Sechstes Kapitel

Demokratischer Sozialismus und romantischer Utopismus

Wenn man sich die vorstehenden Beiträge zu einer Kritik der Gesellschaft, wie sie uns die erhaltene Literatur zufällig darbietet, noch einmal in ihrer Gesamtheit vergegenwärtigt und dabei bedenkt, daß dieselben nur einen unendlich verschwindenden Teil dessen darstellen, was damals in Wirklichkeit gegen die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gesagt, geschrieben und – gedacht worden ist, so wird man die Summe sozialer Leidenschaft und Auflehnung, der diese Kritik Ausdruck gab, gewiß nicht gering veranschlagen. Schon das wenige, was wir erfahren, läßt deutlich genug erkennen, daß die aus der Erbitterung über das eigene Elend entspringende Sehnsucht nach einer »Änderung aller Dinge«, wie sie Sallust im römischen Proletariat verbreitet sah,1 sehr weitgehende sozialrevolutionäre Tendenzen in sich schloß.

Ein moderner Italiener hat von der Entwicklung des Sozialismus im heutigen Italien gesagt: »Der Volksgeist, der von der Erinnerung an die soeben beendigten Kriege noch aufgeregt war, konnte sich nicht mit der Idee befreunden, daß die Entwicklung auf der Leiter zu besseren ökonomischen Verhältnissen stufenweise vor sich gehen müsse. Von Natur mit stürmischen Begierden und Wünschen ausgestattet, mußten die ersten italienischen Sozialisten auch in der Form und in den Mitteln zur Befriedigung derselben stürmisch vorgehen.«2 Sollte diese Charakteristik nicht auch auf den von so schweren inneren und äußeren Krisen erregten Volksgeist des damaligen Rom zutreffen,[437] der es an Kundgebungen von stürmischer Leidenschaftlichkeit wahrlich nicht fehlen ließ?

Man wird nicht fehlgehen, wenn man sagt: Auch in der sozialen Bewegung des antiken Roms sind Gedanken und Bestrebungen zutage getreten, die man in das sozialistische Schlagwort der »Emanzipation des Proletariates« zusammenfassen kann. Wenn nach der von Livius erhaltenen, ohne Zweifel aus dem revolutionären Sprachschatz stammenden Parole die bestehenden staatlichen Gewalten »dem Erdboden gleichgemacht« werden sollten, damit »Roms Volk sein Haupt erheben könne«,3 wenn derselbe revolutionäre Ideenkreis die Forderung enthielt, daß »alles anders werden« müsse,4 so konnte das für den folgerichtigen Vertreter dieser Wünsche nichts anderes bedeuten, als daß die Masse sich zum Herrn der Situation machen müsse, daß sie die politische Macht oder mindestens die volle Unabhängigkeit und Freiheit gewinnen müsse, nach Belieben sich selbst zu organisieren. Ebenso klar ist, daß diese Emanzipation dem fortgeschrittenen proletarischen Klassenbewußtsein der Zeit nur dann Genüge tun konnte, wenn sie zugleich eine materielle war, wenn sie zu einer Änderung der Zustände führte, in denen dies Klassenbewußtsein eine Hauptursache der sozialen Erniedrigung erblickte. D. h. die proletarische Emanzipationsbewegung erstrebte auch hier die Macht vor allem deswegen, weil sie die Möglichkeit in Aussicht stellte, ein entscheidendes Wort über die Verteilung der Güter mitzureden.

In den Kämpfen der Fäuste und der Geister, der Leidenschaften und der Ideen, welche die soziale Bewegung seit dem Zeitalter der Gracchen entfesselt hatte, tritt als ein treibendes Grundmotiv immer wieder die in zahllosen Herzen lebendig gewordene Überzeugung zutage: »Der Arme ist ärmer, als er sollte, und er ist es nur deswegen, weil die Reichen reicher sind, als sie es sein sollten!« Überaus lebhaft ist die Empfindung, daß dem wirtschaftlich Schwachen durch die gesellschaftlichen Einrichtungen die hinderlichsten Fesseln angelegt seien, daß die im herrschenden Besitzesrecht wurzelnde und sich stets weiterentwickelnde Ungleichheit der Lebensbedingungen die Geltendmachung und das freie Ausleben der Persönlichkeit aufs äußerste erschwere, die freie Entfaltung der schwächeren Kräfte mit eiserner Gewalt darniederhalte. Und was bedeutete dieser intensive Zweifel an der Berechtigung und dem Wert des[438] Bestehenden anderes als den Wunsch, von den Fesseln jener Unfreiheit befreit zu werden?

Wenn die in der Rede des Volksfreundes Servius von Dionys gewiß richtig wiedergegebene sozialdemokratische Doktrin – ganz im Sinne der sozialistischen Feldarbeiter Altathens5 – erklärte: »Frei ist nur der, der auch wirtschaftlich frei ist, der sich Selbstzweck sein darf und keinem andern für dessen Privatinteressen unterworfen ist,«6 wenn nach Tiberius Gracchus derjenige, der dieses Glückes entbehrte, von sich sagen durfte, daß er kein Vaterland mehr habe,7 wenn dieser Arme die Gesellschaftsordnung, für welche er auf den Schlachtfeldern der Republik blutete, als schnöde Sklaverei und den Gedanken an die bestehende Verteilung des Reichtums als etwas »Unerträgliches« empfand,8 was blieb für den, der hier folgerichtig zu Ende dachte, anders übrig als die grundsätzliche Auflehnung gegen diese Gesellschaft?

Der hier klar und scharf formulierte Gedanke, daß niemand Herr seiner selbst werden kann, wenn er nicht einmal einen Anteil an den Produktionsmitteln besitzt, daß der Begriff der »römischen Freiheit« ein Hohn ist, wenn dem Bürger die Grundlage wirtschaftlicher Freiheit, das Eigentum, fehlt, dieser Gedanke mußte notwendig der Ausgangspunkt sozialistischer Schlußfolgerungen werden. Er enthielt implicite die Idee des Rechtes auf ein Eigentum, die Forderung, daß das Recht der Freiheit, der libertas Romana, auch im Wirtschaftsleben zur Tatsache gemacht werde, daß durch Anwendung der öffentlichen Gewalt allen Bürgern der äußere Boden der Freiheit zugänglich und der in Abhängigkeit und Gebundenheit Schmachtende dieser Not und Gebundenheit ledig werde. Eine Anschauungsweise, die man mit Marlo als »System der persönlichen Allberechtigung«, als »Panpolismus« bezeichnen könnte, in dem er recht eigentlich das Wesen des Sozialismus erblickt.9 Insoferne ist es wohlbegründet, wenn man Tiberius Gracchus, sowenig sein Ackergesetz an sich sozialistisch war, einen der großen Propheten des vierten Standes genannt hat, der mit seiner Agitation »einen Feuerbrand in die Welt schleuderte«,10 und wenn man bereits in der sozialpolitischen Phraseologie des Gracchus »Stichworte des neueren Sozialismus« zu erkennen glaubt.11

[439] Man hat mit Recht bemerkt, daß der Mensch, der sich in unbefriedigenden Zuständen befindet, um sich innerlich aufrecht zu erhalten, der Hoffnung bedarf, es könne einmal anders und besser werden, und daß dieses »psychologische Prinzip«, auf das politische und gesellschaftliche Leben angewendet, ganz folgerichtig und von selbst als Konsequenz einer unbefriedigenden sozialen Lage sozialpolitische Hoffnungen irgendwelcher Art erzeugen muß. »Wenn der Mensch schon unter normalen Verhältnissen ohne Illusion über sein Dasein und sein Verhältnis zur Außenwelt nicht auskommen kann, um wieviel weniger der Mensch, der mit den ihn umgebenden Zuständen unzufrieden ist! So entstehen in ihm – neben vielen anderen Hoffnungen – Gedanken von Volks- und Menschheitszuständen, die den bisher bestehenden durchaus entgegengesetzt sind, wo die Habsucht des einzelnen und das egoistische Ringen aller mit allen durch die Solidarität und die gegenseitige Hilfeleistung abgelöst ist.«12 Hat sich einmal das Rechtsgefühl mit der bestehenden Wirtschaftsordnung in Widerspruch gesetzt, ist einmal die Frage nach einem anderen Maßstab für die Verteilung der Güter aufgeworfen, so muß, um eben diesen Maßstab bestimmen zu können, ein Ideal sozialer Gerechtigkeit aufgestellt werden. Und am wenigsten konnte dies da ausbleiben, wo der wirtschaftliche Verteilungsprozeß so energisch in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gestellt war wie in Rom seit dem Zeitalter der Gracchen.

