückt, so hätten sie die Stadt an allen Ecken und Enden angezündet und eine »zahllose« Menge von Bürgern hingemordet.108 »Bei allen bisherigen Parteikämpfen hat es sich immer nur um Änderungen der Verfassung gehandelt, nicht um einen Vernichtungskrieg gegen den Staat selbst.109 »Man wollte die Herrschaft in dem bestehenden Staat, nicht daß der Staat überhaupt aufhöre zu existieren.«110 Man wollte nicht diese Stadt niederbrennen, sondern in ihr glücklich sein und gedeihen. Catilina aber und seine Leute haben gegen das Vaterland einen Kampf unternommen, wie es seit Menschengedenken keinen furchtbareren und gräßlicheren gegeben hat, wie ihn selbst Barbaren niemals gegen das eigene Volk geführt haben. Es ist ein Krieg, dessen Teilnehmer es sich zum Gesetz gemacht haben, »alle diejenigen, die mit ihrer Existenz an der Erhaltung des Staates interessiert sind, als Feinde zu betrachten«111 und »nur so viele Bürger am Leben zu lassen, als dem endlosen Gemetzel widerstehen würden, von der Stadt nur so viel, als die Flamme nicht erreichen kann«. »Diese Menschen waren entschlossen, uns alle des Lebens zu berauben, das Reich zu zerstören und den Namen des römischen Volkes zu vertilgen« (!).112 »Sie haben den ganzen Staat, die Tempel der Götter, die Häuser der Stadt, das Leben aller Bürger, ganz Italien dem Verderben geweiht.«113 Ja, »das ganze Erdenrund soll durch Mord und Brand verheert werden«.114 Sie denken auf den Untergang unser aller; auf Vernichtung der Stadt, ja des ganzen Erdkreises (!).115

Dem Redner ist es, als »sehe er die Stadt, die Leuchte der Welt, die Burg aller Völker plötzlich in einem einzigen großen Flammenmeer zusammenstürzen«. Er sieht im Geiste in der eingeäscherten Stadt die jammervollen, unbestatteten Leichenhaufen der Bürger. Vor seinen Augen steht das Bild des rasenden Cethegus (eines Spießgesellen Catilinas), der im Blute der Bürger wütet;116 und er ruft zur Rache auf gegen die Verbrecher, »welche uns, unsere Weiber und Kinder niedermetzeln[376] wollten, welche jedem einzelnen von uns sein Haus und das Gebäude des Staates in seinen Grundfesten zerstören wollten, welche darauf ausgingen, die (keltischen!) Allobroger (als Teilnehmer der Verschwörung) in den Ruinen dieser Stadt und auf der Brandstätte des eingeäscherten Reiches anzusiedeln«!117 Meisterlich hat (der Mitverschworene) Lentulus die Rollen für dies Zerstörungswerk verteilt: »Er holt Gallier herbei, wiegelt die Sklaven auf, ruft den Catilina, überweist uns dem Cethegus, die anderen Bürger dem Gabinius zum Niedermetzeln, die Stadt zum Einäschern dem Cassius, ganz Italien zur Verwüstung und Plünderung dem Catilina.«118

Wenn man diesem Schauergemälde historische Treue zugestehen würde, müßte man annehmen, daß Catilina nicht Geringeres beabsichtigte als einen Vernichtungskrieg gegen alle, die überhaupt etwas zu verlieren hatten, daß er mit der ganzen bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung tabula rasa zu machen und auf ganz neuer Basis, man weiß nicht was, ob einen neuen Staat oder eine völlig neue Gesellschaft, aufzurichten gedachte!

Nun ist es ja, wie wir später sehen werden, aus inneren Gründen wahrscheinlich genug, daß es in der großen sozialen Bewegung der Epoche nicht an Elementen gefehlt hat, die sich mit den extremsten sozialistischen Umsturzgedanken trugen, allein wer wollte aus den hochtönenden vagen Redensarten Ciceros irgendetwas Positives über diese Seite der Frage entnehmen?

