Erstes Kapitel

Die Anfänge des Staates und der agrarische Kommunismus

Eine der hervorstechendsten Erscheinungen der Gesellschaftsverfassung Altroms ist die Gliederung der Bürgerschaft nach Familienverbänden, den sogenannten gentes. Diese auf dem Familienprinzip und der Idee der privatrechtlichen Verbrüderung beruhende Geschlechterverfassung hat allem Anscheine nach ursprünglich für das Leben des einzelnen eine tiefeingreifende Bedeutung gehabt, ist aber freilich in der Zeit, über die wir genauere Kunde haben, bereits in völligem Verfall begriffen, hat ihre frühere Stellung fast gänzlich eingebüßt. Und damit ist auch die Tradition über die Art der Verwirklichung des gentilizischen Gemeinschaftsprinzips im einzelnen, über das ursprüngliche Verhältnis des Individuums und seines Besitzes zur Gemeinschaft, frühzeitig verdunkelt worden.

So hat die soziale Theorie den freiesten Spielraum gehabt, an dieses geschichtlich so bedeutsame und zugleich in seinem ursprünglichen Wesen so wenig bekannte Sozialgebilde ihre Kombinationen anzuknüpfen. Und zwar gilt dies besonders für jene bereits früher charakterisierte Richtung, welche die Entwicklungsgeschichte des Gemeinschafts- und Individualprinzips im Agrarrecht als eine gesetzmäßige erwiesen zu haben glaubt.1 An der römischen Agrargeschichte glaubt sie ein klassisches Beispiel zu besitzen für das angebliche Gesetz der »Entwicklung vom agrarischen Kommunismus des idyllischen Gesellschaftszustandes der Gens zum agrarischen Individualismus«.2

Kann sich doch diese Ansicht sogar auf die strenge Geschichtswissenschaft berufen! Denn kein Geringerer als Mommsen hat den historischen Beweis dafür zu erbringen versucht, daß die italische Dorfgemeinde »bis in verhältnismäßig späte Zeit noch gleichsam als Hausmark, d.h. nach dem System der Feldgemeinschaft bestellt wurde«,3 einer Feldgemeinschaft, der er wenigstens in seiner römischen Geschichte für die älteste Zeit einen rein kommunistischen Charakter zuschreibt.4 Und er glaubt die Spuren dieser Epoche des »Gesamteigentums« sowohl[327] in der Tradition wie in den Institutionen der späteren Zeiten wiederzuerkennen.

Nach Mommsens Ansicht »weiß selbst die römische Rechtsüberlieferung noch zu berichten, daß das Vermögen anfänglich in Vieh und Bodennutzung bestand und erst später das Land unter die Bürger zu Sondereigentum aufgeteilt ward«. Eine Überlieferung, die sich in Ciceros Buch vom Staate finden soll, wo es von der Zeit des Romulus heißt: Tum erat res in pecore et locorum possessionibus, ex quo pecuniosi et locupletes vocabantur.5 – Allein wer wird in dieser Charakteristik, die offenbar aus der etymologischen Deutung der beiden letztgenannten Begriffe erschlossen ist, eine »Tradition« sehen, die sich als »Zeugnis« verwerten ließe! Und sagt Cicero überhaupt das, was ihn Mommsen sagen läßt? Es handelt sich ja bei ihm nicht um eine Gegenüberstellung der Zeit des Gemein- und Individualeigentums, sondern um eine solche der Natural- und der Geldwirtschaft. Damals – meint er im Gegensatz zur entwickelten Volkswirtschaft und zu dem mobilen Kapital seiner Zeit – bestand das Eigentum nur aus Vieh und Bodenbesitz; – wobei zwischen den beiden Sachgütern ein Unterschied gar nicht gemacht wird. Beide erscheinen in gleicher Weise als Gegenstand des Eigentums, der Boden ebenso wie das Vieh. Auch würde es den Eigentumsbegriff an sich keineswegs ausschließen, wenn der Bodenbesitz hier nur als eine Bodennutzung gedacht wäre. Denn auch an einer solchen ist Eigentum möglich. Aber diese Deutung von locorum possessio ist nicht einmal begründet, da Cicero das Wort possessio keineswegs nur im Sinne der Rechtssprache, sondern ganz allgemein auch zur Bezeichnung des Eigentums gebraucht.6

