Fünftes Kapitel

Die Kritik der Gesellschaft

Es liegt auf der Hand, daß inmitten einer Gesellschaft, in der der Zweifel an der Berechtigung des Bestehenden schon so bald erwacht ist, dieser Zweifel mit innerer Notwendigkeit zu einer immer radikaleren Kritik der Grundlagen dieser Gesellschaft führen mußte.

Es ist ja alter Kampfesboden! Und so verschieden die gesellschaftlichen Gegensätze der älteren Republik von denen sind, welche den hundertjährigen Bürgerkrieg entfesselt und der Republik ihr Grab gegraben haben, die ersten Anzeichen einer antikapitalistischen Strömung sind doch schon in den ständisch-sozialen Bewegungen der älteren Republik unverkennbar. Der Kampf gegen die Überlegenheit des Kapitals, insbesondere gegen die »Wucherer«, die – um die Worte der alten Komödie[417] zu gebrauchen – »mit Zinsen die Leute schinden«, hat ja, wie wir sahen, die plebejische Bauernschaft bis zu dem utopischen Versuche geführt, sich mit einem Schlag von dem Drucke des Kapitals für immer zu befreien.1 Und diese antikapitalistische Strömung tritt dann natürlich mit verstärkter Kraft wieder auf in der Zeit der großen sozialen Wandlungen, die für einen so beträchtlichen Teil der italischen Bauernschaft hoffnungslosen Niedergang bedeutete.

Wir vermögen die Einwirkungen, welche die plutokratisch-proletarische Spaltung auf das Denken und Empfinden des Volkes ausgeübt hat, wenigstens mittelbar noch einigermaßen in der historischen Literatur zu erkennen, die ja in gewisser Hinsicht den Niederschlag der inneren Kämpfe des letzten Jahrhunderts der Republik bildet. Diese Literatur hat nämlich die einzelnen Züge für die Schilderung der Klassenkämpfe der alten Republik ohne weiteres den Verhältnissen entnommen, unter denen sich die sozialen Kämpfe seit den Zeiten der Gracchen bis auf Julius Cäsar abspielten. Die Demagogen und Aristokraten des Livius und Dionys2 sind den Originalen dieser Revolutionsepoche nachgezeichnet, so daß wir in der römischen Quasihistorie3 des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. bis zu einem gewissen Grade ein Spiegelbild der sozialen Geschichte Roms im letzten Jahrhundert der Republik besitzen.

Mitten in die Probleme, die der soziale Antagonismus erzeugte, führt uns die Rede hinein, welche Dionys dem »Philanthropen« und Volksfreund auf dem römischen Königsthron, dem Servius Tullius, in den Mund legt. Er läßt den von der römischen Tradition als Vorkämpfer der politischen Emanzipation der Plebs gefeierten Volkskönig Forderungen und Ideen aussprechen, die man in den Zeiten der Gracchen, Saturninus, Catilina usw. gewiß oft genug vernehmen konnte. »Ich halte dafür« – sagt Servius – »daß das gemeine Land, welches die Bürger[418] mit ihrem Blute erworben, nicht den Schamlosesten, sondern nur solchen zufalle, welche nicht im Besitze eigenen Ackerlandes sind.« Es widerspricht nach seiner Ansicht dem Begriff der Freiheit, daß der Bürger anderen diene und das Gut eines andern bestelle, statt seines eigenen.4 Denn wie »kann sich freier Bürgersinn bei Leuten finden, die nicht einmal das besitzen, was das Bedürfnis des Tages fordert«?5 Es widerspricht auch dem Geiste der von dem königlichen Redner proklamierten Gleichheit und Brüderlichkeit,6 daß – wie er unwillig bemerkt – manche in ihrem Klassenhochmut soweit gehen, daß sie den gemeinen Bürger, bloß weil er arm ist, beschimpfen zu können glauben und ihn kaum noch als einen freien Mann gelten lassen!7

Nicht minder lehrreich ist die Art und Weise, wie bei Dionys in der Darstellung der Anfänge des Ständekampfes der gegnerische, sozialkonservative Standpunkt im Senate durch den Patrizier Appius Claudius verfochten wird. Eine Erörterung, die wieder recht deutlich zeigt, wie energisch schon das politische Denken der Alten die Probleme beschäftigt haben, die der Klassenkampf unserer Gegenwart aufdrängt. Der Redner beschäftigt sich nämlich – ganz modern – besonders mit der psychologischen Seite des Klassenkampfes und entwickelt dabei ganz ähnliche Gesichtspunkte, wie sie neuerdings in der Diskussion zwischen dem Kathedersozialismus und seinen Gegnern geltend gemacht worden sind.

Gegenüber dem volksfreundlichen Valerier, der sich für einen Antrag auf Schuldenerlaß ausgesprochen und seine Argumentation u.a. durch geschichtliche Beispiele, wie Solons Sozialreform, und durch die allgemeine Erwägung gestützt hatte, daß man durch die Verweigerung sozialer Reformen die Revolution heraufbeschwöre, erklärt der Sprecher der Konservativen – ähnlich wie die Gegner des Kathedersozialismus gegenüber Wagner und Schmoller8 –, daß der Schluß von der sozialen[419] Reform auf den sozialen Frieden ein Trugschluß sei. Es sei eine Illusion zu glauben, daß man durch derartige wirtschaftspolitische Maßregeln den Klassenkampf beschwören könne. Im Gegenteil! Die Gegensätze würden nur noch verschlimmert, da jetzt die Unzufriedenheit auch noch in die Reihen der Besitzenden getragen werde!9 Ohne Zweifel würden sich alle, die man um ihr Geld bringen wolle, bitter beschwert fühlen10 und sich entschieden dagegen auflehnen, daß der Staat ihr von den Vätern ererbtes oder durch Fleiß und Sparsamkeit erworbenes Eigentum »zum Gemeingut mache«,11 zugunsten von Leuten, die Appius – ganz im Geiste der oben geschilderten ciceronischen Beredsamkeit – als die »schlechtesten und faulsten« in der Bürgerschaft bezeichnet. Es sei eine große Torheit, über die »bessere« Klasse einfach zur Tagesordnung überzugehen und dem schlechteren Teil Konzessionen zu machen, indem man das Vermögen anderer unter die schlechtesten Bürger aufteile und diejenigen berauben, die es rechtschaffen erworben hätten.12 Dagegen kennt der Redner die Furcht vor dem roten Gespenst nicht. Wenn die Polizei ihre Schuldigkeit tue, sei von seiten der Armen und gesellschaftlich Schwachen ein Umsturz nicht zu befürchten.13 Wohl aber würden die Besitzenden zur Gewalt greifen, wenn man ihnen zumute, sich von den unteren Klassen schlecht behandeln zu lassen.