Wenn man, wie es z.B. Mommsen tut, Cicero wirklich beim Wort nähme, müßte man die Catilinarier mit Mommsen119 als »Anarchisten«, die Verschwörung als eine anarchistische bezeichnen. Allein man würde sich dadurch sofort wieder in Widerspruch zu Cicero selbst setzen, der einen der Hauptführer, den Lentulus, sowenig als Anarchisten gelten läßt, daß er ihm sogar vorwirft, er hoffe auf eine Königskrone!120 Und muß nicht Mommsen selbst von diesen »Anarchisten« zugeben, daß unter ihnen sogar noch »die traditionelle Standeshierarchie ihren Platz behauptete«, was doch keineswegs für eine anarchistische Zielsetzung spricht?

Aber darf man die Tiraden Ciceros wirklich so ernst nehmen? Hat er sich nicht selbst in einer vertraulichen Äußerung mit einem Cynismus ohnegleichen über seine Rhetorik lustig gemacht und ganz offen[377] angedeutet, daß er selber in dem, was er damals gesagt, nicht ernst genommen sein wolle? Er spöttelt in einem Briefe an Attikus121 über den bekannten vielfachen Millionär und späteren Triumvirn Crassus, weil er sich einmal in einer Senatssitzung (im Hinblick auf die catilinarische Verschwörung) in den ehrendsten Ausdrücken über Ciceros Konsulat »ergoß« und sich dabei der Wendung bediente: »daß er noch Senator sei, noch Bürger, noch frei, ja, daß er noch lebe, das danke er Cicero; ja, so oft er den Blick auf seine Gattin, sein Haus, seine Vaterstadt richte, sehe er darin ein Geschenk Ciceros«. Wozu letzterer die spöttische Bemerkung macht: »Kurz, dieses ganze Kapitel, das ich in meinen Reden so mannigfaltig auszumalen pflege, von Flamme und Schwert (du kennst ja diese Sächelchen!) brachte er mit besonderer Salbung an.« Wieviel Abstriche wird man angesichts dieses Selbstbekenntnisses an dem Kapitel »Catilina« in Ciceros Reden machen müssen.

Daß es bei einem Siege der Revolution ohne Mord, Raub und zahlreiche Ächtungen nicht abgegangen wäre, ist ja klar. Aber das Schreckbild von der Einäscherung der Stadt und der Vernichtung des Staates, dessen Verwirklichung ja auch der Arme zu fürchten gehabt hätte, hat offenbar keinen anderen Zweck als den, die Aufmerksamkeit der Hörer von dem sozialökonomischen Gedankengehalt der Revolution abzulenken, der bei den auf dem Forum versammelten Massen gewiß nur zu vielen Sympathien begegnete. Es ist ein Brillantfeuerwerk rhetorischer Phrasen, darauf berechnet, die vom Redner gewünschte Stimmung zu erzeugen. Die tiefer liegenden Ursachen und allgemeinen Tendenzen der Bewegung bleiben dabei mehr oder minder im Dunkeln.

Natürlich wird dann derselbe Wortschwall aufgewendet, um die Teilnehmer der Verschwörung zu charakterisieren. Eine Charakteristik, die genau nach derselben Schablone gearbeitet ist wie die des geplanten Verbrechens selbst. Catilina ist ein Bandit,122 ein Aufwiegler von Sklaven und verkommenem Gesindel,123 ein Scheusal und Ungeheuer,124 eine Pest des Staates.125 Um ihn scharen sich die Feinde aller Wohlgesinnten, die Feinde des Vaterlands, Leute, die, aneinandergekettet durch die gemeinsame Ruchlosigkeit und alle Bande des Verbrechens und Mordes, bereit sind, wie eine Räuberschar126 über Hab und Gut der ruhigen Bürger in[378] ganz Italien herzufallen;127 kurz, ein Abschaum, wert zeitlicher und ewiger Verdammnis.128 Überall habe Catilina die Schiffbrüchigen zusammengelesen129 und so eine Bande von Verbrechern130 und verlorenen und verzweifelten Existenzen131 zusammengebracht, die nicht nur von allem Glück, sondern auch von aller Hoffnung verlassen seien.132 Es ist der »Auswurf des Staates«, den man »ausschöpfen« muß wie eine Kloake.133 Welche Wonne – ruft ihm der Konsul zu – wirst du empfinden, wie wirst du aufjubeln, in welchen Taumel des Entzückens ausbrechen, wenn du in der gewaltigen Schar deiner Genossen keinen einzigen anständigen Menschen siehst noch hörst.134