Und daß er hier wirklich Bodeneigentum im Auge hat, das beweist das Bild, welches er in dem unmittelbar vorhergehenden Satz (Romulus habuit plebem in clientelas principium discriptam) von der Gesellschaftsverfassung jener ältesten Epoche entwirft. Er denkt sich schon damals die ökonomische und soziale Differenzierung des römischen Volkes soweit fortgeschritten, daß er ihr geradezu ein ständisches Gepräge zuschreibt. Auf der einen Seite eine herrschende Aristokratie, auf der andern eine beherrschte Masse, die Plebs, deren rechtliche und soziale Lage er als ein Klientelverhältnis gegenüber den vornehmen[328] Herren auffaßt! Und diese fortgeschrittene ständische Organisation der Gesellschaft soll Cicero ohne Privateigentum an Grund und Boden für möglich gehalten haben?7

Ebenso unberechtigt ist es, wenn Cicero als Zeuge für die angebliche Rechtsüberlieferung angerufen wird, daß die Aufteilung des Grundes und Bodens zu privatem Eigentum »erst später« erfolgt sei. Denn Cicero spricht an der von Mommsen angeführten Stelle gar nicht von einem Übergang vom agrarischen Kommunismus zum Individualismus, sondern von der Aufteilung des im Kriege eroberten Landes, des dem Feinde abgenommenen ager publicus!8 Und dasselbe gilt für die zahlreichen anderen Berichte über die Assignation von Gemeindeland, die Mommsen ebenfalls ganz allgemein dahin deutet, daß sie »eine Ableitung des Privateigentums aus dem öffentlichen« enthalten; während es sich doch nur um die Entstehung bestimmter Eigentumsverhältnisse auf einer besonderen Art von öffentlichem Land handelt, nicht um die Entstehung des Privateigentums überhaupt. Übrigens kann bei Cicero von der Anschauung, die ihm Mommsen unterschiebt, schon deswegen nicht die Rede sein, weil für ihn gerade das Privateigentum eine primitive Institution ist, älter sogar als selbst das Königtum! Er läßt ja das Königtum selbst erst aus den Mißständen entstehen, zu denen nach seiner Ansicht die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse infolge des Fehlens einer starken Staatsgewalt geführt hatte! Weil die Armen von den Reichen widerrechtlich unterdrückt wurden, nahm man nach ihm seine Zuflucht zum Königtum, welches gleiches Recht für beide schuf.9 So wenig weiß Cicero von der angeblichen Rechtsüberlieferung über die sekundäre Entstehung des Privateigentums!

Außer diesen mißverstandenen »Zeugnissen«10 aber steht der Mommsenschen Theorie keine andere »Überlieferung« zu Gebote als die pseudohistorischen[329] Konstruktionen über die Einführung der Grenzsteine und des Terminalienfestes durch Numa!

Freilich ein Zeugnis, das womöglich noch weniger besagt als die andern! Denn wenn die Legende König Numa zum Urheber dieser Einrichtungen macht, so ist das nicht durch eine Überlieferung über die Entwicklungsgeschichte des Eigentums, sondern durch die allgemeine Idee veranlaßt, der die Figur des Numa überhaupt ihre Entstehung verdankt. Dieser allgemeinen Idee gemäß ist er gegenüber dem Schöpfer des Staates, dem Kriegsfürsten und Eroberer Romulus, der ideale Friedensfürst, Religionsstifter, Sittenlehrer, Sozial- und Wirtschaftsreformer.11 Er begünstigt den Ackerbau, weil derselbe »wie keine andere Erwerbsart die Liebe zum Frieden fördert«. Indem er sein rauhes Kriegervolk zum Feldbau anhält, »flößt er ihm gleichsam wie in einem Liebestrank den Geist des Friedens ein« und erstickt den Geist der Gewaltsamkeit sowie die übermäßige Sucht, sich auf Kosten anderer zu bereichern.12 Und indem er so durch die sittigende Kraft des Ackerbaues und der von ihm eingeführten Institutionen in das Volksleben starke »Motive zur Enthaltsamkeit« und »Zwangsmittel zur Gerechtigkeit« einführt, wandelt er den rohen Kriegerstaat in einen Sozialstaat um, mit dessen idealer Harmonie selbst der vollkommenste Familienhaushalt sich nicht messen konnte.13 Die Sozialisierung des Volkes ist in einem Umfang gelungen, daß die Gemüter der Bürger zusammenstimmen wie die Töne des schönsten Saitenspiels.14 Kurz, Numa ist der ethische Sozialist auf dem römischen Königsthron.