Derartige Geschenke an die Armen auf Kosten der Besitzenden würden nur den Klassenhaß wachrufen und volkswirtschaftlich geradezu vernichtend wirken. Mit dem Kredit würde der Verkehr überhaupt zerstört werden und der Staat am Notwendigsten Mangel leiden, da Ackerbau, Schiffahrt, überseeischer Handel bald aufhören und der Arme keinen rechtschaffenen Arbeitserwerb mehr haben würde. Denn zu alledem brauche man Kapital, und die, welche ein solches besäßen, würden sich in Zukunft hüten, ihr Geld einem andern auf Borg anzuvertrauen. Die Folge davon aber würde wiederum die sein, daß der Wohlstand[420] beneidet und der Geist der Arbeitsamkeit vernichtet wird, daß der Liederliche und Unredliche und, wer fremdes Gut an sich bringt, besser daran ist als derjenige, der das Seinige zusammenhält.

Man solle doch nicht die schlechte Gewohnheit in den Staat einführen, den unverständigen Wünschen der unteren Volksklassen sofort nachzugeben. Diese Unvernünftigen bekämen niemals genug. Kaum hätten sie eine Forderung durchgesetzt, so verlangten sie sofort anderes und Größeres und so gehe das fort bis ins Unendliche!14 Gelte dies schon von dem einzelnen, so sei die Sache noch schlimmer, wenn das Volk in Masse fordernd auftrete. Denn was der einzelne aus Furcht vor den Mächtigen nicht wage, das täten sie vereinigt unbedenklich, da sich jeder durch die Menge der Mitfordernden stark fühle.15 Man müsse daher den unersättlichen und grenzenlosen Wünschen der unvernünftigen Menge gleich von Anfang an eine feste Schranke setzen, wenn die Bewegung noch schwach sei, damit man sie nicht, wenn sie stark und mächtig geworden, gewaltsam niederschlagen müsse. Denn so wie die menschliche Natur einmal sei, wirke es viel aufreizender, wenn einmal gemachte Zugeständnisse wieder entzogen, als wenn bloße Hoffnungen nicht erfüllt werden. An dem Beispiel vieler griechischer Staaten sehe man, welch furchtbares Unheil Regierungen, die hier nicht vorbeugen, über die Gesellschaft heraufbeschwören, und wie dann die übermächtig gewordene Bewegung über sie hinwegschreitet. Lasse sich die Regierung vom Volke beherrschen, so sei das geradeso, wie wenn im einzelnen Menschen der Geist die Herrschaft über die Begierden des Leibes verliere!

Kann es eine klarere und schärfere Formulierung des gerade gegenwärtig in den sozialpolitischen Debatten so entschieden in den Vordergrund[421] tretenden Gedankens geben, daß es »ein Mißverständnis des Menschen«, daß es psychologisch falsch und unhistorisch sei, wenn man glaube, die »Befriedigung der Ansprüche der Masse sei der soziale Friede und nicht vielmehr eine Aufforderung an die Bedachten, neue Postulate anzumelden«?16 Die Aufforderung, die Appius Claudius an den Senat richtet, entspricht genau der Bemerkung Bismarcks in der Kronratssitzung vom 24. Januar 1890: »Es ist der Schein zu vermeiden, als bestehe in der Regierung die Ansicht, daß durch Paktieren mit der Begehrlichkeit der Arbeiter zur Sicherung des sozialen Friedens zu gelangen sei. Geschichtliche Erfahrung und richtige Beurteilung der menschlichen Natur führen vielmehr zu der Annahme, daß die Forderungen der Arbeiter sich in demselben Maße erhöhen werden, in dem die Gesetzgebung ihnen zu Diensten ist. Es ist eine Unmöglichkeit, durch Maßregeln der Gesetzgebung den Arbeiter dahin zu bringen, daß er sich zufrieden fühle und den sozialdemokratischen Bestrebungen widerstehe. Solange der Arbeiter jemanden sieht, der es besser hat als er selbst, wird er unzufrieden sein.«17

So scharfsichtig sich nun aber der von Dionys gezeichnete Vertreter des sozial-konservativen Typus zeigt, scharfsichtig bis zur Ungerechtigkeit, indem er eine Begehrlichkeit, die allgemein menschliche Schwäche ist, allzu einseitig dem gemeinen Manne zuschreibt, so leicht nimmt er es mit dem Urteil über den Ernst und die Tragweite der sozialen Bewegung; – auch in dieser Hinsicht ganz ein Seitenstück zu Cicero.18 Dem Elend, das den Aufstand erzeugt, steht er gegenüber kühl bis ans Herz hinan. Wenn die Armen den Dienst verweigern würden, so sei das kein großer Verlust für den Staat; sie taugten ja ohnehin nicht viel und hätten für die Wehrkraft wenig zu bedeuten.