Die Idee der ökonomischen Realisierung der »römischen Freiheit« und die Idee der Solidarität aller lag ja gerade dem römischen Proletarier besonders nahe, der längst systematisch daran gewöhnt war, sich vermöge seines Bürgerrechtes als Angehöriger, man möchte sagen als Aktionär, einer großen wirtschaftlichen Korporation zu fühlen, von der er eine Berücksichtigung seiner ökonomischen Interessen und sonstigen Lebensansprüche als sein gutes Recht beanspruchte.13 Er sah in dem bestehenden Staat nicht bloß eine Organisation zu politischen Zwecken, sondern betrachtete es als etwas Selbstverständliches, daß der Staat seine Souveränität – und zwar im weitesten Umfang – auch auf dem wirtschaftlichen und sozialen Gebiete zur Geltung brachte. Die Art und Weise, wie hier der Staat wiederholt in die Kreditverhältnisse, in das Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern u.a. eingriff – (man denke an die Gesetze über die Beschäftigung freier Arbeiter in[440] der Landwirtschaft!) –, die Art und Weise, wie er regelmäßig über Volksvermögen und nicht selten auch über Privatbesitz zugunsten der Massen verfügte, ist ebenso demokratischer Staatssozialismus wie die analogen Erscheinungen in der hellenischen Welt. Was hinderte, daß die Phantasie des römischen Proletariers an diese staatliche Praxis und die von seiten der Gracchen so energisch inaugurierte Politik des Staates, Mißstände im Gebiete des Verteilungsprozesses mit den Mitteln der Gesetzgebung und Verwaltung zu bekämpfen, ähnliche weitgehende Wünsche und Hoffnungen anknüpft, wie wir ihnen sonst im antiken Proletariat begegnen?

Wenn man bedenkt, zu welch unheimlichen Dimensionen die beiden großen proletarischen Schichten angewachsen waren, auf der einen Seite die Masse derer, die noch nichts waren oder noch nichts besaßen als den ungemessenen Anspruch auf den Vollgenuß römischer Freiheit, auf der anderen diejenigen, die nichts mehr waren oder nichts mehr hatten, die ausgestoßen waren aus der vollwertigen Gesellschaft, so kann man sich einigermaßen vorstellen, wie tiefgewurzelt, wie leidenschaftlich, wie weithin verbreitet hier die auf den Raub an der Gesellschaft, auf eine Katastrophe der Hohen und Mächtigen gerichteten Instinkte gewesen sein mögen. Kann es einen schärferen Ausdruck für die gegenseitige Entfremdung der sozialen Klassen, für den unversöhnlichen Haß gegen die auf der Höhe der Macht und des Reichtums Stehenden geben als das Bild von der feindlichen »Nation«, wie es in den Hetzreden der Agitatoren offenbar eine große Rolle gespielt hat?14 Und daß der Kampf gegen diese feindliche Nation bis zur Vernichtung derselben geführt werden müsse, wie es Cicero einmal als die Forderung eines Demagogen hinstellt,15 mag in der Tat oft genug als Parole ausgegeben worden sein. Daher gehört auch das Wort von der »Ächtung der Begüterten« (proscriptio locupletium), die der sallustische Catilina den Seinen verheißt,16 sowie das von Cicero so sehr gefürchtete »ut de bonis privatorum publice deminutio fiat«17 sicherlich zu den Schlagworten der sozialen Bewegung in Rom. Und zum Teil hängt gewiß auch mit diesem sozialen Antagonismus die in den politischen Kämpfen zwischen Optimaten und Demokraten lebhaft erörterte Frage[441] zusammen, auf wessen Seite denn das eigentliche und »wahre« Volk (verus populus), das »Volk« sans phrase zu suchen sei.18

Ist doch der Gegensatz bereits bis zu dem Punkt gediehen, wo der Besitzlose kategorisch erklärt: »Wer etwas hat, kann nicht Vertreter unserer Interessen sein. Denn den Versprechungen der Besitzenden kann der Elende und Arme kein Vertrauen schenken. Nur wer selbst im Elend ist, kann ein treuer Verteidiger der Sache der Elenden sein, nur er den Wagemut besitzen, den man von dem Führer und Bannerträger der Bedrängten (dux et signifer calamitosorum) erwartet.«19 Eine Reflexion, in der die Lossagung des proletarischen Denkens und Empfindens von der historischen Gesellschaft, die Verneinung des Glückes der höheren Klassen mit den schroffsten Ausdruck gefunden hat. »Es regt sich also« – sagt Mommsen20 – »der Gedanke, daß die Masse der Armen so gut wie die Oligarchie der Reichen sich als selbständige Macht konstituieren und statt sich tyrannisieren zu lassen, auch wohl ihrerseits den Tyrannen spielen könne.« Hier konnte in der Tat der reiche Mann von dem armen sagen, was Cicero von dem heruntergekommenen Demagogen Pellius, der »nutricula seditiosorum«, behauptet: »Er ist mein Feind, einzig und allein deswegen, weil er nichts hat.«21 Und was konnte das letzte Ergebnis dieser Reflexion anders sein, als daß der Kampf gegen die Eigentumsordnung, auf der die historische Gliederung der Gesellschaft, der Gegensatz von prunkendem Reichtum und hungerndem Elend beruhte?

Wenn auch die Schuldgesetze und Agrarrogationen der späteren republikanischen Zeit, soweit wir ihren Inhalt kennen, sich formell nicht gegen die Eigentumsordnung richteten,22 wenn auch die ungeheuren Expropriationen[442] italischen Grundbesitzes, welche siegreiche Generale zugunsten ihrer Proletarierlegionen und ihres sonstigen Anhanges verfügten, für ihre Urheber nichts waren als Exekutionen an der Gegenpartei und der Kaufpreis für den Erwerb und die Sicherheit der Macht, so viel ist doch gewiß, daß es sich für das proletarische Klassenbewußtsein und die kommunistische Begehrlichkeit der Massen,23 welche Demagogen und Gewalthaber zu befriedigen hatten, ganz wesentlich eben darum handelte, daß nicht sowohl politischen Gegnern, als vielmehr den Reichen und Besitzenden das Ihrige genommen und den Armen gegeben werde,24 daß durch staatliche Eingriffe in die bestehende Güterverteilung, durch eine gewaltsame ökonomische Ausgleichung und Verallgemeinerung des Eigentums auch der Arme einen größeren Anteil an den Früchten erhalte, die gerade hier in unendlicher Fülle auf der Tafel des Lebens bereitstanden.25