Konnte jemand weniger berufen sein als gerade er, eine etwa vorhandene gemeinwirtschaftliche Organisation abzuschaffen und durch das Privateigentum zu ersetzen, also gerade das zu zerstören, womit auch die geschichtlich Romantik der Römer die Vorstellung eines[330] idealen Friedenszustandes der Gesellschaft verband?15 In der Tat findet der Numa der Legende keineswegs den Kommunismus als bestehende Rechtsordnung vor, sondern im Gegenteil eine ausgeprägt individualistische Gestaltung der Gesellschaft, ganz entsprechend dem Geiste der Gewaltsamkeit, von dem dieselbe vor seiner Regierung beherrscht erscheint. Er findet nicht Gemeinschaft, sondern den oft in brutalen Formen geführten Kampf um das Eigentum, nicht die mit der Gemeinschaft verbundene Gleichheit, sondern schroffe Besitzesungleichheit, den Gegensatz von arm und reich und infolgedessen eine heftige soziale Bewegung!16 Ebendeshalb tritt er ja auch als Sozialreformer auf. Er ist der mythische Vorläufer der Gracchen. Denn er hat das von dem Vorgänger im Kriege gewonnene Gebiet und einen Teil des bisherigen ager publicus an die Armen aufgeteilt, die ihre Besitzlosigkeit zu natürlichen Gegnern der Reichen machte und mit revolutionärer Gesinnung erfüllte.17 Er bekämpft und beseitigt die Armut und damit den »Zwang zum Unrecht«.18 Auch seine Gesetze über die Ummarkung des Eigentums haben dieselbe sozial-ethische Tendenz, die übermächtig gewordenen individualistischen und egoistischen Tendenzen einzudämmen. Da das Institut des Privateigentums einmal zu Recht bestand, so konnte es sich für diesen Numa nur darum handeln, den Kampf um das Eigentum in friedliche Bahnen zu lenken, Unrecht und Gewalt aus demselben möglichst auszuschalten. Die genaue Fixierung der Ackergrenzen durch Ummarkung und Grenzsteinsetzung verhütet ja an sich schon viele Streitigkeiten und Übergriffe;19 und noch mehr wird die gewissenhafte Achtung des nachbarlichen Eigentums dadurch verbürgt, daß Marken und Grenzsteine unter göttlichen Schutz gestellt werden. Indem das Gesetz Numas denjenigen, der, den Gott Terminus mißachtend, einen Grenzstein auspflügt, samt seinem Vieh verflucht und den unterirdischen Göttern verfallen erklärt, so daß ihn jedermann ungestraft töten darf, erzieht er das Volk zur Selbstgenügsamkeit und zur Beherrschung der Gelüste nach des Nachbars Gut.20 Und wie er den Gott Terminus als »Erhalter des Friedens und Zeuge der Gerechtigkeit« über die Marken der Feldfluren wachen läßt, so hält er auch auf strenge Scheidung[331] zwischen dem, was des Volkes und dem, was des einzelnen ist. Numa ist der erste, der die Grenzen des ager publicus durch Grenzsteinsetzung genau feststellt und dadurch den kleinen Mann in der Nutzung der Gemeinweide gegen die Übergriffe der anliegenden Grundbesitzer schützt, deren Praxis, ein Stück Gemeindeland nach dem andern durch Verschieben der Ackerraine an sich zu ziehen, aus der späteren Geschichte nur zu bekannt ist.21 Und endlich heiligt er auch die Grenzen zwischen Volk und Volk. Die römische Landesmark hätte nämlich damals gerade so weit gereicht wie der Wille des Volks und der römische Speer! Dem machte der »gerechte« Numa, der »Staatsmann und Philosoph«, ein Ende, indem er durch die Ummarkung des Volkslandes und die Heiligung der Landesgrenzen auch in den Beziehungen nach außen eine Ära des Friedens herbeiführte, die unter seiner langen Regierung niemals durch Krieg und Blutvergießen gestört ward.22 Die Nachbarvölker sind gegen ein Volk, das – ganz wie in dem idealen Staate Platos – der Verehrung der Götter sich geweiht hat, von solcher Ehrfurcht erfüllt, daß sie in der Verletzung desselben einen Frevel gesehen hätten!23