Mögen sie fortbleiben! Denen aber, die Mitleid mit diesen »durchaus unnützen Leuten«19 predigten, sei zu entgegnen, sie sollten doch einmal untersuchen, was denn eigentlich diese Leute arm gemacht habe. Dieselben hätten doch eine Hufe ererbt, hätten Anteil an der Kriegsbeute gehabt usw. Wo sei das geblieben? Verfressen und verliedert hätten[422] sie es! Eine Schande für den Staat sei dies Gesindel, und wenn es ins Elend wandere, so sei dies als Gewinn zu betrachten; – aber auch wenn sich solche fänden, die durch unverschuldetes Unglück verarmten, brauche das die Gesellschaft nicht weiter zu kümmern. Mit einer gewissen cynischen Ironie verweist sie der Redner an jene Prediger des Mitleids! Die mögen aus eigenen Mitteln und nicht aus anderer Leute Tasche freigebig sein! Den Wohlhabenden das Geld für einen guten Zweck zwangsweise abnehmen, so daß dem Wohltäter nicht einmal der Dank übrig bleibt, das sei nicht römische Tugend.

Also absolutes laissez-faire, Nichtintervention, das ist der letzte Schluß dieses Plaidoyers, in dem der Geist der ganzen Richtung in anschaulichster Weise zum Ausdruck kommt. Aber auch sonst ist die Gestalt des Appius als des typischen Vertreters dieses Standpunktes gut herausgearbeitet. So z.B., wenn er in den Debatten gelegentlich der ersten Sezession der Plebs gegen jede »weichliche Nachgiebigkeit« spricht und in bezug auf die Verschuldungsfrage genau denselben schroff ablehnenden Standpunkt vertritt wie Cicero in den Catilinarien,20 wenn er die revolutionäre Masse als einen Haufen von »Wahnsinnigen« dem »nüchternen und gesunden« Teil der Bürgerschaft gegenüberstellt und die zu Konzessionen Geneigten einfach als »Volksschmeichler« und »Volksaufwiegler«, als »Urheber der Tollkühnheit der Armen« brandmarkt,21 deren Rat »uns nur zu Sklaven der schlechten und gemeinen Elemente der Bürgerschaft machen kann«.22 Die letzteren hätten es nie gewagt zu meutern, wenn sie nicht von diesen würdigen Patrioten ermutigt worden wären!23 – Die typische Phraseologie des Klassenkampfes!

Nicht minder treffend ist als Gegenstück des starren Individualisten der sozialgesinnte, für Staatsintervention eintretende Konsul Servilius gezeichnet, der, ehrlich auf die Ausgleichung der widerstreitenden Interessen bedacht, zwar den Reichen die Möglichkeit nehmen will, die vom Glück weniger Begünstigten »in den Kot zu treten«, aber auf der anderen Seite auch bereit ist, die Reichen vor ungerechten Angriffen der Armen auf ihr Eigentum zu schützen,24 damit nicht »das wichtigste[423] Gut in der menschlichen Gesellschaft, das Unterpfand bürgerlicher Eintracht, Treue und Glauben im Verkehr, für immer aus dem römischen Staate verschwinde«. Auch sein Gesinnungsgenosse Menenius Agrippa vertritt einen charakteristischen allgemeinen Typus. Er sieht die Dinge als Philosoph an, der da weiß, daß es sich beim Klassenkampf nicht um eine singuläre und willkürlich hervorgerufene Erscheinung handelt, sondern um ein unvermeidliches Ergebnis des geschichtlichen Lebens selbst. Eine Erkenntnis, die er gegenüber der Gewaltsamkeit der Konservativen im Sinne der friedlichen Beilegung des Kampfes fruchtbar zu machen sucht. Er meint, schon der Gedanke müsse mäßigend wirken, daß »nicht bei uns allein oder zuerst die Armut gegen den Reichtum, der Niedere gegen den Höheren sich erhoben hat, sondern daß sozusagen in allen, sowohl kleinen wie großen Staaten ein feindlicher Gegensatz zwischen Mehrheit und Minderheit besteht«; – weshalb man nicht durch starren Egoismus Öl ins Feuer gießen dürfe, sondern durch verständige Milde das Schlimmste zu verhüten suchen müsse.25

Noch schärfer kommt die Erkenntnis des furchtbaren sozialen Antagonismus in den Worten eines anderen Redners zum Ausdruck: »Wir sind in zwei Staaten zerrissen, von denen der eine von Armut und Not beherrscht wird, der andere von Überfluß und Übermut.26 Fromme Scheu, Sinn für Ordnung und Recht, die Grundsäulen aller staatlichen Gemeinschaft, finden sich weder hüben noch drüben mehr. Mit der Faust suchen wir gegenseitig unser Recht, und das größte Recht sehen wir in der größten Gewalt; gleich wilden Tieren wollen wir lieber zu unserem eigenen Schaden unsere Gegner vernichten, als mit ihnen erhalten bleiben.« Und was die erhaltenen Schilderungen von den Ideen und Stimmungen der antikapitalistischen Massen zu berichten wissen, stimmt mit diesem trüben Bilde nur zu sehr überein! Die den Plebejerführern in den Mund gelegten Reden enthalten Proben des wildesten Radikalismus und des verbissensten Klassenhasses,[424] in denen sich ebenfalls der Geist eines unterwühlten und durch und durch revolutionären Zeitalters in wahrhaft typischer Weise widerspiegelt.