Das Heer Catilinas ist zusammengelesen aus hoffnungslosen Greisen aus liederlichen und bankerotten Gutsbesitzern und Bauern.135 Aus der Stadt wie vom Lande hat er eine ungeheure Menge verkommener Menschen um sich gesammelt; und »es gibt weder in Rom, noch in irgendeinem Winkel Italiens einen einzigen von Schulden bedrängten Menschen, den er nicht in diesen unerhörten Bund des Verbrechens hineingezogen hätte«.136 »Die Begierden dieser Rebellen kennen keine Grenze; nicht mehr menschlich und erträglich ist die Vermessenheit ihrer Anschläge. Auf nichts sinnen sie als auf Mord, Brand und Raub. Ihr Vermögen haben sie vergeudet, ihre Güter verpfändet. Schon längst haben sie ihr Eigentum und zuletzt auch allen Kredit verloren. Nur ihre Genußsucht ist dieselbe geblieben wie in den Zeiten des Überflusses.« – »Wenn sie sich nur mit Wein, Würfelspiel und Unzucht begnügten, könnte man es ertragen. Wer aber kann es mitansehen, daß Feiglinge den Tapfersten, die größten Toren den Verständigsten, Säufer den Nüchternen, Schlaftrunkene den Wachenden nachstellen? Leute, die, bei Gelagen, in den Armen zuchtloser Weiber, vom Weine betäubt, mit Speisen überfüllt, mit Kränzen umwunden, von Salben duftend, geschwächt durch Unzucht, mit Reden um sich werfen, welche die Gutgesinnten mit dem Tod, die Stadt mit Brandstiftung bedrohen?«137

Im einzelnen aber setzt sich diese Gesellschaft aus folgenden Elementen zusammen:

[379] Die erste Klasse besteht aus denen, welche zwar stark verschuldet, aber noch im Besitz eines größeren Vermögens sind und nur deshalb ihre Gläubiger nicht befriedigen, weil sie sich von ihrem Besitz nicht trennen können und im stillen auf eine staatliche Schuldenkassierung hoffen.138 Zur zweiten Klasse gehören diejenigen, welche sich, um von ihren Schulden loszukommen, der Staatsgewalt bemächtigen wollen und die Ämter, auf die sie beim Bestand der staatlichen Ordnung keine Aussicht haben, durch die Revolution erreichen zu können glauben.139 Eine dritte Klasse bilden die Veteranen der sullanischen Kolonien, die – plötzlich wohlhabend geworden – durch Hoffart und übermäßigen Aufwand sich so in Schulden gestürzt haben, daß sie nur noch von neuen Proskriptionen und einer neuen Diktatur Rettung erhoffen können. Und an sie hat sich aus der ländlichen Bevölkerung eine Anzahl armer Teufel angeschlossen, die sie nach ähnlichem Raub lüstern gemacht haben.140 Die vierte Klasse ist sehr bunt zusammengewürfelt. Es sind Leute, die längst mit wirtschaftlichen Nöten zu kämpfen haben, sich aber nie herausarbeiten können, die infolge von Faulheit oder schlechter Geschäftsführung oder von Verschwendung unter der Last alter Schulden zu erliegen drohen, die, der gerichtlichen Vorladungen und Urteile und der Feilbietung ihrer Güter müde – wie man sagt, in großer Zahl –, teils aus der Stadt, teils vom Lande dem Lager Catilinas zuströmen.141 Die fünfte Klasse besteht aus Mördern, Banditen und der ganzen sonstigen Verbrecherwelt;142 die sechste und letzte endlich aus denen, die dem Catilina »ganz angehören«, den eigentlichen Männern seiner Wahl, seinen Busenfreunden und Schoßkindern, den weibisch gekleideten Elegants mit den duftenden Haarlocken und dem modischen Stutzbart, deren ganzes Dasein in nächtlichen Gelagen aufgeht. Zu ihnen gehören alle Spieler, Ehebrecher, alle, deren Lebenselement der sittliche Schmutz und die Unzucht ist. Die »feinen, zierlichen Knaben, die nicht nur gelernt zu lieben und sich lieben zu lassen, zu tanzen und zu singen, sondern auch den Dolch zu führen und Gift zu mischen«.143