Das ist der Ideenkreis, in dem sich die Legende bewegt. Er gehört in die Geschichte der sozialen Ethik, nicht in die des agrarischen Kommunismus. Er wurzelt auch nicht in Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern in den Stimmungen einer Zeit, in der die libido agros continuandi »bei so vielen das Unterscheidungsvermögen für das, was fremdes und was eigenes Gut sei, verwirrt hatte und nicht mehr das Gesetz die Grenzen des Eigentums bestimmte, sondern die unersättliche Habgier«.24 Als das ideale Gegenbild zu dieser Epoche des sozialen Verderbens ist die selige Friedenszeit gedacht, in der noch jedermann »mit dem zufrieden war, was er besaß, und noch nicht daran dachte, sich von anderer Gut mit List oder Gewalt auch nur das geringste anzueignen«.25 Ein goldenes Zeitalter, das ein Götterliebling geschaffen und dessengleichen man seitdem nicht wieder gesehen. Wie die göttliche Huldin des Reiches und des Herrschers bei seinem Abscheiden in Tränen zum Quell zerfließt, so ist das hehre Friedensideal schon im Kampfesgetümmel der nächsten Zeit zerronnen.

[332] Man sieht: die sozialpsychologischen Entstehungsmotive der Numaromantik liegen vollkommen klar zutage; und es bedarf eigentlich kaum noch des Hinweises darauf, daß aus der Numalegende schon aus dem Grund nicht auf eine allgemeine Rechtsüberlieferung über die Geschichte des Privateigentums geschlossen werden kann, weil die römische »Tradition« über den Kult des Terminus keineswegs einig ist. Der Numalegende steht eine andere entgegen, welche dem Gott schon in der Zeit des Königs Tatius, also in den Anfängen des Staates, einen Altar erbauen und eine Kapelle stiften läßt!26

Mommsen hat übrigens selbst die Unzulänglichkeit dieser Beweismittel gefühlt. Denn er ergänzt sie durch den Hinweis auf eine Reihe anderer Momente, von denen er meint, daß sie für seine Auffassung noch »besseres Zeugnis gewähren«.

Es ist die dem römischen Recht eigentümliche technische Bezeichnung des Privatvermögens als »Häuslerschaft« (familia) und Viehstand (pecunia), welche nach Mommsen »entschieden« anzeigt, daß »namentlich erbrechtlich der Boden selbst nicht zur Habe gehörte«, sowie die Bezeichnung des Eigentumserwerbes als Handangreifen (mancipatio), die ebenfalls nur auf bewegliches Vermögen passe, nicht auf einen Verkehr in Grundstücken.27

Allein so zwingend dieses Argument auf den ersten Blick erscheint, in Wirklichkeit beweist es für unsere Frage nichts. Denn die ursprüngliche Verschiedenheit der rechtlichen Behandlung des Bodens und des beweglichen Gutes, die sich aus den erstgenannten Bezeichnungen für das ältere Recht ergibt, würde sich zur Genüge auch aus jener strengen Gebundenheit des individuellen Bodeneigentums zugunsten der Familie erklären, wie wir sie bereits als eine charakteristische Eigentümlichkeit älterer Agrarverfassungen kennen gelernt haben.28 Eine Gebundenheit, die keineswegs notwendig auf einem agrarischen Kommunismus zu beruhen braucht. Was aber die erwähnte Form des Eigentumserwerbes betrifft, so ist es doch sehr fraglich, ob der unbewegliche Besitz sich wirklich dem manu rem adprehendere entzieht. Man hat mit Recht bemerkt, daß auch bei unbeweglichen Sachen die mancipatio möglich war, indem z.B. – wie etwa das Horn des Rindes – der Türpfosten des Hauses oder die Ackerkrume mit der Hand ergriffen ward.29 Übrigens erklärt sich auch diese Form der Eigentumsübertragung zur Genüge daraus,[333] daß in einer Zeit strenger agrarischer Gebundenheit naturgemäß der Boden für das Verkehrsleben noch sehr wenig zu bedeuten hatte.

Nun findet freilich Mommsen seine Ansicht über den »ursprünglichen Ausschluß des Bodens vom persönlichen Eigentum« bestätigt durch die römische »Legende« von der Entstehung des Bodeneigentums, wonach König Romulus als »Erbgut« (heredium) jedem Bürger ein Grundstück von zwei Morgen angewiesen haben soll.30 Und indem er damit die Tatsache verbindet, daß noch in den Zwölf Tafeln das Wort heredium im Sinne von hortus vorkam, sieht er in der genannten Legende »in der üblichen historischen Einkleidung ausgesprochen, daß das private Bodeneigentum sich früher nicht auf den Acker erstreckte, sondern auf Haus und Garten beschränkt hat und diese allein dem Erben folgten«.