Die zum Klassenbewußtsein erwachte Masse hat die Frage aufgeworfen: »Was nützen uns die Leute, die uns beherrschen? Was leisten sie für die Wohlfahrt aller?« Und die Antwort lautet: »Es sind Drohnen, die sich von unserem Schweiße mästen.« Eine Logik, welche die sozial-konservative Staats- und Gesellschaftsauffassung der Gegner in dem kindlichen Gleichnis von dem Aufruhr der Organe des Körpers gegen den Magen symbolisiert hat. Die Auflehnung der Masse gegen die herrschende Oligarchie wird verglichen mit der Diensteinstellung der Glieder in der Fabel, die gegen den Magen die Anklage erheben, daß ihre Sorge, ihre Arbeit und Dienstleistung für denselben alles herbeischaffen müsse, während er ruhig in der Mitte sitze und nichts weiter tue, als die dargebotenen Genüsse sich behagen zu lassen.27

Ein Vergleich, der für die Erkenntnis des Klassengegensatzes gleichfalls von hohem Wert ist, weil er zugleich ein drastisches Licht auf die sozialpolitische Verständnislosigkeit der Kreise wirft, die in dergleichen eine tiefe politische Weisheit erblickten. Daß eine Republik, wie die römische, nur aristokratisch regiert werden konnte, ist ja klar. Aber klingt es nicht wie der reine Hohn, wenn als Moral der Fabel dem Volke die Lehre gepredigt wird: »Wie in unserem Leibe der von den 'vielen', d.h. von den Gliedern, mit Unrecht verlästerte Magen nährt, indem er genährt wird, erhält, indem er erhalten wird, und gleichsam alle bewirtet, indem er das gewährt, was allen zuträglich und die Bedingung des ganzen Stoffwechsels ist, so ist es im Staate der den Aufgaben der Gemeinschaft dienende und für das, was einem jeden zukommt, sorgende Senat, der alles erhält und bewahrt und in die rechte Ordnung bringt.«28 – Das römische Senatsregiment ein Hort des suum cuique, ein soziales Organ von demselben vitalen Wert für den gesellschaftlichen Körper wie für den Menschenleib das Organ, welches »das Leben und Kraft gebende Blut in die Adern gleichmäßig verteilt, an alle Teile des Leibes zurückgibt«!29

Zu dieser aristokratisch-plutokratischen Sophistik, welche das, was[425] für die Idee der Rechtsordnung an sich gilt, ohne weiteres für die gerade bestehende Staatsordnung in Anspruch nimmt und das soziale Moment durch einen ungeheuerlichen, in einer rein formalistischen und einseitig politischen Betrachtungsweise wurzelnden Trugschluß einfach eskamotiert, bildet ein würdiges Seitenstück die naive Rechtfertigung des Klassenunterschiedes von arm und reich, welche ebenfalls auf die Geschichtschreibung der Revolutionszeit zurückgeht und schon deshalb von sozialgeschichtlichem Interesse ist, weil sie uns zeigt, wie sehr die bestehende Gesellschaftsordnung und Besitzverteilung für diese Epoche zum Problem geworden war. – Im Hinblick auf den angeblichen Erfolg, den der Menenius der Legende mit der genannten politischen Parabel gehabt haben soll, wird hier die kühne Behauptung aufgestellt, daß der Besitz der Vermögenden auch dem Armen nur von Nutzen sei, ja daß auch dann, wenn die Besitzenden durch Gelddarlehen sich bereichern und ihren Besitz mehren, ein Nachteil für die besitzlose Masse damit nicht verbunden sein könne. Denn wenn es keine Kapitalisten gäbe, so würden die Armen auch niemand finden, der ihnen in der Not leiht, und so elendiglich zugrunde gehen!30

Freilich bewährte diese Logik ihre Beweiskraft nur im Bereiche der Legende. Denn auf dem Boden der Wirklichkeit war das soziale Problem nicht so leichten Kaufes zu erledigen. Dieselbe Geschichtschreibung, welche so schön von der Interessenharmonie zwischen Reichtum und Armut, von der ausgleichenden Gerechtigkeit des herrschenden Systems zu reden weiß, legt den Führern der Demokratie ergreifende Klagen in den Mund über die rastlose Gier der Herrschenden nach Bodenerwerb, über die wucherische Ausbeutung des Volkes und die volksfeindliche Tendenz einer Verwaltung, die darauf ausgehe, daß einzelnen an Bodenbesitz fast das Dreihundertfache von dem zufalle, was man dem gewöhnlichen Bürger gönne und was kaum zu einer dürftigen Wohnung und zu einem Platz für sein Grab hinreiche!31 An anderen Stellen wird es als etwas Unwürdiges bezeichnet, daß die Bürger, welche[426] die Machtstellung des Staates geschaffen, infolge ihrer wirtschaftlichen Notlage nicht einmal die eigene Freiheit behaupten können, oder es wird auf die jammervolle Lage eines Proletariates hingewiesen, das überhaupt keine Scholle, kein Vaterhaus mehr sein eigen nenne und selbst die Achtung entbehre, die der Volksgenosse beanspruchen darf: die völlig Enterbten, die sogar verlernt haben, den heimatlichen Boden zu lieben,32 der ihnen keinen Anteil an irgendeinem Gut gewähre,33 so daß der Arme geradezu zum Feind des Staates (zum Reichsfeind!) wird.34 Die Vaterlandslosigkeit des Proletariers, wie sie uns so erschreckend in den Proletarierheeren der sterbenden Republik entgegentritt, die voll Rach- und Beutegier ihren Generalen zum Kampf gegen die eigene Vaterstadt folgen, um hier mit Gewalt zu holen, was ihnen die bestehende Gesellschaftsordnung versagte.