Daß solche Stimmungen und Gelüste in den Massen tatsächlich vorhanden waren, das zeigt unzweideutig die Art und Weise, wie einmal ein demokratischer Volkstribun, L. Marcius Philippus, im Jahre 104 eine agrarische Rogation begründet hat. Er verstieg sich in seiner recht eigentlich auf die Instinkte und Leidenschaften der Masse berechneten Rede bis zu der ungeheuerlichen Behauptung: Es gebe im ganzen Staate keine zweitausend Leute, die Vermögen besäßen!26 Eine groteske Übertreibung der Tatsache des plutokratisch-proletarischen Gegensatzes, die ihrer ganzen Tendenz nach unzweideutig darauf hinweist, daß eben dieser Gegensatz an sich Objekt der Anfeindung war. Wenn man sich vergegenwärtigt, zu welch abenteuerlichen Vorschlägen zuletzt die Politik der Ackergesetze führte – man denke nur an die servilische Rogation v. J. 64! –, so wird man es kaum für wahrscheinlich halten, daß diese demagogische Agrarpolitik sich stets[443] grundsätzlich innerhalb der durch das Privateigentum gezogenen Schranken hielt. Und sind denn nicht tatsächlich diese Schranken in den Schuld-, Zins- und Mietserlassen und bei der Ausführung von Ackergesetzen oft genug durchbrochen worden?27 Hatten die Grundbesitzer so unrecht, wenn sie in der entschädigungslosen Wiederverstaatlichung von Grund und Boden, der seit unvordenklicher Zeit als Privateigentum behandelt wurde, schnöden kommunistischen Raub sahen,28 oder die Hausbesitzer, wenn sie der staatlichen Zumutung, ihre Mieter umsonst wohnen zu lassen, mit dem Einwand begegneten:29 »Soll ich kaufen, bauen, im Stand halten, allen Aufwand machen und du sollst gegen meinen Willen dich in den Genuß des Meinigen setzen? Was heißt das anderes, als dem einen sein Eigentum rauben, dem anderen das geraubte Gut geben?«

Wo solche Einbrüche in die Rechtsordnung möglich waren, da muß der Expropriationsgedanke sozusagen in der Luft gelegen,30 muß die soziale Bewegung mit innerer Notwendigkeit zu sozialistischen Schlußfolgerungen geführt haben, die sich ohne Zweifel in noch radikalere praktisch-legislative Versuche umgesetzt hätten, wenn nicht die sozialrevolutionäre Strömung durch den Untergang der republikanischen Freiheit eine gewaltsame Eindämmung erfahren hätte. Wäre auf diesem unterwühlten Boden den sozialrevolutionären Leidenschaften und Begierden noch länger die Möglichkeit geblieben, sich frei zu betätigen, so hätte es die römische Gesellschaft wohl erleben können, daß die Gassendemagogie ernstlich ins Werk setzte, was Cicero übertreibend vom[444] Volkstribunat behauptet: »Omnia infima summis paria fecit, turbavit, miscuit!«31 Die Luft dazu war ja reichlich vorhanden!

Jedenfalls war es eine Illusion, wenn man etwa einmal auf konservativer Seite geglaubt hatte, man könne allen künftigen Agitationen nicht wirksamer vorbeugen als dadurch, daß man alles irgend verfügbare Land zur Aufteilung bringe und für spätere Demagogen – um mit dem Volkstribunen Livius Drusus (i.J. 91) zu reden – nichts mehr zu verteilen übrig lasse als den Himmel und den Kot!32 Wenn keine Staatsländereien mehr zu Gebote standen, hatte der Staat nicht Mittel genug, um sich das für die Versorgung der Armut noch Fehlende anderweitig zu verschaffen? Ein Gedanke, der ja in der demagogischen Agrarpolitik der letzten republikanischen Zeit mit ihren zum Teil geradezu ungeheuerlichen, ausgeprägt staatssozialistischen Ansprüchen an die Staatsfinanzen eine große Rolle spielt!33 Wie aber, wenn die für den Ankauf von Grundstücken bestimmten Summen nicht ausreichten, um eine genügende Menge Landes verteilen zu können; oder wenn die Grundeigentümer sich weigerten, zu dem staatlichen Schätzungspreis zu verkaufen,34 oder wenn sie sich überhaupt nicht von ihrem Grund und Boden trennen wollten? Was dann? War zu erwarten, daß die einmal entfachte Begehrlichkeit, das »Räuberunwesen im Staat«,35 wie es ein konservativer Gegner nennt, vor diesem Widerstand des einzelnen und vor seinem Eigentum Halt machen würde;36 zumal in einer Zeit, in der die Rücksichtslosigkeit agrarischer »Verteilungs«kommissionen gegenüber wohlerworbenen Rechten und die Unmasse der gewaltsamen Besitzveränderungen37 die Achtung vor dem Privateigentum ohnehin aufs tiefste erschüttert hatte?

[445] Wieweit die soziale Demagogie selbst auf dem Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gehen konnte, dafür liefert einen drastischen Beweis die allerdings nicht zum Gesetz gewordene, von Cicero ironisch als das »schöne und volkstümliche Ackergesetz«38 bezeichnete Rogation des Volkstribunen Servilius Rullus (i.J. 64),39 welche die »vage Hoffnung« und die »blinde Erwartung«40 des Volkes auf einen Höhepunkt emporhob, über den hinaus im Rahmen des Bestehenden eine weitere Steigerung kaum mehr möglich war. Die Ackerverteilung, die er forderte, war in einer Ausdehnung geplant, die alles, was man bis dahin in Rom auf dem Gebiete der sozialen Politik erlebt hatte, in Schatten stellen sollte! Da eine unmittelbare Aufteilung nur an dem verpachteten Gemeindeland in Campanien möglich war und dieses nur für fünftausend Lose zu je zehn Morgen ausgereicht hätte, so sollte eine mit unbeschränkter Macht bekleidete und von einem Stabe von zweihundert Hilfsbeamten unterstützte Agrarkommission nach Gutdünken in ganz Italien Landankäufe im großen Stil vornehmen, und die Mittel dazu sollten beschafft werden durch den Massenverkauf der gewaltigen Staatsländereien, welche die Republik außerhalb Italiens in Asien, Mazedonien, Sizilien, Spanien und Afrika besaß, sowie durch Veräußerung alles seit dem Jahre 88 vom Staate erworbenen beweglichen und unbeweglichen Gutes, worüber nicht schon früher verfügt war; eine Bestimmung, welche besonders Ägypten und Cypern ins Auge faßte. Und als ob es an diesem grotesken Generalausverkauf der Republik nicht mehr als genug gewesen wäre, wird auch noch ein großer Teil der Staatseinnahmen aus Zöllen, Zehnten und anderen Abgaben der Untertanen, sowie der noch zur Verfügung stehende Rest der Kriegsbeute der letzten Jahre für das große soziale Erlösungswerk in Anspruch genommen!41

Man sieht, es ist nur zu gerechtfertigt, wenn Dionys einen Vertreter des Besitzes die Prophezeiung aussprechen läßt, die Austeilung von Staatsländereien werde noch Anlaß zu vielem Unheil geben. »Es schleichen sich damit Gewohnheiten in den Staat ein und wurzeln hier dauernd fest, die schwere Gefahren mit sich bringen werden. Denn die Begierden werden aus der Seele nicht dadurch ausgetilgt, daß man sie befriedigt, sondern[446] im Gegenteil noch gesteigert und verschlimmert.«42 – »So wie die Masse nun einmal denkt, werden sie alle Königsschätze der Welt nicht zufriedenstellen, am wenigsten dieser kleine Feldbesitz.«43 Das Urteil ist ja einseitig insoferne, als es die Frage nach dem berechtigten Kern der Agrarreform einfach ignoriert, darin aber hat es ohne Zweifel recht, daß für die radikalen Elemente der Bewegung die Ackergesetze eben nur Minimalforderungen darstellten, die auf die Gegenwart zugeschnitten waren, Abschlagszahlungen, die man – nach dem Bebelschen Grundsatz: »Warum sollen wir nicht nehmen, was wir erhalten können?« – eben als solche hinnahm, ohne deshalb auf viel weitergehende Wünsche zu verzichten.