Dagegen ist einzuwenden, daß eine »Legende« als historische Einkleidung einer bloßen Ansicht von der Vergangenheit doch nur dann den Wert eines bestätigenden Zeugnisses beanspruchen könnte, wenn diese Ansicht nachweislich aus Tatsachen oder Institutionen erschlossen wäre, welche wirklich einen zwingenden Schluß auf die Vergangenheit zulassen. Allein wie problematisch ist gerade hier die Grundlage der Legende! Es ist offenbar das künstliche Zahlenschema, nach welchem sich die antiquarische Afterwissenschaft Volk und Land ursprünglich gegliedert dachte. Dieselbe wußte genau zu berechnen, daß das alte Rom aus 30 Kurienbezirken bestand und jede Kurie 100 Hausstände umfaßte. Wie hätte sie nicht auch auf die für die Späteren so bedeutsame Frage nach dem Umfang der Wirtschaftssphäre eines solchen altrömischen Hausstandes eine Antwort haben sollen? Die Antwort war ja nicht schwer! Man kannte in der römischen Flurteilung ein Flächenmaß von 200 Morgen, welches centuria hieß, d.h. einen Komplex von 100 Maßeinheiten oder sortes darstellte.31 Das paßte vortrefflich zu der Kurie mit ihren 100 Genossen. Man brauchte nur anzunehmen, daß die Ackerhunderte ursprünglich die Flur einer Kurie bildete, an der jeder einzelne Genosse mit einem Los von zwei iugera beteiligt war,32 – und das[334] Bild der altrömischen Agrarverfassung war so gut wie fertig. Ein Bild, welches sich den Späteren um so mehr empfahl, als es die von der Gegenwart so grell abstechende altrömische Bedürfnislosigkeit und Einfachheit ins hellste Licht setzte. »Damals« – sagt Plinius ganz im Sinne dieser die Vergangenheit idealisierenden Anschauungsweise – »damals genügten dem römischen Volke zwei Morgen Landes für den Mann, und keinem wurde ein größeres Maß zugeteilt, während jüngst den Sklaven Neros dieses Landmaß für ihre Lustgärten nicht groß genug erschien. Sogar Fischteiche will man jetzt geräumiger!«33 Endlich hat hier auch offenbar der Umstand mitgewirkt, daß man sich das älteste Rom nach dem Schema der Koloniegründungen eingerichtet dachte, bei denen gerade in älterer Zeit die Assignation von zwei iugera vorkam.34

Es ist kaum verständlich, wie man einer in ihren Entstehungsmotiven so durchsichtigen späten Konstruktion irgendeine Beweiskraft für unsere Frage zuschreiben kann. Und noch weniger begreiflich ist es, daß unter dem Banne der herrschenden Mommsenschen Anschauung selbst ein Forscher wie Meitzen es ohne weiteres als Tatsache hinstellen kann, daß »in der gesamten Zeit der Könige und – wie es scheint – bis 389 v. Chr. keinem pater familias, sei es Patrizier oder Plebejer, mehr als zwei iugera Sondereigentums zugewiesen worden sind«!35

Dazu kommt, daß der Gedanke, dem die Legende nach Mommsen Ausdruck verleihen soll, derselben vollkommen ferne liegt, ja daß sie gerade das Gegenteil von dem besagt, was Mommsen in sie hineingelegt hat! Indem die Legende die romulischen iugera als Anteil an einer Ackerzenturie auffaßt, bezeichnet sie dieselben ausdrücklich als Acker – nicht als Gartenland.36 Das Privateigentum am Ackerland ist ihr demnach so alt wie die Flurteilung selbst! »Bei der Gründung Roms« – sagt Ihering mit Recht – »teilt Romulus das Ackerland aus, indem er jedem Bürger zwei Morgen als Erbeigen (heredium) zuweist, was bei der Bedeutung von Romulus als Personifikation der[335] Urzeit soviel besagt wie: das Privateigentum am Ackerland ist eine Einrichtung der Urzeit.«37

Von einer Priorität des Eigentums an Haus und Garten weiß also die Legende nichts, schließt dieselbe vielmehr von ihrem Standpunkt geradezu aus. Es hieße daher diesen vollkommen klaren Sachverhalt völlig verdunkeln, wenn man mit dieser Version der Entstehungsgeschichte des Bodeneigentums in der Weise Mommsens irgendeine andere Überlieferung verquicken wollte, in der etwa das Eigentum an Haus- und Gartenland älter erscheint als am Pflugland. Wir würden, wenn es eine solche Überlieferung gäbe, einfach das Nebeneinanderbestehen zweier sich widersprechender Traditionen zu konstatieren haben.

