Pflicht, sich in die Zeit schicken.

[87] Gar viele wissen nichts von der Regel, die uns gegeben wird: schicket euch in die Zeit. Sie wollen alles gleich gut, recht, schön und billig haben und bedenken nicht, daß sie dadurch nur Uebel ärger machen. Ich wollte dir wohl diese Historie zu hören geben: Ein Mann ward sehr unwillig, daß er so viel Fliegen und Mücken in seiner Kammer hatte. Er fuhr zu und sprang auf, nahm einen Stecken und schlug darauf los. Aber er zerschlug Töpfe, Schüsseln und alles, was er in der Kammer hatte. Und das widerfährt uns oft, daß wir die Sache ganz verderben, wenn wir die rechte Zeit und Muße nicht erwarten können. – Schicket euch in die Zeit, das ist so viel gesagt: lenket euch nach der Zeit und brauchet sie recht, daß ihr ein jegliches thut zu seiner Zeit. Das ist eine edle feine Lehre auch wider die Werkheiligen, die sich an die Zeit also binden, daß sich die Zeit muß[87] nach ihnen richten, und in ihr Wesen sich schicken. Sie haben ihre benannten Stunden, zum Beten, zum Essen und Trinken, so und so zu thun und zu leben. Wenn du nun kämest in deiner größten Noth zu einem solchen, daß er dir helfen sollte, siehe so müßtest du verderben, ehe er seine Dinge ließe fahren und hülfe dir! Dieser schicket sich nicht in die Zeit, das ist, er thut nicht, wie es ihm die Zeit vorbringet, wie er doch thun sollte, sondern läßt da die Zeit vorüber gehen, darinnen er ein Werk der Liebe hätte thun mögen, und muß also die Zeit sich nach ihm lenken, und oft vorüber gehen, da sie doch etwas gut anfangen könnten. Dazu schicken sie sich auch nicht in die Zeit in ihren eigenen Sachen, denn sie weinen, wenn sie lachen sollten und wiederum sind fröhlich, wenn sie betrübt sein sollten, loben, wo sie schelten sollten und so fortan, alles ihr Ding ist unzeitig, und es geschiehet dann, daß sie die rechte Zeit versäumen und nicht gebrauchen.

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[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 87-88.
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