Schon die plutokratischen Gegner des Tiberius Gracchus erhoben gegen seine Ackergesetze den Vorwurf, es liege denselben die Absicht zugrunde, »den Staat durcheinanderzuwerfen«, es handle sich um den Umsturz aller Verhältnisse!44 Und Cicero45 meint: »Wer aus Popularitätssucht die Ackerverteilung in Anregung bringt, infolge deren die Besitzer aus ihrem Eigentum vertrieben werden, oder wer einen Schuldenerlaß betreibt, der erschüttert den Staat in seinen Grundfesten. Aus ist es mit dem Frieden der Gesellschaft, wenn dem einen sein Vermögen genommen und einem andern gegeben wird, aus mit Recht und Gerechtigkeit, wenn nicht jedermann das Seine behalten darf!« Urteile, die ja zunächst nur soviel beweisen, daß die einseitigen Vertreter des Besitzes es zu allen Zeiten, und so auch damals verstanden, ihrer ablehnenden Haltung gegenüber rettenden Reformen dadurch ein ehrbares Mäntelchen umzuhängen, daß sie unter allen Umständen das Gespenst des Umsturzes an die Wand malten, auch da, wo dazu kein Anlaß war. Allein, daß eine solche Auffassung auf seiten der Besitzenden überhaupt möglich war, beweist immerhin soviel, daß dieselbe dem Gesichtskreis der Zeit wenigstens nicht ferne lag. Und insoferne sind auch die folgenden uns zufällig überlieferten Äußerungen der Art symptomatisch von höchster Bedeutung.

Schon gegenüber C. Gracchus soll ein Führer der Optimaten, L. Calpurnius Piso, den ironischen Ausspruch getan haben: »Ich wünsche nicht, daß es dir beliebte, meine Güter an das Volk kopfweise[447] auszuteilen; wenn du es aber tust, so beanspruche auch ich meinen Anteil.«46 Noch deutlicher ist die Sprache Ciceros, der die obenerwähnte Äußerung des Volkstribunen Philippus in seiner Pflichtenlehre als eine »furchtbar gefährliche« erklärt und geradezu den Vorwurf gegen sie erhebt, sie laufe ihrer ganzen Tendenz nach auf die Idee einer »Ausgleichung der Güter hinaus«!47 So skeptisch man sonst dergleichen Äußerungen Ciceros aufnehmen mag, hier kann man doch wohl sagen: daß er diese Konsequenz aus der Phrase des Volkstribunen ziehen zu dürfen glaubt und es zugleich im Anschluß daran für nötig hält – unter Hinweis auf König Agis – seinen Lesern so eindringlich wie möglich die Notwendigkeit »freien Besitzes« und »unverkümmerter Sicherheit des Eigentums« einzuschärfen,48 läßt wenigstens soviel unzweideutig erkennen, daß dieser Begriff der »aequatio bonorum« oder – wie es Cicero ein andermal nennt – das »pecunias aequare«49 in der Tat seinem Publikum nur zu geläufig war, daß die blasse Furcht vor jener von ihm stets so heftig gerügten »Art des Schenkens, wobei man den einen gibt, den anderen nimmt«, und vor »dem Neid, der den Besitzenden die Behauptung oder Wiedererlangung ihres Eigentums erschwert«,50 wie ein Alpdruck auf dieser Gesellschaft lastete.

Die von dem sonstigen Ton der rein theoretischen Erörterungen der Pflichtenlehre grell abstechende Bitterkeit der Polemik gegen diese ganze soziale Strömung, die leidenschaftliche Erregung, in die der Verfasser bei der bloßen Erwähnung jener agitatorischen Phrase gerät, und die empörte Äußerung über die »Pest«, die man mit solchen Schlagworten[448] für den Staat heraufbeschwöre, all das ist Ausdruck wirklicher von der bangen Sorge um Hab und Gut eingegebener Empfindung.51 Eine Sorge, die gerade dann recht verständlich wird, wenn damals in den Massen wirklich eine sozialrevolutionäre Stimmung gärte, die sich auflehnte gegen die Ungleichheit als solche und sich mit dem Gedanken der Expropriation der »wenigen« Kapitalisten durch die Massengewalt der Enteigneten und Elenden bereits vollkommen vertraut gemacht hatte. Ein Geist der Auflehnung, der natürlich durch die Verbreitung solch tendenziöser und übertreibender Behauptungen über die angeblich verschwindende Zahl der Besitzenden und die ungeheure Größe des Heerlagers der Enterbten52 eine gewaltige Steigerung erfahren mußte. Daher ist es auch begreiflich, warum Cicero es einmal bei einer andern Gelegenheit für notwendig hält, den Grundsatz einzuschärfen, »daß es weder jemandem schaden darf, wenn er durch seinen Fleiß mehr hat, noch ihm nützen, wenn er durch seine Schuld weniger hat als andere.«53 Denn wenn das auch zunächst gelegentlich einer Polemik gegen den platonischen Sozialismus gesagt ist, so ist es doch sicherlich zugleich auf die sozialdemokratischen Tendenzen der Zeit gemünzt.

In einem Diodorfragment wird einmal erzählt, die hinter Tiberius Gracchus stehenden Massen hätten von demselben erwartet, daß er bis zum letzten Atemzuge kämpfen werde, »dem Volke das Land« zu gewinnen.54 Man sieht aus dem abgerissenen Fragment nicht, was der eigentliche Sinn dieser Wendung ist, ob die Erwartung der Masse sich nur auf den von Gracchus zur Einziehung bestimmten Teil der Possessionen am Gemeinland beschränkte oder ob ihr eine noch weitergehende Expropriation vor Augen schwebte, wie man ja allerdings ohne weiteres annehmen[449] müßte, wenn Cicero recht hätte, daß das Volk damals nichts Geringeres erhoffte als »die sichere Begründung des Wohlstandes der armen Leute«!55 Doch kann für den, der sich in die ganze soziale Atmosphäre des letzten Jahrhunderts der Republik hineinzudenken vermag, kein Zweifel darüber bestehen, daß das Schlagwort hellenischer Sozialrevolutionäre, »das Land der Masse«, oder »dem Volke«,56 auch in den sozialen Kämpfen des damaligen Rom vernommen worden ist.

Ein solcher Schlachtruf war ja schon die notwendige logische Konsequenz des obenerwähnten ökonomischen Freiheitsbegriffs,57 und in der Tat hat ja auch ganz folgerichtig die soziale Legendenbildung der Revolutionsepoche gerade den Gedanken in den Vordergrund gestellt, daß es die Aufgabe einer wahrhaft volkstümlichen Sozialpolitik sei, womöglich jedem Staatsbürger einen Anteil am nationalen Boden zu verschaffen.