Übrigens fragt es sich doch noch sehr, ob das Zwölftafelrecht wirklich die Aufschlüsse über die geschichtliche Entwicklung des Eigentums am Acker- und Gartenland gewährt, welche die Theorie von dem agrarischen Kommunismus Altroms aus ihr gewonnen zu haben glaubt. Was von dem Zwölftafelrecht für unsere Frage verwertbar ist, beschränkt sich auf die kurze Bemerkung des Plinius, daß es den Bauernhof als hortus bezeichnete, das Gartenland aber als Erbe (heredium).38 Und der Sinn dieser Worte ist keineswegs unzweideutig. Denn daraus, daß für die Zwölf Tafeln der hortus ein heredium war, folgt ja nicht mit absoluter Notwendigkeit, daß dies ausschließlich und allein beim hortus der Fall war, wie denn in der Tat die römische »Rechtsüberlieferung« selbst durch den Sprachgebrauch der Zwölf Tafeln sich nicht hat verhindern lassen, schon dem König Romulus die Aufteilung von heredia auf der Ackerflur zuzuschreiben.

Allein selbst zugegeben, daß die Zwölf Tafeln den Begriff des heredium grundsätzlich auf das Gartenland beschränken, so würde daraus doch mit Sicherheit zunächst nur so viel hervorgehen, daß die Rechtsstellung des Gartenlandes ursprünglich eine andere war als die des Ackers. Sowie wir aber versuchen, das Wesen und die Motive dieser verschiedenen Rechtsstellung zu bestimmen, zeigt sich sofort die ganze Unsicherheit der Erkenntnis, welche wir aus der aphoristischen Notiz des Plinius schöpfen können. Möglich ist es ja immerhin, aus dieser Sonderstellung des Gartenlandes im Recht den Schluß zu ziehen, daß[336] auch der ager Romanus einmal eine Epoche der Feldgemeinschaft durchgemacht hat, in der der Prozeß der Eigentumsentwicklung neben der Hofstätte erst das anliegende Gartenland ergriffen hatte, während der Acker erst viel später aus der Flurgemeinschaft ausgeschieden und ins Privateigentum übergegangen wäre. Allein diese Deutung ist leider nicht die einzig mögliche. Zulässig ist noch eine andere, welche an die bereits erwähnte Entwicklung des Privateigentums von der Gebundenheit zur Freiheit anknüpft. Unter heredium versteht die römische Rechtsüberlieferung ein Gut, welches seiner Natur nach bestimmt war, »dem Erben zu folgen«,39 dessen Veräußerung also jedenfalls in der Zeit, die den Begriff prägte, zugunsten des Erben durch Recht oder Sitte ausgeschlossen oder wesentlich beschränkt war. Als dann das Bedürfnis der fortschreitenden Volkswirtschaft diese Gebundenheit sprengte, ist es begreiflich, daß das Recht der freien Veräußerung zunächst am Ackerland sich entwickelte, während der Kern des Besitzes, die Hofstätte mit dem Gartenland, deren Verlust den Bürger zum Proletarier machte,40 noch länger als heredium mit schützenden Schranken umgeben blieb. – Man wird schwerlich leugnen können, daß diese Erklärung sogar eine größere Wahrscheinlichkeit für sich hat als die andere.

Was endlich das letzte Argument Mommsens für das ursprüngliche Gesamteigentum der Sippe betrifft, nämlich das Recht der Gentilen an dem Nachlaß des erblos verstorbenen Sippengenossen, so liegt durchaus kein Grund vor, mit Mommsen anzunehmen, daß es sich hier um eine »Rückkehr der Immobilien in die Disposition des Geschlechts handelt, dem dieselbe eigentlich zusteht«.41 Auch Sklaven und Viehstand unterliegen diesem Erbrecht, das sich zur Genüge aus dem der Gentilverfassung zugrunde liegenden Familienprinzip erklärt, also keineswegs notwendig ein Gesamteigentum des Geschlechts voraussetzt.42

Noch weniger nachweisbar als der Gesamtbesitz ist die Samtwirtschaft der ursprünglichen Agrargenossenschaft.

