Gerechtigkeit und Billigkeit.

[209] Gerechtigkeit ist, wo ich gegen andere so thue und handle, was sie von mir nach dem Gesetze fordern mögen. Wo du also allen das giebst und leistest, was du schuldig bist, so bist du ein gerechter Mann. Denn siehe, was wollte daraus werden, wo keine Gerechtigkeit herrschte. Unordnung, Zank, Streit und Hader träfe man an allen Orten. Aber siehe zur Gerechtigkeit gehört auch Billigkeit, daß du nicht allemal zu strenge auf deinem Rechte beharrest, sondern einen Unterschied machest, der Personen und der Zeit. Nimm ein Exempel: Dein Knecht ist schuldig, deine Arbeiten zu thun. Aber nun wird er krank und schwach, so mußt du ihm schon nachsehen aus christlicher Billigkeit, wiewohl du dem Rechte nach fordern[209] kannst, daß er vor wie nach arbeite. Aber du müßtest keine Christenseele haben, wenn du so sein wolltest. Oder: es ist dir einer hundert Gülden schuldig, die er dir heute bezahlen muß. Aber er kann erst in Jahresfrist, weil er unversehens an etwas Schaden gelitten hat. Wirst du ihn nun wohl von Hof und Gut jagen lassen? Oder umgekehrt: du solltest einem eine Gülden in vier Monaten erst geben. Er käme aber und bäte dich: »Lieber, gieb mir es heute, so du kannst, denn ich bedarfs!« Was meinest du, wirst du unbillig sein und dich weigern? Derohalben soll man sich immer nach der Zeit und der Noth richten, und gern von seinem Rechte abstehen, so es die Noth hat, denn so will es die christliche Bruderliebe. Aber dagegen trift man wohl Leute, die nicht eines Finger Breite von ihrem Fug und Recht abgehen, und darauf trotzen und pochen und sprechen: »Ei mir gehörts!« Solche sind härter, als Stein.

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[Verfasser von Luthers Leben]: D. Martin Luthers Sittenbuch. Leipzig 1794, S. 209-210.
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