So erzählt die sozialdemokratische Legende von einem alten König, Tullus Hostilius, als die »allerherrlichste« seiner Taten, durch die er sich die Liebe aller Lohnarbeiter und der Armen überhaupt gewonnen habe,58 daß er durch Aufteilung des Krongutes jedem landlosen Bürger ein Grundstück verschaffte59 und durch diesen Akt der »Philanthropie«, wie es Dionys nennt, die ganze ärmere Klasse der Notwendigkeit überhob, auf fremdem Grund und Boden anderen dienen zu müssen.60 Zugleich trug er auch Fürsorge dafür, daß keiner seiner Römer des eigenen Heims entbehre. Er ließ allen »Herdlosen« Plätze zum Häuserbau anweisen, und er selbst nahm inmitten der aus aller sozialen Not Erlösten seinen Wohnsitz.61 Der Hort und Schirm einer Gemeinde, die, genau so wie in der christlichen Legende die Genossen der Urgemeinde von Jerusalem, von sich hätten sagen können: »Es ist keiner unter uns, der Mangel litte.« In vorbildlicher Vollkommenheit ist[450] hier verwirklicht, was Cicero als Zukunftserwartung der Scharen des Gracchus bezeichnet,62 oder was in einem der beiden Sendschreiben an »Cäsar« von der guten alten Zeit der Republik gerühmt wird.63 »Auch dem niedrigsten Bürger mangelte – am Pfluge wie im Felde – nichts, was zu einem anständigen Leben gehört, und so genügte er sich selber und dem Vaterland!64 Alle Fesseln sozialer und ökonomischer Knechtschaft sind gelöst, alle Schranken der Freiheit hinweggeräumt; oder – wie Proudhon gesagt hätte – das freie Eigenturm des freien Mannes kann seine volle soziale Wirksamkeit entfalten. Der Bürger ist sich selbst zurückgegeben und zum Herren seines Schicksals gemacht. Er hat den festen Boden gewonnen, auf dem jeder die Segnungen der Freiheit genießen kann, jedem der Preis des Fleißes, die Früchte seiner Arbeit zufallen.65 Solche Traumbilder sozialen Glückes reden doch gewiß eine deutliche Sprache!

Ein interessantes Streiflicht fällt ferner auf diese Zeit durch die Reflexionen über die Agrarverfassung der Germanen, denen wir bei Cäsar begegnen. Derselbe sucht die Feldgemeinschaft der Germanen, die das Problem der Bodenteilung in völlig gleichheitlichem Sinn gelöst habe, in ihren Entstehungsursachen zu erklären und führt zu dem Zweck eine Reihe von Gründen an, die, wie er sagt, für dieselbe vorgebracht würden. »Damit sie nicht nach ausgedehnten Besitzungen trachteten und die Mächtigeren nicht die Schwachen aus ihrem Besitz verdrängten« – »damit nicht die Geldgier erwache, welche zu Parteiungen und Zwistigkeiten führt«; endlich »damit das Volk zufrieden erhalten werde, indem jeder sehe, daß auch der Mächtigste nicht mehr besitzt als er«.66

[451] Es ist längst bemerkt worden, daß diese auf einer förmlichen Theorie der sozialen Nivellierung und der »aequatio bonorum« beruhende sozialistische Wohlfahrtspolitik kaum in den Wäldern Germaniens zu Hause war, daß wir es hier vielmehr mit einer nachträglichen, erst auf dem Boden einer höheren Kultur entsprungenen Reflexion zu tun haben.67 In dieser Argumentation prägt sich unverkennbar der Geist einer Zeit aus, die »voll sozialer Fragen« war.68 Sie beweist, daß den Zeitgenossen Cäsars der Gedanke an die Möglichkeit einer Ausgleichung der sozialen und ökonomischen Gegensätze durch die Macht der staatlichen Gemeinschaft keineswegs fremd war.

Noch in einem interessanten Memoire des Kaisers Tiberius wird die Frage aufgeworfen: »Wogegen soll man zuerst einschreiten; was zuerst beschneiden? der Landgüter ungeheure Ausdehnung? die zahllose Dienerschaft aus allen Nationen? die Masse des Silbers und Goldes? die Wundergebilde in Erz und Malerei? die Prachtgewänder der Männer und Frauen?« – Wozu der Kaiser allerdings die Bemerkung macht, wiewohl man häufig über diese Dinge klage und Beschränkung fordere, würde man, falls dieselbe Gesetz würde, ein lautes Geschrei erheben, daß man im Staate das Oberste zu unterst kehren und das Hochstehende dem Untergang weihen wolle!69 Warum sollte nicht auch der Proletarier und gerade er derartige Fragen und Forderungen gestellt haben, und zwar mit größerem Ernst, als es in den Kreisen der Besitzenden der Fall war?

Es ist endlich in diesem Zusammenhang nicht ohne Interesse, auf die unter Sallusts Namen gehenden an Cäsar gerichteten Pamphlete »Über die Neuordnung des Staates« hinzuweisen, die, obwohl keineswegs ein Erzeugnis des proletarischen Radikalismus, von der Illusionsfähigkeit der sozialpolitischen Ideologen des cäsarischen Rom ein bedeutsames Zeugnis ablegen.70 Es wird da von dem Manne, unter dessen Führung die Volkspartei endlich die Hochburg der Plutokratie überwand, nichts Geringeres gefordert, als daß nun endlich der Gott des Reichtums gründlich[452] zerschmettert, die Herrschaft des Kapitals gebrochen werde! Was ein moderner Italiener mit Recht als eine bei der lateinischen Rasse häufig auftretende Erscheinung bezeichnet, die Neigung, sich in großartigen Programmen und glänzender Polemik zu ergehen, ohne zu praktischwirksamen und durchführbaren konkreten Schlüssen zu gelangen,71 dafür liefern, zum Teil wenigstens,72 diese Sendschreiben ein drastisches Beispiel!