Man begreift angesichts dieser von den Späteren in die Pseudohistorie des Ständekampfes verwobenen Kritik der Gesellschaft, daß dieselbe auf einen modernen Sozialisten, wie Rodbertus, den Eindruck machte, als seien »die adeligen Gutsbesitzer Altroms die ärgsten Geldjuden gewesen, die es je in der Geschichte gegeben hat«! Von der Anerkennung einer Interessenharmonie im Sinne der Meneniusfabel kann hier in der Tat keine Rede sein.35 Im Gegenteil! »Ein ehrlicher dauernder Friede« – sagt einmal ein Demagoge – »ist zwischen uns nicht möglich. Die Klasse, die nur herrschen will, und diejenigen, deren Ideal die Freiheit ist, können sich nur widerwillig und nur solange vertragen, als sie eben müssen. Freundschaft und Treue hat da keine Stätte, weil beide Teile nur auf eine Gelegenheit lauern, den Frieden zu brechen. Und die Folge ist gegenseitiger Argwohn und beständige Beschuldigungen gegeneinander, Mißgunst und Haß und alle Arten von Übeln und ewiger Wettstreit,[427] die Gegenpartei zuerst zu vernichten, weil das Zaudern das eigene Verderben zur Folge haben kann.«36 »Begreift ihr endlich« – redet ein Demagoge bei Livius die Volksversammlung an – »in welcher Verachtung ihr lebt? Das Sonnenlicht gönnen sie euch nicht und würden es euch entziehen, wenn sie könnten. Es ärgert sie schon, daß ihr atmet, daß ihr einen Laut von euch gebt, daß ihr Menschengestalt habt.«37

Und der Masse steht in diesem Kampfe das Bewußtsein zur Seite, daß die Gegner eine Minderheit sind, daß sie im Kampf um die Macht das brutale Übergewicht der Zahl der Fäuste in die Wagschale werfen kann. »Wann« – läßt Livius einen Volksmann die Menge haranguieren – »wann werdet ihr zum Bewußtsein eurer Kraft kommen; eine Erkenntnis, welche die Natur selbst dem Tiere gegeben hat? Zählt doch einmal, wie viele ihr seid und wie viele die Gegner!38 Selbst wenn ihr je einer mit einem es aufnehmen müßtet, würdet ihr wohl feuriger für eure Freiheit kämpfen als jene für ihre Herrschaft.« – »Zeigt euch zur Gewalt bereit, so werden sie von ihren Ansprüchen selbst nachlassen. Alle zusammen müssen etwas wagen oder jeder einzelne muß alles sich gefallen lassen.« – »Wohlan denn, seid zur Hand, laßt keinen Gerichtsspruch in Schuldsachen zu.«39»Dem Boden müssen gleichgemacht werden die Diktaturen und die Konsulate, damit Roms Volk sein Haupt erheben kann.«40 Während für den bedrohten Kapitalismus die Vorkämpfer der sozialen Bewegung nichts sind als Räuber, die sich an fremdem Gut vergreifen, um es an die Masse zu verschenken, Umstürzler, deren Forderungen eine Lösung all der Bande bedeuten, welche die menschliche Gesellschaft zusammenhalten,41 feiert man sie auf der anderen Seite als Erlöser, die »den durch Wucher versunkenen und erdrückten Teil der Bürgerschaft aus der [428] Knechtschaft zur Freiheit, aus Nacht zum Licht emporführen« wollen.42

So stellt sich das Bild des sozialen Kampfes dar, wie es sich die spätere Literatur für das ältere Rom ausgemalt hat. Kann man noch zweifeln, daß sie dabei die Schlagworte des Klassenkampfes verwertete, wie man sie in den Zeiten der Gracchen, des Saturninus, des Marius und Cinna, des Catilina, des Rufus und Dolabella auf dem Forum und in den revolutionären Klubs, auf den Gassen und in den Schenken der Weltstadt oft genug zu hören bekam?

Man vergleiche nur mit den hier aus dieser Literatur angeführten Kampfreden den flammenden Protest eines Tiberius Gracchus gegen das plutokratische System, der auch in der uns erhaltenen Form nicht ein Erzeugnis der Rhetorik ist, sondern aus der geschichtlichen Rede stammt. »Selbst die Tiere des Waldes« – heißt es da – »haben ihre Lagerstätte; die Bürger, die für die Ehre und den Ruhm des Staates gekämpft, wissen nicht, wo sie ihr Haupt hinlegen sollen. Nichts ist ihnen übriggeblieben als Luft und Licht. Obdachlos müssen sie mit Weib und Kind unstet umherziehen. Ist es nicht schnöde Heuchelei, wenn die Feldherrn es wagen, diese Männer vor der Schlacht darauf hinzuweisen, daß sie für den heimatlichen Herd, für Altar und Grab der Väter kämpfen? Denn wo ist ihr Herd, wo der Altar und das Grab ihrer Väter? Nicht für das Vaterland, sondern für anderer Schlemmerei und Mammon müssen sie bluten und sterben! Und sie, die Herren der Welt genannt werden, können auch nicht eine Scholle ihr Eigen nennen!«43

Eine furchtbare Anklage gegen die proletarisierende Verheerung der Gesellschaft durch einen zügellosen Kapitalismus! Eine Anklage, die zugleich eine wahrhaft klassische Formulierung des sozialen Problems enthält, indem sie das grundsätzliche Moment des Gegensatzes, den schneidenden Widerspruch zwischen der formalen Rechtsstellung des Bürgers und seiner wirtschaftlichen Lage mit rücksichtsloser Schärfe[429] darlegt. Insoferne hat die moderne sozialistische Kritik der Gesellschaft nicht unrecht, wenn sie meint, daß schon aus der gracchischen Bewegung »der Menschheit ganzer proletarischer Jammer in ergreifender Verständlichkeit an das Ohr des heutigen Fabrikproletariates herübertönt«.44 Kein Wunder, daß die Armen und Elenden, die ihr Heil von Gracchus erwarteten, durch seine Katastrophe in eine Stimmung versetzt wurden, als müßten sie förmlich zu Sklaven der Reichen werden!45 Und dabei war Tiberius Gracchus durchaus kein sozialer Revolutionär, d.h. es war keineswegs seine Absicht, die Masse, die hinter ihm stand, als Klasse zu organisieren, die aristokratische Gesellschaftsordnung als solche zu vernichten und die politische Macht durch und für das Proletariat zu erobern, wie es ihm die moderne Sozialdemokratie andichtet. Er wollte mit seinem Ackergesetz lediglich schwere Schäden und Übelstände beseitigen und so eine Wiedergeburt der plebs rustica herbeiführen. Also ausgesprochen konservative Mittelstandspolitik!46