Kurz, eine Bande, deren Tun und Treiben eigentlich mehr in die Kriminalakten als in die Geschichte gehört.144 Der Verteidigungskampf, den die Gesellschaft gegen sie zu führen hat, ist lediglich ein Kampf gegen »Unredlichkeit, Nichtswürdigkeit, Zügellosigkeit und Begierde«,145[380] gegen »Schwelgerei, Wahnsinn und Verbrechen«,146 gegen »Räuber und Plünderer«.147 Die wirtschaftliche Notlage, die sie zur Auflehnung gegen das Bestehende treibt, ist lediglich durch eigenes Verschulden. herbeigeführt, in keiner Weise im Organismus der Gesellschaft selbst begründet. Daher weiß Cicero für diese ganze Klasse der ökonomisch Bedrängten kein anderes »Heilmittel« als den Rat, sie möchten »doch einfach zugrunde gehen, wenn sie sich nicht aufrechterhalten können, und zwar so, daß weder die bürgerliche Gesellschaft, noch auch nur die nächsten Nachbarn etwas davon merken«. Denn es »ist nicht einzusehen, warum sie ehrlos untergehen wollen, wenn sie nicht, mit Ehren leben können, oder warum sie glauben sollten, daß ihr Fall für sie weniger schmerzhaft sein werde, wenn sie nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit vielen anderen fallen«.148

Eine Mitschuld der Gesellschaft an dem sozialen Elend, das sich gegen sie erhob, wird also rundweg geleugnet. Daher hat auch die Gesellschaft das Recht, zu dem Bedrängten zu sagen: »Falle, wenn du nicht stehen kannst!« Der Gedanke, durch eine positive Wohlfahrtspolitik die durch die Not der bestehenden Gesellschaft Entfremdeten wenn nicht wiederzugewinnen, so doch moralisch ins Unrecht zu setzen, tritt dabei völlig in den Hintergrund. Denn die »Heilung und Versöhnung«,149 die Cicero predigt, soll einzig und allein eine sittliche Katharsis sein, eine Reinigung von Gier und Leidenschaft, ohne die es ja nach seiner Ansicht überhaupt zu keiner Entfremdung gegenüber dem Staat gekommen wäre. Die denkbar einseitigste, flach moralisierende Betrachtungsweise, die es nicht der Mühe wert hält, das Wesen der Armut im Zusammenhang mit der Gesamtheit der ökonomischen und sozialen Lebenserscheinungen zu beurteilen und hiernach auf Mittel zur Abhilfe zu sinnen.