Um der Gesellschaft den ersehnten Frieden zu bringen und das Elend der Zwietracht auf ewig zu tilgen,73 soll die cäsarische Gesetzgebung erzwingen, was nach dem eigenen Zugeständnis des Verfassers eine entsittlichte Gesellschaft nicht mehr freiwillig zu leisten vermag. Wie ein zweiter Periander hat Cäsar dafür zu sorgen, daß niemand über seine Mittel Aufwand treibe und so ein Hauptmotiv räuberischer Ausbeutung anderer beseitigt werde.74 »Von der Bildfläche verschwinden muß in Zukunft der Wucherer, damit jeder sich innerhalb des Seinen bescheiden lerne. Das einfachste Mittel, um zu erreichen, daß die öffentlichen Gewalten dem Volke und nicht dem Gläubiger dienen.«75 Der heranwachsenden Jugend ist der Geist ehrlicher Arbeit einzupflanzen; Luxus und Reichtum höre auf, Gegenstand ihres Strebens zu sein!76 Und das wird geschehen, wenn das Geld, das die Quelle alles Verderbens ist, durch Cäsar seinen Einfluß und seinen Glanz verliert!77 Er wird der Urheber des höchsten Glückes für das Vaterland, für die Mitbürger, ja für das Menschengeschlecht werden, wenn er die Geldsucht verbannt oder wenigstens nach Möglichkeit mindert,78 wenn er vor allem dem Gelde[453] die Macht nimmt.79 Mögen die vornehmen und reichen Leute über die »herben«80 Forderungen noch so toben und wüten und sich darüber entrüsten, daß alles von Grund und Boden aus umgestürzt werde,81 das Endergebnis ist des Schweißes der Edlen wert; es ist eine wahrhafte Erneuerung, eine Wiedergeburt des Volkes.82 Und in bezug auf diese allerdings zugleich durch Zuführung neuer Elemente zu bewirkende Erneuerung ist der Verfasser so optimistisch zu glauben, daß schon Reformen der Stimmordnung in den Komitien, wie z.B. die einst von C. Gracchus durchgeführte Beseitigung des Vorstimmrechtes der höheren Vermögensklassen, »gewaltige Heilmittel gegen den Reichtum« wären, insoferne als durch eine solche »Ausgleichung« – ganz wie im Staate Lykurgs!83 – ein Wettstreit entfacht werden würde, indem es sich nicht mehr um Überlegenheit des Besitzes, sondern der Tüchtigkeit handeln würde!84 Der alte Aberglaube, daß mit neuen Einrichtungen alsbald auch ein neues, unendlich viel besseres Geschlecht erstehen würde! Und das soll die Folge einer Reform sein, mit der seinerzeit C. Gracchus wesentlich den Zweck verfolgt hatte, dem hauptstädtischen Proletariat das Übergewicht in den Wahlkörpern zu verschaffen! Ja, der Verfasser geht sogar so weit, zu behaupten, daß alles, was er an der herrschenden Gesellschaft als »Übel« rügt: der Paläste- und Villenbau, die Pracht der Bilder, Purpurdecken und sonstigen Hauseinrichtung, sowie die Ausschweifungen der Sinnlichkeit, verschwinden würde, wenn dem »Gelde seine Ehre« genommen werde!85 Man sieht: die hohle Phraseologie eines Doktrinarismus, der »von praktischer Nüchternheit« himmelweit entfernt ist und mit seinem hohen Ideenflug einen merkwürdigen Kontrast bildet zu der brutalen Tatsache der militärischen Tyrannis, welche die von ihm als Träger der nationalen und sozialen Wiedergeburt angerufene Macht als ihr Endziel verfolgte! Drängt sich hier nicht ganz von selbst der Gedanke auf: Wenn schon in den gebildeten Kreisen der römischen Gesellschaft eine derartige Illusionsfähigkeit, ein solcher Utopismus möglich war, zu welchen Phantasien[454] mag sich dann vollends die revolutionäre Ideologie des Proletariers verstiegen haben?

Insoferne ist der Utopismus der Gebildeten, wie er uns auch sonst in der Literatur entgegentritt, nicht ohne Bedeutung für unsere Frage, weil er uns wenigstens ahnen läßt, welche Empfindungen unter dem Drucke der Zeit in den Tiefen der Volksseele lebendig geworden sein mögen,86 in die uns keine Überlieferung mehr hinabführt. Und eines hat die angedeutete Geistesrichtung in den Kreisen der Gebildeten jedenfalls mit dem Volksempfinden gemein: das Gefühl der Verstimmung und des Mißbehagens gegenüber dem Bestehenden, wie es sich in Zeiten hoher Kultur mit der Steigerung und Verfeinerung der Empfindlichkeit des Nervensystems auch auf den Höhen der Gesellschaft einzustellen pflegt. Allerdings läßt diese soziale Romantik der Gebildeten, wie sie in der Dichtung, in der Geschichtschreibung und Philosophie zum Ausdruck kommt, von dem Reformerinteresse und Reformerglauben der Sendschreiben wenig erkennen. Für sie lag das Ideal nicht vor, sondern hinter ihnen. Auch zeigt die ganze Art und Weise, wie sich die Vorstellungen von einer idealen, besseren Vergangenheit in diesen literarischen Kreisen gestalteten, daß hier viel studierte Nachahmung, viel künstliche Anempfindung an fremde Vorbilder, nämlich an die idealen Gesellschaftsgemälde der Griechen von Hesiod bis herunter zur Stoa zugrunde liegt. Man fühlt es bei so mancher dieser römischen Schilderungen eines »saturnischen« Zeitalters seliger Unschuld und ewigen Friedens sofort heraus, daß sie nach der Schablone gemacht sind und nach der Schule schmecken und oft weiter nichts sind als ein Spiel der Phantasie, elegante Effektbilder, bei denen die Realität des Geschauten überhaupt nicht in Frage kommt und auch die zur Schau getragene Begeisterung für das Glück jener Urzeit nichts weniger als echt ist. Wer wollte es z.B. ernst nehmen, wenn Tibull von den herrlichen Zeiten freier Liebe schwärmt,87 oder wenn Ovid, der sonst mit dem ganzen Behagen des Kulturmenschen auf das alte bäurische Rom mit seinen Strohdächern und Herden und auf die Streulager des Romulusvolkes herabsieht,88 mit vergilschen Farben die paradiesische Unschuld des goldenen Zeitalters preist,89 nach der gerade er am wenigsten Verlangen trug! Allein schon[455] der Umstand, daß dieses Thema mit solcher Vorliebe – und zwar nicht bloß von den Poeten – immer und immer wieder variiert wurde, läßt deutlich erkennen, wie populär dasselbe war, wie sehr es einer weitverbreiteten Stimmung und Gedankenrichtung entgegenkam.

Wir haben diese Stimmung als eine romantische bezeichnet, wie sie recht eigentlich dem Charakter einer Epoche entspricht, in der der Wettstreit alter und neuer Bildungen noch unausgeglichen fortdauerte; – eine jener Epochen der Auflösung und Neugestaltung, in denen Naturen von lebhafter Empfindung und Einbildungskraft immer das Bedürfnis empfunden haben, in echt romantischer Weise wenigstens im Geist einen Ausweg aus den Widersprüchen des Tages und dem Druck der Gegenwart zu suchen, indem sie aus der Wirklichkeit in das Wunderland der Träume flüchten. Die gelegentlich selbst bei einem Horaz zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach jenem göttlichen Asyl der Seligen jenseits des Ozeans, die frei seien von der Qual und dem Elend der geschichtlichen Menschheit,90 nach jenen glücklichen Eilanden, von denen man sich erzählte, daß sie einer der großen Führer der Volkssache, Sertorius, allen Ernstes als letzte Zufluchtsstätte ins Auge gefaßt habe,91 der an rousseauische und tolstoische Stimmungen erinnernde Drang heraus aus dem Hasten und Rennen nach Gewinn und Genuß,92 aus dem Raffinement einer überfeinerten Kultur und »der Sklaverei, die unter Gold und Marmor wohnt«,93 zurückzukehren zu einer wahren, einfachen, natürlichen Existenz, zu dem ungebrochenen Frieden der Natur und dem Zusammenleben mit der Natur, in dem man allein noch sich »als echter Nachkomme König Saturns«94 fühlen könne, die sentimentale Empfindungsweise, die sich inmitten der Dissonanzen der gegenwärtigen Gesellschaft mit einer unbestimmten Sehnsucht erfüllt nach dem unwiederbringlich verlorenen Glück einer idealisierten Vergangenheit, die Verkörperung endlich dieser Stimmungen in dem Ideal des kommunistischen Gottesreiches auf Erden, wie es eben das goldene »saturnische Zeitalter« (die Saturnia regna!) darstellt, all das ist in der Tat echt romantisch. Denn die Romantik lebt von dem Gegensatz gegen die Wirklichkeit!

Und in der Ausmalung dieser romantischen Utopie eines dereinst rings um das Kapitol sich ausbreitenden Friedensreiches, in dem alle frei und[456] gleich und Brüder waren, kann sich der römische Geist nicht genug tun, bis die von hellenischer Phantasie als Muster hingestellten Idealtypen ganz und gar in römische Form umgesetzt sind.