Mommsen kann dafür nur ein einziges »positives Indizium« anführen,[337] nämlich das Wort colonia. Dasselbe hat eine doppelte Bedeutung: es bezeichnet die Wirtschaft des einzelnen Bauern (colonus), die Bauernhufe, wie auch die Gesamtheit der irgendwo zusammen angesiedelten Bauern, die Bauernschaft. Nun meint Mommsen, es empfehle sich nicht, diese doppelte Bedeutung als ursprünglich anzunehmen, es sei vielmehr »der mit der späteren Wirtschaftsweise in Widerspruch stehende Singular darauf zurückzuführen, daß anfänglich die coloni als Gesamtheit wirtschafteten«. Colonia sei also ursprünglich die »in ältester Zeit von allen an der Samtwirtschaft beteiligten coloni bestellte Flur«.43

Aus dieser Annahme würde folgen, daß die Anwendung des Wortes auf den Einzelhof erst das Ergebnis des Überganges von der Gemeinwirtschaft zur Individualwirtschaft ist. Eine Konsequenz, die doch zu starken Bedenken Anlaß gibt. Denn der Bedeutungswechsel – zuerst gemeinwirtschaftlich organisiertes Genossenschaftsland, dann Einzelwirtschaft! – ist ein so radikaler, daß uns nur sehr zwingende Gründe bestimmen könnten, einen solchen Übergang des Begriffes von dem einen System auf das andere, grundsätzlich verschiedene anzunehmen. Nun beruht aber die Begründung Mommsens auf einem Zirkelschluß. Er meint: die älteste Feldflur habe colonia heißen müssen und habe allein so heißen können, weil eben der ursprüngliche Feldbau auf Samt wirtschaft beruhte. Er setzt hier also das, was erst durch die etymologische Erklärung von colonia bewiesen werden soll, bereits als Tatsache voraus! Warum soll ferner der Singular colonia mit der späteren Wirtschaftsweise in Widerspruch stehen? Als ob das Wort mit der Wirtschaftsweise überhaupt etwas zu tun hätte! Colonia ist einfach Kolonen-, d.h. Bauernland, was auf jede Form der Siedlung, sei es Einzelhufe oder Dorf, und auf jede Form der Bewirtschaftung paßt und daher auch einen Einblick in die Genesis der Agrarverfassung in keiner Weise gewährt. Wir würden die etymologische Mythenbildung auf das sozialgeschichtliche Gebiet übertragen, wenn wir auch nur mit »einiger Wahrscheinlichkeit« annehmen wollten, daß »die ersten coloniae der Zeit einer gemeinwirtschaftlichen Agrarverfassung noch angehören oder naheliegen«.44

So haben sich alle angeblichen »Überreste des alten Samtbesitzes« als das Produkt willkürlicher Kombinationen herausgestellt. Wie steht[338] es nun aber mit dem Gesamtergebnis dieser Beweisführung: der angeblichen sozialen und wirtschaftlichen Verfassung der alten Geschlechtsgenossenschaften?

Zunächst hat Mommsen, der ursprünglich glaubte, daß Feldgemeinschaft und Geschlechtergemeinde innerlich zusammenhängen, später selbst zugegeben, daß diese Genossenschaften doch keineswegs notwendig als Träger des ursprünglichen Bodeneigentums betrachtet werden müssen, daß als solcher auch andere Verbände, so z.B. der Staat, denkbar sind, wie das ja in der Tat auch vielfach behauptet worden ist.45 Aber auch das Bild der von Mommsen vorausgesetzten Wirtschaftsverfassung des Geschlechtsverbandes zeigt recht schwankende und unsichere Züge.

Zwar wird einmal mit voller Bestimmtheit die als Hausmark bestellte Geschlechtsmark als geschichtliche Tatsache vorgeführt und mit derselben Bestimmtheit eine rein kommunistische Organisation derselben behauptet, d.h. nicht bloß Gesamteigentum der Genossenschaft, sondern sogar gemeinsame Bewirtschaftung und gemeinsame Regelung der Verteilung des Ertrages unter die einzelnen Hausstände.46 Eine Ansicht, die Mommsen später im Römischen Staatsrecht noch einmal dahin formuliert hat, daß »der ursprüngliche Feldbau auf einer wie immer geordneten Samtwirtschaft beruht«.47 Allein diese Samtwirtschaft verschwindet ihm bei anderer Gelegenheit, wo es sich für ihn um die »Erwägung der praktischen Ausführbarkeit« handelt, sozusagen unter den Händen. Es drängt sich ihm nämlich bei dieser Erwägung der Gedanke auf, daß neben Samtbesitz des Bodens ja gleichzeitig Individualbesitz an Sklaven und Vieh bestand und daß dies Nebeneinander beider Besitzesarten »undenkbar sei ohne Annahme einer faktischen Bodenteilung irgendwelcher Art«.48 Wie sich dieselbe aber gestaltete, wagt er jetzt nicht mehr zu entscheiden!