So tat sich der Redner allerdings außerordentlich leicht mit der Behauptung, daß alle guten Geister auf seiten der Ordnungsparteien seien. In der Tat ist nach der Schilderung Ciceros gegen jenen »unerhörten Bund des Lasters«150 alles einig, was noch an Sitte und Recht festhält.[381] »Auf unserer Seite« – ruft der Redner emphatisch aus – »kämpft das Schamgefühl, auf jener Frechheit, hier Sittenreinheit, dort Unzucht, hier Treue, dort Lug und Trug, hier Gottesfurcht, dort Ruchlosigkeit, hier Beharrlichkeit, dort Tollheit, hier Ehrenhaftigkeit, dort Ehrlosigkeit, hier Selbstzucht, dort Ausschweifung, kurz Billigkeit, Mäßigung, Mannhaftigkeit, Weisheit, alle Tugenden streiten wider die Ungerechtigkeit, Schlemmerei, Feigheit, Unbesonnenheit, gegen alle Laster. Überfluß steht dem Mangel, das gute Prinzip dem schlechten, geistige Gesundheit dem Wahnsinn, Hoffnungsfreudigkeit der Verzweiflung gegenüber. Müssen nicht in einem solchen Kampfe, wenn Menschenkraft versagen sollte, die unsterblichen Götter selbst den Sieg so herrlicher Tugenden über so viel Lasterhaftigkeit erzwingen?«151 »Außer der verworfenen Bande deiner Mitverschworenen« – ruft Cicero dem Catilina zu – »ist in der ganzen Stadt niemand, der dich nicht fürchtete, niemand, der dich nicht haßte.«152 – »Wenn mich meine Sklaven so fürchteten, wie dich alle (!) deine Mitbürger fürchten, ich würde glauben, mein Haus verlassen zu müssen. – Selbst wenn ich mir ohne Verschulden einen so schweren Verdacht und so viel Haß von seiten meiner Mitbürger zugezogen hätte, würde ich mich lieber ihren Blicken entziehen, als mich von allen mit feindlichen Augen ansehen lassen. Und du, der im Bewußtsein seiner Verbrechen den allgemeinen Haß als gerecht und längst verdient anerkennen muß, willst nicht den Anblick derer meiden, deren ganzes Denken und Empfinden sich gegen dich sträubt? Du, den unser aller gemeinsame Mutter, das Vaterland, haßt und fürchtet und von dem sie schon lange überzeugt ist, daß er auf nichts als ihre Ermordung sinnt!«153

Und diese Überzeugung des »Vaterlands« kommt eben zum Ausdruck in der »Besorgnis des Volkes«, in dem »einmütigen Zusammenstehen aller Wohlgesinnten«.154 Das »römische Volk« und zwar »alles Volk aus allen Ständen«155 ist entschlossen, die höchste Gewalt zu behaupten,[382] für die Erhaltung der »gemeinsamen« Güter einzutreten.156 Denn »seit Gründung der Stadt ist dies der erste Fall, wo alle von ein und derselben Gesinnung erfüllt sind (!)157 – außer denen, die – den sicheren Ruin vor Augen – lieber mit allen andern als allein zugrunde gehen wollten«. Die Männer der Ordnung können gegen diese »verworfene, entkräftete Bande von Schiffbrüchigen die Blüte und die Kraft von ganz Italien ins Feld stellen«.158 Diese in der Geschichte der inneren Politik noch niemals erlebte Einmütigkeit »aller Stände aller Menschen, des ganzen römischen Volkes«159 begeistert den Redner zu einem Hymnus auf das sozialkonservative Bürgertum, der angesichts der wirklichen Beschaffenheit der römischen Gesellschaft auch dann als eine widerliche Heuchelei erscheint, wenn man der bei solchen Reden unvermeidlichen Phrase und dem Klassenvorurteil noch so viel zugute hält. Was wird da nicht alles zum Preise der Ritterschaft gesagt, d.h. der hohen Finanz, die allerdings – als Hauptvertreterin des bedrohten Kapitals – die wertvollste Stütze der Ordnungspartei war! Diese »hochachtbaren und vortrefflichen Männer«160wir würden sagen, eine Gesellschaftsklasse, welche sich in ihrer Mehrheit als die klassische Verkörperung eines staatswidrigen Kapitalismus darstellt – werden gefeiert als die Vertreter des politischen Idealismus und einer wahrhaft staatlichen Gesinnung! Sie wetteifern mit dem Amtsadel »in der Liebe zum Staat«.161 Und diese Verbindung ist dem Redner so glückverheißend, daß er sich zu der kühnen Prophezeiung aufschwingt: Solange diese beiden Klassen zusammenhielten, würde »niemals wieder ein inneres Leid zu irgendeinem Teile des Staatswesens dringen können«!162