So heißt es bei Vergil:


»Niemand zwang das Feld vor Juppiter, Früchte zu tragen,

Noch war's Brauch, die Flur zu marken oder zu sondern;

Allen erwarben alle. Freigebiger brachte das Land selbst

Alles hervor und reicher, da keiner fordert' gewaltsam.«95


Das kollektivistische Ideal in denkbar vollkommenster Gestalt! Und so tritt es uns auch bei Tibull entgegen:


»Herrlich lebten fürwahr in Saturnus' Reiche die Menschen,

Ehe noch Wege das Land weithin offengelegt.

Noch nicht trotzte der Kiel den dunkelen Wogen des Meeres,

Noch nicht bot dem Sturm offen das Segel die Brust.

Türen hatte kein Haus, die Grenzen zeigte kein Markstein,

Der nach festem Gesetz sondert die Fluren zumal.«96


Ebenso bei Ovid (mit besonders glücklicher Formulierung des Gemeinschaftsideals):


»Und den Acker, der ehe gemein wie die Luft und die Sonne,

Markte behutsam ab mit langer Furche der Messer.«97


Und was hier im Gewande der Dichtung erscheint, das verschmäht die Geschichtschreibung nicht in ihr Gebiet aufzunehmen, wenn sie es auch zunächst als eine »Sage« bezeichnet. Hatte doch schon Sallust von einer Zeit geträumt, in der – wie er sich ausdrückt – das Leben der Menschen noch frei war von der Begierde und jeder an dem Seinigen sein Genüge fand.98 Und er hatte von der guten alten Zeit der Republik[457] behauptet, daß hier dank einem Minimum von Habsucht ein Maximum sozialen Friedens erreicht worden sei.99 Eine Auffassung, die allerdings noch nicht von der Annahme eines Urkommunismus ausgeht, aber ihr doch schon so nahe kam, daß die Historisierung der romantischen Utopie der Poeten sich im Beginn der Kaiserzeit gewissermaßen von selbst ergab. Schon der Verfasser der ersten römischen Weltgeschichte, Pompejus Trogus, erzählt die Geschichte von dem König Saturn, der »so gerecht gewesen sei, daß unter ihm kein Mensch dem andern zu dienen brauchte100 und niemand ein Privateigentum hatte, sondern alle alles gemeinsam und ungeteilt besaßen, als wären sie alle Erben eines Vatergutes«.101 Ein Gesellschaftsideal, dessen Andenken fortlebe in jener »Ausgleichung des Rechtes aller«, wie sie wenigstens einmal jährlich am Saturnalienfeste stattfinde.102

An dieser Auffassung ist von besonderem Interesse die Betonung der »Gerechtigkeit« als des leitenden Prinzips des idealen Sozialstaates. Denn eben darin erkennen wir zugleich, daß diese Konzeption in der Tat für viele einen kritischen und programmatischen Charakter hatte, daß auch in Rom das auf das Problem des sozialen Seinsollens gerichtete Denken zu einer Grundnorm für die Beurteilung alles sozialen Lebens, zu einer Theorie vom sozial Gerechten zu gelangen suchte, daß auch der römische Geist – in völliger Anlehnung an den hier vorangegangenen hellenischen – nicht eher ruhte, als bis er sich auf diesem Gebiete zu einem letzten obersten, nicht mehr ableitbaren Prinzip des Seinsollens erhoben hatte: einem Prinzip, aus welchem sich ihm für die Fülle der sozialen Phänomene, für das Gebiet des menschlichen Handelns und der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Mensch ein gleich harmonisches Bild gestaltete, wie es sich die romantische Naturanschauung[458] der Zeit von dem Reiche der Natur gebildet hatte.103 Denn der Anschauung, welche das saturnische Kapitol zu einem Wohnsitz der personifizierten Gerechtigkeit machte, liegt unverkennbar der allgemeine Gedanke zugrunde, daß das Privateigentum und der Klassenunterschied eigentlich ein Unrecht seien, daß eine wahrhaft gerechte Gesellschaftsordnung mit Gütergemeinschaft und vollkommener sozialer Gleichheit identisch sei.

Selbst ein Millionär unter den Philosophen, wie Seneca, der für seine Person keineswegs geneigt war, die Konsequenzen dieses Phantasiesozialismus zu ziehen, hat sich dem Zauber der romantischen Utopie bereitwillig hingegeben.104 Auch er schwärmt gelegentlich für »jene seligen Zeiten, in denen die Geschenke der Natur jedem ohne Unterschied zum Genusse bereitlagen«, wo Habgier und Schlemmerei noch nicht ihre antisoziale Wirksamkeit entfalten konnten, und die Solidarität aller noch nicht durch die Absonderungstendenz räuberischer Instinkte gesprengt war.105 »Was war glücklicher« – ruft er aus – »als jenes Geschlecht der Menschen? Sie genossen gemeinsam die Gaben der Natur. Und diese – eine gute Mutter! – genügte für die Erhaltung aller. Es war ein Besitz an gemeinem Gut und ein sicherer Besitz!106 Daher war jenes Geschlecht auch das reichste: denn es war ja unter ihm kein Armer zu finden! So gut war es mit den Menschen bestellt, als die Habgier hereinbrach und, indem sie dieses und jenes auf die Seite schaffte und für sich haben wollte, aus allem ein Fremdes (Gut) machte, das in ungemessener Menge Vorhandene ins Enge verschloß, die Armut in die Welt brachte und über der Gier nach vielem alles verlor.107 Mag sie nun auch noch so heftig sich bemühen, wiederzugewinnen, was sie verloren; mag sie Grundstück an Grundstück reihen und den Nachbar durch Geld oder Gewalt aus seinem Besitztum treiben; mag sie die Ländereien zum Umfang von Provinzen ausdehnen und sie nur dann eine Besitzung nennen, wenn es eine lange Reise wäre, sie zu durchwandern, – keine Erweiterung[459] der Grenzen unserer Güter wird uns wieder dahin bringen, von wo wir herkamen. Wenn wir alles getan haben werden, werden wir höchstens vieles haben, während einst alles unser war.« »Niemand konnte damals zu viel, niemand zu wenig haben: denn man teilte alles einträchtiglich.108 Noch legte der Starke nicht Hand an den Schwächeren, noch kannte man nicht den Habsüchtigen, der Güter aus dem Verkehre zieht, um sie unnütz liegen zu lassen, und so einen anderen selbst von dem Notwendigen ausschließt. Man sorgte für den Nächsten, wie für sich selbst.109 Die Waffen ruhten, und die Hände, unbefleckt von Menschenblut, erhoben sich feindlich nur gegen wilde Tiere.« – »In ihren Wäldern und unter ihren schlichten Laubdächern brachten diese Menschen friedliche Nächte ohne Seufzer hin. Wir wälzen uns ruhelos auf unseren Purpurbetten, und der scharfe Stachel der Sorge raubt uns den Schlaf. Welch sanften Schlummer dagegen gab jenen die harte Erde!« – »Über ihnen hing kein kostbares Getäfel mit Schnitzwerk, – sie hatten noch keine Paläste, Städten ähnlich. Frische Luft und ein freier Durchzug durch offene Räume, ein leichter Schatten unter einem Fels oder Baum, ein klarer Quell und Bäche, frei strömend, nicht schal und in Röhren und künstliche Leitungen eingezwängt, Auen, schön ohne Kunst und inmitten die ländliche Hütte, mit einfach ländlichem Sinn geschmückt, so recht eine Behausung nach der Natur!«110