Er meint: »Wir werden sie nie erraten und noch weniger erraten,[339] inwieferne in die Verteilung des Bodens stabile Ordnungen und Beschlüsse des einstmals wohl mehr als später handlungsfähigen Geschlechtes eingegriffen haben.« Damit ist die sonst als geschichtliche Tatsache vorausgesetzte gemeinsame Bodenbestellung und Ertragsregulierung der »Samtwirtschaft« wieder völlig aufgegeben! Denn die Aussonderung von Bodenanteilen für die einzelnen, von der er hier spricht, bedingt ja zugleich Sonderwirtschaft. Dies tritt noch deutlicher da hervor, wo Mommsen die verschiedenen Formen erwägt, welche diese Bodenteilung möglicherweise angenommen hat. Er meint, man könne an einen Turnus in der Benützung der Landlose denken oder an eine Zuweisung des einzelnen Loses auf Lebenszeit oder aber an dauernde Zuteilung an die Genossen mit Einschluß ihrer Nachkommenschaft, »so daß, da beim Erlöschen der Familie auch das bewegliche Gut an das Geschlecht zurückfällt, das Fehlen des individuellen Bodeneigentums nur im Ausschluß des Verkaufsrechtes zum Vorschein kommt«. Ja, er ist sogar geneigt, diesen letzteren Rechtszustand, bei dem kaum mehr von einem Samteigentum, geschweige einer Samtwirtschaft die Rede sein kann, für den wahrscheinlichsten zu halten!

So erscheint die kommunistische Agrargenossenschaft bei ihrem genialsten Verteidiger, der ihr Bild in so klaren und scharfen Umrissen vor uns erstehen ließ, am Ende doch wieder als ein ganz nebelhaftes Gebilde, das sich ihm selbst bei näherem Zusehen so gut wie völlig verflüchtigt. Was bleibt uns da anderes übrig als das resignierte Geständnis, daß, was etwa die älteste Agrarverfassung an gemeinwirtschaftlichen Elementen enthalten haben mag – und wer wollte diese Möglichkeit leugnen? – spurlos untergegangen ist. Kein Wunder, wenn man erwägt, wie sehr »dem gesamten römischen Agrarwesen die Tendenz eingepflanzt war, frühzeitig modernen wirtschaftlichen Gesichtspunkten zugänglich zu werden«,49 wie fortgeschritten demgemäß – man darf wohl sagen, wie relativ modern – die Zustände waren, welche uns schon in der ältesten Rechtsaufzeichnung Roms, im Zwölftafelrecht, entgegentreten. Das Privateigentum erscheint hier – im 5. Jahrhundert v. Chr.! – in so ausgebildeter Gestalt, die Mobilisierung des Grundes und Bodens ist soweit fortgeschritten, daß, wenn das agrarische Eigentum auf römischem Boden eine gemeinwirtschaftliche Entwicklungsphase durchgemacht hat, dieser Zustand unmöglich, wie Mommsen glaubt, »bis in verhältnismäßig späte Zeit« bestanden haben[340] kann. Hier könnte nur eine Epoche der Volksgeschichte in Frage kommen, die weit jenseits aller und jeder Überlieferung liegt.

Nun hat man freilich gemeint, schon der Staatsbegriff Roms spreche für den Kommunismus der römischen Vorzeit. »Der Staat wie die Gemeinde« – sagt Nissen – »wird von den Römern als eine vermögensrechtliche Gemeinschaft aufgefaßt, an der alle Bürger beteiligt sind. Nach dieser Auffassung gehört der Grund und Boden in den Provinzen dem römischen Volke und wird den bisherigen Inhabern nur auf Widerruf gegen eine Abgabe zur Benützung überlassen; anderseits ist es ganz folgerichtig, wenn der Reinertrag aus diesen Landgütern des Volkes (praedia populi Romani) zu dessen Gunsten verwandt, sogar in der Form einer Staatsrente an die Bürger ohne die mindeste Gegenleistung gezahlt wird.« Es ist »die Samtwirtschaft« in der durch ihren riesenhaften Umfang bedingten Entartung.50 Dagegen ist zu erwidern, daß sich dieser Staatsbegriff zur Genüge aus der Eigenart des antiken Stadtestaates erklärt und uns daher ganz ähnlich auch in der griechischen Polis entgegentrat.51 Im Boden des Stadtstaates wurzelt diese »riesenhafte Samtwirtschaft«, nicht in einem agrarischen Kommunismus det Vorzeit.[341]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
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