Wenn ein in sozialer Hinsicht so maßvoller Politiker solche Worte der Empörung gegen die verhaßte Plutokratie fand, wie mögen da erst die Catilina, Glaucia, Dolabella und sonstige Demagogen der Gasse zu dem Gesindel geredet haben, zu dem »elenden und hungrigen Pöbelvolk der Blutegel des Staatsschatzes«, wie es nach einem treffenden Wort Ciceros47 die Volksversammlungen der untergehenden Republik füllte und die »Bataillone der Anarchie«48 stellte. Ihre Brandreden sind verhallt; nur einer, Catilina, wird uns als Wortführer der sozialen Revolution unmittelbar vor Augen gestellt. Und auch von ihm besitzen wir keine authentische Erklärung über seine Absichten, sondern nur die freie rhethorische Nachbildung eines Sallust, bei dem man sich immer fragen muß, wieweit die tendenziöse Mache die geschichtliche Wahrheit überwuchert hat. Aber es war ja nicht schwer, sich in die Lage von Leuten hinein zu empfinden, bei denen sich – um mit Sallust zu reden – »die Not und das Elend in jeder Gestalt fand, die weder in der Gegenwart noch in der Zukunft irgendetwas zu hoffen hatten, denen jede Störung[430] der öffentlichen Ordnung an sich schon ein großer Vorteil dünkte«.49 Und so legt er dem Agitator, der diese Elemente auf die herrschende Klasse hetzen wollte, der – wie er sich selbst in einem Briefe ausdrückte – »die Sache der Elenden zur seinigen machte«,50 eine Kritik der Staats- und Gesellschaftsordnung in den Mund, die nicht bloß den an der Verschwörung beteiligten heruntergekommenen Existenzen aus den oberen Zehntausend, sondern dem Proletarier überhaupt gewiß ganz aus der Seele gesprochen war, so daß sie als lebenswahres sozialpolitisches Stimmungsbild aus der Revolutionszeit hier nicht übergangen werden kann.

»Was ich im Sinne trage«, – sagt der Catilina Sallusts – »das habt ihr alle schon früher da und dort aus meinem Munde vernommen. Doch fühle ich mich von Tag zu Tage mehr angefeuert, wenn ich bei mir erwäge, welches Leben die Zukunft uns bringen wird, wenn wir nicht durch eigenes Handeln uns die Freiheit schaffen. Denn seitdem der Staat das völlige Eigentum einiger wenigen Mächtigen geworden ist, sind ihnen jederzeit Könige und Fürsten zinspflichtig, Staaten und Völker zahlen ihnen Tribut. Wir anderen alle, mutige und tüchtige Männer, Adelige und Gemeine, sind von ihnen als Pöbel geachtet, einfluß- und würdelos, von Leuten abhängig, deren Schrecken wir sein würden, wenn der Staat wäre, wie er sein sollte. Aller Einfluß, alle Macht, Ehre und Reichtum ist ihr Besitz oder geht durch ihre Hand.

»Uns haben sie nichts übrig gelassen als Gefahren, Zurücksetzungen, gerichtliche Verfolgungen und Armut. Wie lange wollt ihr diesen Zustand noch ertragen, ihr tapferen Männer? Ist es nicht besser, einen mutigen Mannestod zu sterben, als fremdem Übermut zum Gespött zu sein und ein elendes, unwürdiges Leben zuletzt schmachvoll zu enden?« – »Wer, der ein Mannesherz in der Brust trägt, kann es mit ansehen, wie sie noch Reichtümer übrig haben, um sie mit dem Überbauen des Meeres und der Abtragung ganzer Berge zu vergeuden, während uns selbst zur Befriedigung des Notwendigsten die Mittel fehlen, daß sie Paläste an Paläste reihen, während wir nicht haben, wo wir das Haupt hinlegen?51 Sie kaufen Gemälde, Bildsäulen, kunstvolles Silbergeschirr;[431] kaum Gebautes reißen sie wieder nieder, um etwas anderes an die Stelle zu setzen; kurz, auf jede Weise verprassen und vergeuden sie das Geld, und doch können sie bei all ihrer Verschwendung nicht fertig werden mit ihrem Reichtum.52 Blickt dagegen auf uns: zu Hause Armut, draußen Schulden, trübe die Gegenwart, noch trüber der Blick in die Zukunft. Kurz, was bleibt uns übrig als das elende Leben? Auf denn, erwacht vom Schlaf! Seht da die Freiheit; sie, die ihr so oft ersehnt habt, und mit ihr Reichtum, Ehre und Ruhm liegen vor euren Augen. Das alles sind Preise, welche das Glück den Siegern ausgesetzt hat. Die ganze Lage der Dinge, die günstige Gelegenheit, eure Gefahren, eure Armut, die herrliche Siegesbeute müssen so eindringlich zu euch reden, wie es meine Worte nicht vermögen. – Als Konsul hoffe ich mit euch das Werk zu beginnen, wenn ich mich anders in euch nicht getäuscht habe und ihr nicht gesonnen seid, lieber als Sklaven denn als Herren zu leben.«