[460] Die sentimentale Idylle in reinster Gestalt, in welcher der soziale Utopismus einen Höhepunkt erreicht, der selbst von einem Zeno nicht hätte überboten werden können. Denn wie in Zenos Vernunftreich,111 so ist auch diesem saturnischen Geschlecht nicht nur das Recht auf ein Sondereigentum unbekannt, sondern jedes von einer öffentlichen Gewalt überhaupt erzwingbare Recht. Menschen, die imstande waren, das kollektivistische Ideal in dieser Reinheit zu verwirklichen, die mußten auch vollkommen frei gewesen sein von der individualistischen Eigentumsmoral, welche den Menschen der Gegenwart beseelt, dessen gewaltsame Instinkte unter die Schranken des Gesetzes gebeugt werden müssen. Der sozialethische Geist, der diese untergegangene Welt beherrschte, ließ es von vorneherein zu keinem Konflikt mit dem eingeborenen Sittengesetz, zu keiner Kriminalität kommen. Daher bedurfte auch hier die Gesellschaft keiner Schutzvorrichtungen, da es so wenig wie im Sozialstaat Zenos einen Gegensatz des Einzelwillens zu dem der Gemeinschaft gab.112

Und dabei ist es nicht bloß der Dichter und der Philosoph, der hier willig dem kühnsten Fluge hellenischer Ideen folgt. Hat es doch ein Tacitus nicht verschmäht, dies Phantasiegebilde ohne weiteres in die ernste Geschichtschreibung aufzunehmen! Auch er träumt – ganz wie Zeno, Tolstoi, Ibsen – von der Möglichkeit menschlicher Gemeinschaften ohne jegliche Strafeinrichtungen und staatliche Zwangsmittel! Für ihn beginnt tatsächlich die Geschichte mit der paradiesischen Unschuld eines staatlosen, auf idealer Gleichheit und Gerechtigkeit (aequalitas!) beruhenden Gemeinschaftslebens. Alle Rechtsordnung ist ihm verhältnismäßig späten Ursprungs. Am Anfang steht der friedliche Anarchismus der »ältesten Sterblichen«, denen der Wettbewerb der Selbstsucht und jede Gewaltsamkeit vollkommen unbekannt gewesen sei.113 Anderseits[461] ist freilich all diesen Trägern der sozialen Romantik ein Zug gemeinsam, der uns von der Höhe der Utopie wieder in die rauhe Wirklichkeit zurückführt. Sie denken nicht daran, daß jener alte Urstand der Natur etwa auf einer höheren Stufe der Entwicklung wiederkehren könne. Man braucht nur die Namen so ausgeprägt sozialkonservativer Denker zu nennen wie Seneca und Tacitus, um sofort zu erkennen, wie wenig hier von einer sozialistischen Zielsetzung die Rede sein konnte. Das kollektivistische Ideal bleibt in diesen Kreisen – wenigstens soweit unsere Kunde reicht – ein Utopien, welches nicht sein kann, wenn es auch vielleicht sein sollte.

Der einzige Versuch zu einer Umsetzung der Utopie in die Wirklichkeit, von dem die Geschichte der sozialen Romantik der Gebildeten aus dem cäsarischen Rom etwas zu melden weiß, ist eine törichte Farce, deren Urheber übrigens nicht ein Römer, sondern ein Grieche war. Es ist die bekannte Geschichte von dem Neuplatoniker Plotin, der bei Kaiser Gallien (261-268) und dessen Gemahlin in hoher Gunst stand und auf diese Stellung den abenteuerlichen Plan gründete, das platonische Staatsideal – ob der Republik oder der Gesetze, wird nicht gesagt – in das Leben einzuführen! Eine angeblich schon einmal als (pythagoreischer?) Philosophenstaat bestehende, aber dem Untergang anheimgefallene Stadt in Campanien sollte wieder aufgebaut und vom Kaiser mit dem umliegenden Land ausgestattet werden. Die künftigen Bewohner der neuen Stadt sollten nach den Gesetzen Platos regiert werden und die Stadt Platonopolis heißen. Plotin selbst sollte mit seinen Freunden und Schülern seinen Wohnsitz daselbst nehmen.

Wir wissen nicht, wie sich der römische Imperator zu dem kindischen Projekt gestellt hat. Aber Plotins Schüler und Biograph Porphyrios, der die Geschichte völlig ernst nimmt, ist naiv und optimistisch genug, zu glauben, der Wunsch des Philosophen hätte sehr leicht in Erfüllung gehen können, wenn nicht die Mißgunst der Höflinge gewesen wäre, die aus Neid oder Furcht oder einem sonstigen schlechten Motiv das ganze schöne Projekt vereitelt hätten!114

Doch sei dem, wie ihm wolle! So viel ist jedenfalls gewiß, daß der Salonsozialismus der Modephilosophie unmöglich das letzte Wort einer Gesellschaft sein konnte, die den Druck der politischen, sozialen und ökonomischen Disharmonien von Generation zu Generation sich verschärfen sah und doch zugleich noch eine Fülle lebendiger Kräfte in[462] sich barg, über die weder der dumpfe Pessimismus noch die gedankenlose Genußsucht der Zeit Gewalt genug gewonnen, um den Glauben an ein Ideal in ihnen zu ertöten.

Während in der erstickenden Atmosphäre des Absolutismus und Plutokratismus die soziale Romantik auf den Höhen der Gesellschaft zur leeren Spielerei entartete, während in den Boudoirs vornehmer römischer Damen Platos Republik als vermeintliches Evangelium der freien Liebe dem lüsternen Sensationsbedürfnis und zur Beschönigung des Lasterlebens emanzipierter Weiber dienen mußte,115 hatte sich in den unteren Volksschichten des römischen Reiches längst eine Bewegung Bahn gebrochen, die von dem felsenfesten Vertrauen beherrscht war, daß es in der Tat einen Weg gebe, der die Menschen aus diesem Jammertal auf die lachenden Inseln der Seligen zurückführen könne! Hier erwachen die alten Träume von dem glücklichen Urstand des Menschen, von dem verlorenen und wieder zu gewinnenden Paradies zu neuem, eigenartigem Leben. Der Glaube an jene einst von Plato ersehnte »göttliche Fügung«, an die Möglichkeit einer sozialen und sittlichen Wiedergeburt durch einen gewaltigen reformatorischen Genius vom Geschlechte der »Götter und Göttersöhne«, er gewinnt hier leibhaftige Gestalt in den Herzen des Volkes. Und aus den Tiefen der Gesellschaft erwächst jene Gemeinschaft der Mühseligen und Beladenen, die in ihrer Weise wirklich bis zu einem gewissen Grade die durch eine Anschauungs- und Gefühlsweise, eine Meinung und Gesinnung, eine Absicht und ein Ziel ideell verbundene Masse darstellt, wie sie für Plato die Voraussetzung des sozialen Zukunftsstaates gewesen war. Auch war die Masse in ihrer Verneinung der kranken Gesellschaft, in der Ausgestaltung des kollektivistischen Ideals zum Teil nicht weniger radikal. Die von mächtigen religiösen und sozial-ethischen Triebkräften mit unwiderstehlicher Gewalt in die Richtung nach diesem Ideal hineingedrängte Bewegung der Geister führt in der Vorstellung vom »tausendjährigen Reich« auf einen Höhepunkt des Utopismus, der unmittelbar an den sozialen Menschheitsstaat Zenos erinnert. Jahrhunderte hindurch bleibt in dieser Bewegung die sehnsüchtige Hoffnung lebendig auf einen gewaltigen, die Übel der Zeit an der Wurzel fassenden Eingriff, auf eine mächtige Katastrophe, welche das Reich der wahren Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit endlich doch noch zur Tat und Wahrheit machen werde![463]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
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