Von gleichem Eifer für die Verteidigung der bedrohten Gesellschaft erscheinen die sogen. Ärartribunen beseelt, die bekannten Finanzleute aus der Plebs, und sämtliche Staatsschreiber, beide Klassen natürlich auch nur aus reinster Hingebung an das Gemeinwohl.163 Ja noch mehr! Ihnen gesellt sich zu »die gesamte Masse der Freigeborenen, selbst die Niedrigsten mit eingeschlossen«.164 Denn »wo gibt es einen Menschen,[383] dem nicht diese Tempel, der Anblick der Stadt, der Besitz der Freiheit, ja schon dieses Tageslicht und dieser gemeinsame Boden der Vaterstadt lieb und wert und herzerfreuend wäre«? – Als ob es nie Hunger und Elend gegeben hätte, welche die Empfindung für die meisten dieser Güter völlig abzustumpfen vermögen,165 selbst für die Freiheit, welche der Redner so emphatisch als das »süßeste Gut« preist! Und als ob man von allen Volksgenossen behaupten könnte, was der Redner von der Ordnungspartei sagt, daß sie neben dem Staatsinteresse und der Freiheit das eigene Hab und Gut166 zu verteidigen hatten! Aber die Hunderttausende, die bei einem Umsturz nichts zu verlieren hatten, sind eben einfach für diese Schönfärberei nicht vorhanden. Dafür rühmt der Redner den Patriotismus der Freigelassenen, ja sogar der Sklaven! Er meint, es gebe keinen Unfreien, dessen Dienstverhältnis einigermaßen erträglich sei, der nicht die Verwegenheit der aufrührerischen Bürger verabscheute, der nicht die Erhaltung des Bestehenden wünschte und mit aller Bereitwilligkeit und Energie dem Rettungswerk zu dienen bereit wäre.

Zwar wird dann noch im Vorübergehen der Bemühungen eines catilinarischen Agenten gedacht, der in den Buden und Werkstätten umherlief, um arme und unverständige Leute durch Geldversprechungen aufzuwiegeln. Allein nach der Ansicht Ciceros war diese Agitation und daher auch die Besorgnis, die sie erweckte, vollkommen gegenstandslos. Denn es habe sich niemand gefunden, den das Unglück so elend gemacht oder böser Wille so verderbt hätte, daß er diesen Lockungen erlegen wäre! Alle ohne Unterschied seien einig gewesen in dem Wunsch, die Stätte ihres Werkstuhls, ihrer Arbeit, ihres täglichen Erwerbes, ihre häusliche Lagerstatt, kurz, den ruhigen Gang ihres Lebens ungestört erhalten zu sehen. »Denn« – meint Cicero – »diese ganze Tabernenbevölkerung ist größtenteils oder, richtiger gesagt, in ihrer Gesamtheit im höchsten Grade ruheliebend. Die Erhaltung ihrer Betriebswerkzeuge, ihre ganze Arbeitstätigkeit und ihr ganzer Erwerb ist abhängig von möglichst zahlreichem Zuspruch der Bürger. Sie verlieren schon genug, wenn (in unruhiger Zeit) die Buden geschlossen werden müssen; was wäre da vollends aus ihnen geworden, wenn Buden und Werkstätten abgebrannt wären!«167

Mit diesem die ängstlichen Gemüter beruhigenden Bild einer friedlichen, in sozialer Hinsicht durchaus konservativen Bevölkerung findet[384] die Schilderung einen harmonischen Abschluß. Daß es viele Tausende gab, die überhaupt keine Werkstatt, keinen Laden, keine regelmäßige Arbeit, keine rechte Häuslichkeit hatten, die also an dem Bestehenden keineswegs so lebhaft interessiert waren, davon schweigt der Bericht,168 bei dem man sich nicht genug verwundern kann, daß der sozialrevolutionäre Gedanke unter einer solchen Bevölkerung überhaupt Anhänger gewinnen konnte. Wenn wirklich alle Gesellschaftsklassen so innig harmonierten, wenn sozusagen alle Welt an die Herrlichkeit des Bestehenden glaubte oder an der Sache der Ordnung aufs höchste interessiert war,169 ist es dann nicht ein Rätsel, daß – wie Cicero an anderer Stelle selbst zugesteht – »jene Pest im Staat so weit um sich greifen konnte,170 daß die Gefahr im Begriffe war, sich tief in den Adern und Eingeweiden des Staates einzunisten«171 und »der Same des Unheils weiter verbreitet war, als man es für möglich gehalten hätte«?172 Wie, begreift sich angesichts des Idealgemäldes einer bürgerlichen Gesellschaft, das die Kunst des Redners vor der Phantasie der Hörer entstehen läßt, die »furchtbare Wucht des Verderbens«,173 die »von dem Nacken seiner Mitbürger abgewälzt zu haben«, er sich nicht[385] genug rühmen kann? Wie begreift sich die Entstehung des »seit Menschengedenken grausamsten und schwersten inneren Krieges«, den er als »Führer und Imperator im Friedenskleide«174 siegreich bekämpft hat?

