Argwohn.

[221] Die Liebe denket nichts arges, stehet I Cor. 13, 7. geschrieben, das ist, sie versiehet sich zu einem jeglichen das Beste, und ist nicht argwöhnisch auf jemand, denket, wie sie thut und meinet, so thue und meine es ein anderer auch. Sie aber, wenn sie gleich etwas scheinlich Uebel[221] thut, meinet sie es doch gut, darum leget sie auch anderer Thun zum besten aus, wie böse es auch scheint. Dagegen siehe, was die Menschen jetzt thun. Weil sie viel von sich selbst halten, dünket sie, kein Mensch thue und meine es so gut wie sie, und sind die argwöhnischsten und mistrauischsten Leute auf Erden, voll unnützer Soge und Peinlichkeit, es thue niemand recht, wenden alle Dinge zum ärgsten, und, ob das Werk des andern gut sei, denken sie doch, die Meinung sei arg. Da forschen sie denn und grübeln die Meinung zu erfahren, haben nicht Ruhe, bis daß sie etwas böses von dem Nächsten hören. O welche feine Leute gehen in diesem Laster, und es läßt sich zuweilen ansehen, als sei es Vorsichtigkeit, daß sie nicht betrogen werden. Aber Vorsichtigkeit siehet auf die zufällige Gefahr, und thut so viel, daß sie gewiß sei und nicht betrogen werde. Sie spricht frei: ich glaube, du meinest es nicht böse, aber wir sind alle Menschen, es möchte sich mit dir wandeln und fehlen, als wohl auch mit mir etc. Aber der Argwohn siehet nur auf das gegenwärtige Werk, und nicht auf die zufällige Gefahr:[222] er meinet, es sei schon verderbet und verloren alles, da doch die Vorsichtigkeit gutes zutrauet und nur die Mittel braucht, daß es nicht böse werde und die Gefahr abzuwehren sucht.

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[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 221-223.
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