Als Stimmungsbild von Interesse ist auch die Erklärung, welche Sallust einen anderen Führer der catilinarischen Bewegung, C. Manlius, an den gegen die Aufrührer ausgesandten Feldherrn des Senats richten läßt. »Götter und Menschen rufen wir zu Zeugen auf, Imperator, daß wir nicht in feindlicher Absicht gegen das Vaterland, noch um andere zu gefährden, die Waffen erhoben haben, sondern um unsere persönliche Freiheit gegen Vergewaltigung sicherzustellen. Arm und elend, haben wir durch die Gewaltsamkeit und Herzlosigkeit der Wucherer zum größten Teile unsere Heimat, alle unsere bürgerliche Ehre und unser Hab und Gut verloren. Keinem von uns ward es vergönnt, nach althergebrachtem Brauch den Schutz des Gesetzes zu genießen, keinem, nach Verlust seiner Habe die Sicherheit seiner Person zu behaupten. Soweit ging die Unbarmherzigkeit der Wucherer und des Prätors. Oft haben eure Vorfahren des Volkes sich erbarmt und haben Beschlüsse erlassen, um seiner Verarmung abzuhelfen; und erst kürzlich durfte wegen der großen allgemeinen Verschuldung mit Zustimmung der ganzen Senatspartei[432] das Silber in Kupfer heimbezahlt werden. Öfter hat auch die Plebs selbst, sei es um größere politische Geltung zu erringen oder um sich gegen Mißhandlung von seiten der Herrschenden zu sichern, die Waffen ergriffen und sich von dem Patriziat getrennt. Uns ist es nicht um größere Gewalt, nicht um Reichtum zu tun, um derentwillen aller Krieg und Hader unter den Menschen besteht, sondern lediglich um unsere persönliche Freiheit, ein Gut, das der Edelgesinnte nur mit dem letzten Hauche seines Lebens aufgibt.«53

Übrigens sind die Klagen, die hier gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung geschleudert werden, um nichts schärfer als die Kritik, welche die damalige Demokratie auch sonst an der oligarchischen und plutokratischen Klassenherrschaft geübt hat. Dies zeigt nicht nur der Vergleich mit der Rede des Tiberius Gracchus, sondern ganz besonders drastisch die pikante Tatsache, daß derselbe Sallust, der sonst weit von Catilina abrückt, schon in demselben und noch ausführlicher in einem späteren Werke sich genau ebenso scharf über Staat und Gesellschaft der Zeit geäußert hat, wie er es vorher seinen Catilina tun läßt. »In der Zeit der catilinarischen Verschwörung« – sagt er – »waren Staatsämter, Provinzen und alles andere in ihrer Hand. Sie selbst lebten unangefochten in glänzender Stellung, ohne Furcht; die übrigen wußten sie durch gerichtliche Verfolgungen einzuschüchtern, so daß sie sich hüteten, ihre amtliche Stellung zur Aufreizung des Volkes zu benützen.«54 – »Die Willkür«, – heißt es im »Jugurtha« von der Zeit, welche die Revolutionsperiode einleitete, – »die Willkür weniger entschied im Krieg und im Frieden. Ihre Domäne war der öffentliche Schatz, Provinzen, Ämter, Kriegsruhm und Triumphe. Dem Volke blieb nichts als die Bedrängnis des Kriegsdienstes und die wirtschaftliche Not. Selbst die Kriegsbeute wurde ihm vorenthalten; in sie teilten sich die Feldherrn und einige wenige. Inzwischen wurden die Eltern oder Kinder der Soldaten, soweit sie einen Mächtigeren zum Nachbarn hatten, von Haus und Hof vertrieben. Denn macht- und zügellos war die im Gefolge der Macht auftretende Habgier, die alles besudelte und verwüstete, der nichts mehr ehrwürdig und heilig war«.55 Kein Wunder, daß – wie Sallust im »Catilina« sich ausdrückt – »in dem Moment, wo die allgemeine politische Lage unsicher wurde und die Sache des Umsturzes Aussicht zu haben schien, der alte Streit die Leidenschaften wieder aufwühlte«.56

[433] Ja, die Kritik des Kapitalismus beschränkt sich überhaupt nicht auf die Reihen der Volkspartei. Selbst ein so überzeugter Verteidiger des Bestehenden wie Cicero kann nicht umhin, sich gelegentlich gegen die Leute zu wenden, »die ihre Nachbarn proskribieren, um viele Hufen zu einem einzigen großen Gut zusammenzuschlagen«!57 Und sogar ein »orthodoxer Optimat«, der von den demokratischen Revolutionären womöglich noch weniger wissen will und in seinem historischen Epos die Gracchen ebenso wie Catilina und Marius zu den büßenden Sündern in der Unterwelt verweist, der Dichter Lucan,58 hat die extrem kapitalistische Entartung der Gesellschaft und die furchtbare Zuspitzung der sozialen Frage für den Jammer der Bürgerkriege wesentlich mitverantwortlich gemacht. Er klagt in den »Pharsalia« über die maßlose Jagd nach dem Gold und die Extravaganzen des Palästebaues, über das Umsichgreifen der Riesenlatifundien, auf denen da, wo einst Männer wie Camillus und Dentatus die Pflugschar und den Karst geführt, armselige Kolonen hausen, deren Namen nicht einmal der eigene Herr kennt,59 über die gefräßige Habsucht des Geldwuchers,60 Verhältnisse, die, wie der Dichter selbst zugibt, den Bürgerkrieg für viele als eine Rettung erscheinen ließen.61

Auch sonst ist die Dichtung, der nichts Menschliches fremd ist, an der sozialen Frage nicht achtlos vorübergegangen. Man denke nur an die ergreifende Schilderung, welche Horaz von dem Bauernlegen gegeben hat. Es heißt dort in der bekannten Apostrophe an die Großmannssucht und rastlose Gier des Reichen, daß


»Habsucht nimmersatt

Verrückt den Markstein jeden nahen Ackers.