Freilich werden dergleichen Töne nur da angeschlagen, wo es dem Redner darum zu tun ist, sein Verdienst als Retter der Gesellschaft möglichst hell erstrahlen zu lassen. Im übrigen herrscht der rosigste Optimismus. Da ist Catilinas Lager nichts als ein »Räubernest«, das man mit Leichtigkeit ausnehmen könne; seine Armee sei nicht ernst zu nehmen. »Wir brauchen ihr gar nicht einmal die Schlachtordnung unseres Heeres zu zeigen, sondern nur das Edikt des Prätors – und sie wird in den Staub sinken!«175 Eine Prahlerei, zu der die heldenmütige Haltung der Catilinarier in der Entscheidungsschlacht von Pistoja176 einen bezeichnenden Kontrast bildet.

Und wie stellt sich nun vollends nach dem Siege der Ordnungsparteien in dieser Advokatenberedsamkeit das Bild der Gesellschaft dar! Obwohl Cicero in der Rede, in welcher er sich von neuem zu der Frage äußert, das Vorhandensein »vieler Streitpunkte« anerkennen muß, über die die »demagogische Begehrlichkeit immer wieder mit der besonnenen Überlegenheit der Vornehmen in Zwiespalt geriet«, und obwohl er eben selbst im Begriff war, den Streit um das Ackergesetz Cäsars wieder zu entfachen, spricht er hier wenige Jahre nach der catilinarischen Verschwörung (i.J. 56) die kühne Behauptung aus, daß jetzt eine völlige Interessenharmonie zwischen hoch und niedrig hergestellt sei! Jetzt gebe es nichts mehr, was die Masse mit der Elite und den Ersten des Volkes entzweien könne. Das Volk stelle keine Forderungen mehr (!), es verlange nicht mehr nach Neuerungen, sondern freue sich an dem ruhigen Genuß seines Daseins, an dem Ansehen aller Gutgesinnten und dem Ruhm des Gemeinwesens.177 Kurz – möchte man hinzufügen – es ist, als ob der[386] Plebejer durch eine wunderbare Metamorphose zum Optimaten geworden wäre!

Unter Verhältnissen, wo Hunderttausende Unterstützung aus Staatsmitteln beanspruchten, wo die hoffnungslose Armut nicht selten für Kost und Lohn sich in die Arena verkaufte und freie Männer, um nicht zu verhungern, den furchtbaren Kontrakt unterschrieben, der sie verpflichtete, »sich unweigerlich fesseln, peitschen, brennen oder töten zu lassen, wenn die Gesetze der Anstalt es so mit sich bringen würden«, – unter solchen Verhältnissen, angesichts des grauenhaftesten Großstadtelends, glaubt der Anwalt der Vornehmen und Reichen, sich oder; vielmehr anderen einreden zu können, daß »jetzt das Volk durch keine materiellen Verheißungen mehr aufzustacheln sei und nach so schweren, inneren Kämpfen Ruhe um jeden Preis wolle, daß daher für Aufrührer und Unruhstifter nichts weiter übrig bleibe, als sich durch Bezahlung einen Anhang zu schaffen und die Volksversammlungen mit Mietlingen anzufüllen«.178 »Jetzt ist, wenn ich mich nicht täusche, das Volk in einer solchen Verfassung, daß, wenn man die gedungenen Banden entfernt, wahrscheinlich alle ein und dieselbe Ansicht über den Staat haben werden.«179 Eine soziale Harmonie, die lebhaft an jene Einmütigkeit in der Beurteilung der Staatszwecke erinnert, zu welcher Plato die verschiedenen Gesellschaftsklassen in seinem Staate erziehen zu können glaubt. In dem Rom Ciceros macht sich das ganz von selbst! Es ist, als ob die ungeheure, mit elementarer Gewalt auf eine revolutionäre Entladung hindrängende plutokratisch-proletarische Spannung sich plötzlich wie durch einen Zauber gelöst hätte. Und dabei spöttelt derselbe Cicero über den ehrlichen Doktrinär Cato, daß derselbe so spreche, als ob es sich um eine Abstimmung im platonischen Idealstaat und nicht unter der Hefe der Stadt Rom handelte!180

Eitel Dunst und Lüge! – Das ist die Sprache des Vorkämpfers der Ordnungsparteien in einer Zeit, wo das morsche Gebäude der Aristokratenherrlichkeit schon in allen Fugen krachte, wo das wirkliche Leben auf allen Gassen und Straßen, in Stadt und Land und Provinz nach sozialer, ökonomischer, politischer Erneuerung förmlich schrie und die[387] Vernichtung der bestehenden Ordnung durch den Cäsarismus und seine Proletarierheere fast schon unmittelbar vor der Türe stand!

Es ist ein Maß von politischer Heuchelei, das kaum noch überboten werden kann. Und wenn man in dieser Redeschriftstellerei auch noch so viel auf Rechnung politischer Kurzsichtigkeit oder jener starken Illusionsfähigkeit setzen mag, welche den Satten der Gesellschaft so leicht wird, überall ist doch der bewußt auf den Schein hinarbeitende Rhetor unverkennbar, merkt man sofort, daß »ein Roscius auf der Bühne steht«;181 und er selbst hat es sich ja nicht versagen können, mit der gleichen cynischen Offenherzigkeit, die wir schon an ihm kennen gelernt haben, über diese rein äußerliche rhetorische Mache zu witzeln. Als ob es noch der Selbstironisierung bedurft hätte, um den Leser erkennen zu lassen, wie wenig der Glanz dieser Sprache die Achtung vor den Tatsachen zu ihrem Rechte kommen läßt!182

»Ihr guten Götter« – meint er in einem Brief an Attikus – »wie warf ich mich in die Brust! Wenn mir je die Perioden und Schnörkel, die Kontraste und Antithesen nur so zuströmten, so war es damals. Kurzum: rauschender Beifall! Mein Thema war: das würdige Benehmen des Senatorenstandes, die Eintracht zwischen ihm und dem Ritterstand, die Einmütigkeit Italiens, die Erstickung der letzten Funken der Verschwörung, die Herstellung des Verkehrs und der Ruhe. Du weißt, welche Donner ich anschwellen lasse, wenn ich auf diese Dinge zu sprechen komme. Sie tönten so gewaltig, daß ich davon um so weniger sage, weil ich vermute, sie seien bis zu euch vernommen worden.« (!!)183 Spottet seiner selbst und weiß nicht wie! Die höchsten Interessen des Staates sind ihm gerade gut genug, um Stoff für das Bramarbasieren mit der eigenen Person zu liefern! Selbst die (uns verlorene) geschichtliche Darstellung seines Konsulates sollte diesem rein persönlichen Zwecke und dem rhetorischen Bedürfnis dienen. »Mein Buch« – schreibt er an Attikus – »hat die ganze Apotheke des Isokrates, alle Büchslein seiner Schüler und zum Teil auch aristotelische Schminktöpfe aufgebraucht. Das Griechenvolk ist starr vor Erstaunen.«184[388] – Und dabei fühlt sich der Mann noch zum Geschichtschreiber besonders berufen!

Das sind die Zeugen, die uns in erster Linie für die Geschichte der sozialen Ideen zu Gebote stehen! Und wie wenig vermögen sie vor einer kritischen Prüfung standzuhalten! Wahrlich, wenn irgendwo, so zeigt es sich hier, wie durch der Parteien Gunst und Ungunst das Bild des geschichtlichen Lebens getrübt und verfälscht ist.[389]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
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