Und du überschreitest überall

Des Schützlings (cluentis) Grenzrain: Ausgestoßen wandern[434] Weib und Mann: im Schoße tragend

Der Väter Hausrat und die armen Kinder.«62


Aber auch noch in andere Gebiete wirft die soziale Frage ihre Schatten hinein, so z.B. in die Justiz. In den Hallen der Gerichte kam ja der Kampf des reichen Mannes gegen den armen, des Großen gegen den Kleinen häufig zum Austrag; und die Armut und ihre Vertreter hatten hier oft genug Anlaß, auf die soziale Frage im allgemeinen einzugehen, über die furchtbaren Dissonanzen der Gesellschaft ihr Herz auszuschütten. Und sie haben dabei kein Blatt vor den Mund genommen! Zeuge dessen die Literatur, welche sich mit Anweisungen für den Gerichtsredner beschäftigt und in der Behandlung ihrer Unterrichtsthemen für den Kampf zwischen arm und reich Worte von überraschender Kühnheit und rücksichtsloser Schärfe gefunden hat. So heißt es bei dem Rhetor Seneca in der Klagerede des armen, kleinbäuerlichen Häuslers gegen den reichen Gutsnachbar, der ihm, aus Ärger über den verweigerten Verkauf einer ihm lästigen Platane am Haus des Armen, den Baum und mit ihm das Haus selbst in Brand gesteckt hat:63

»Ihr Reichen besitzt das platte Land und füllt zugleich die Städte und ihren Umkreis mit euren Palästen,64 die so weitläufig angelegt sind, daß sie fließende Gewässer und ganze Gehölze umschließen. – Du sagst: 'Der Baum hinderte mir den Ausblick.' Aber können wir irgendwo gehen, ohne daß uns die Haufen eurer Sklaven den Weg versperren?65 Nehmen uns nicht die zu ungeheurer Höhe erhobenen Mauern eurer Häuser das Licht weg? Werden wir nicht durch die kolossale Ausdehnung eurer Portiken und Paläste, die sich wie Städte im kleinen ausnehmen, fast aus der Öffentlichkeit verdrängt?66 – Damit eure Villen, nach allen Himmelsrichtungen freiliegend, im Winter die Wärme des Sommers, im Sommer Kühle gewähren und der Wechsel der Jahreszeiten spurlos an ihnen vorübergeht, damit ihr auf ihren höchsten Dachfirsten Haine und schiffbare Teiche nachäffen könnt, sieht man jetzt einsame Arbeitszwinger auf Fluren, die früher ein Volk bebaute und reicht das Machtgebiet eurer Verwalter weiter als das von Königen.«67

Man sieht: hier wird im Anschluß an den einzelnen Fall übermütiger Vergewaltigung das ganze soziale Problem aufgerollt. Eine einfache Privatklage[435] wird zur Anklagerede gegen die volksverderberische Kapitalherrschaft der Zeit überhaupt.

Ganz ähnlich verfährt die »Klage des Armen gegen den Reichen«, welche die pseudoquintilianische Sammlung von »Deklamationen« enthält.68 Der Kläger, ein armer Bauer, dem der reiche Gutsnachbar aus Schikane seine Bienen vergiftet und damit seine Haupterwerbsquelle geraubt hatte, spielt die Frage sofort auf ein Gebiet hinüber, auf dem die gesellschaftswidrige und volksfeindliche Tendenz des extremen Kapitalismus überhaupt drastisch zutage tritt. Er erzählt seine persönliche Leidensgeschichte als einen Teil der Leidensgeschichte einer ganzen sozialen Klasse!

»Ich bin nicht von Anfang an der Nachbar eines reichen Mannes. Rings um mich saßen auf zahlreichen Höfen gleich begüterte Besitzer, die in nachbarlicher Eintracht ihren bescheidenen Besitz bebauten. Wie anders jetzt! Das Land, das einst all diese Bürger nährte, ist jetzt eine einzige große Pflanzung, die einem einzigen Reichen gehört. Sein Gut hat seine Grenzen nach allen Seiten hinausgerückt; die Bauernhöfe, die es verschlungen, sind dem Erdboden gleichgemacht, zerstört die Heiligtümer der Väter. Die alten Eigentümer haben Abschied genommen vom Schutzgott des Vaterhauses und mit Weib und Kind in die Ferne ziehen müssen! Einförmige Öde herrscht über der weiten Fläche. Überall schließt mich der Reichtum wie mit einer Mauer ein,69 hier der Garten des Reichen, dort seine Felder, hier seine Weinberge, dort seine Wälder und Triften. Auch ich wäre gern fortgezogen, aber ich konnte keinen Fleck Landes finden, wo ich nicht einen Reichen zum Nachbarn gehabt hätte. Denn wo stößt man nicht auf den Privatbesitz der Reichen?70 Sie begnügen sich nicht einmal mehr damit, ihre Güter soweit auszudehnen, bis sie, wie ganze Völkerschaftsgebiete, in Flüssen und Bergen eine natürliche Grenze finden, sondern sie bemächtigen sich auch noch der entlegensten Gebirgseinöden und Wälder. Und nirgends findet dieses Umsichgreifen71 ein Ziel und eine Schranke, als bis der Reiche auf einen andern Reichen stößt.72 – Auch das gehört endlich zu der schimpflichen Mißachtung, welche die Reichen uns Armen zuteil werden lassen, daß sie es nicht einmal der Mühe wert finden zu leugnen, wenn sie sich an uns vergriffen haben.«73

[436] Die Allmacht der geheiligten Majestät des Reichtums, wie Juvenal einmal mit bitterer Ironie sich ausdrückt, wobei er hinzufügt, es fehle nur noch, daß die funesta Pecunia als Göttin in Tempeln wohne und den Nummi Altäre errichtet würden!74[437]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
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