13.


[369] Es gibt Bühnenerscheinungen, deren Siege um so bedeutender erscheinen, je hartnäckiger die Kämpfe sind, um die Hindernisse zu besiegen. War Seydelmann ein Phänomen dieser Gattung durch Raffinement, so war sein Widerspiel durch ungekünstelte Wahrheit Caroline Lindner, die im Frühjahre 1831 als Gast in Wien eintraf. Wer diese vortreffliche Künstlerin gekannt hat, muß ihr ein ganz besonderes Verdienst zuerkennen. Sie hat auf das Schlagendste bewiesen, daß das Wesen und der Reiz der wahren Schauspielkunst nicht auf äußerer Erscheinung und auf äußerlichen Zuthaten beruht. Die Natur hatte für Caroline Lindner gar nichts gethan. Eine unbedeutende[369] Figur, Gesichtszüge, denen alle Anmuth fehlte, ein unverkennbarer Anflug von einem Bärtchen waren Eigenschaften, die ihr nothwendig im Wege stehen mußten. Und welche Wirkungen hat die seltene Künstlerin erzielt. Diese Natürlichkeit, Einfachheit, diese klare Anordnung jeder künstlerischen Aufgabe, diese vollendete Durchführung siegten über jedes äußere Hinderniß. Mit der überwältigenden Macht ihrer Rede hob und verschönerte sich ihre ganze Erscheinung und gestaltete ihr Gastspiel zu einer Reihe der glänzendsten Erfolge. Wer hat nicht von ihrer Margarethe in den »Hagestolzen« den herrlichsten Eindruck gehabt? Wer muß ihr als Suschen im »Bräutigam aus Mexiko« nicht die Palme vor allen anderen Darstellerinnen zuerkennen?

Die folgende Anecdote spricht wohl mehr als alles Andere für Caroline Lindner.

Der wachsende Ruf ihres Talentes hatte ihr ein Gastspiel am Berliner Hoftheater erwirkt. Amalie Neumann (Haizinger) hatte in der Blüte ihrer Jugend soeben die Berliner bis zum Enthusiasmus entzückt und am Tage nach dem lärmenden Abschiedsfeste der angebeteten Neumann meldet sich Caroline Lindner bei dem Intendanten des k. Hoftheaters zum Antritt ihres Gastspieles.

Graf Brühl, offenbar noch befangen von dem blendenden Eindrucke der geschiedenen Bühnenschönheit, kann eine Betroffenheit kaum unterdrücken, als er die eintretende Dame mustert, die sich ihm als Caroline Lindner vorstellt.

Mit einiger Verlegenheit fragt Brühl, in welcher Rolle[370] sie zu debutiren wünsche und Caroline Lindner nennt die Margarethe in den »Hagestolzen«.

Brühl, immer verlegener, hält es für eine rücksichtsvolle Pflicht gegen den neuen Gast, ihr abzurathen, und weil er zu delicat ist, um den Unterschied in der Persönlichkeit beider Rivalinen zu berühren, wendet er ein, daß Madame Neumann gerade in dieser Rolle vor wenigen Tagen einen eclatanten Triumph gefeiert habe und daß Fräulein Lindner vielleicht besser thun dürfte, eine minder herausfordernde Rolle zum ersten Auftritt zu wählen.

»Sagen Sie's nur gerade heraus, Herr Graf,« versetzte Caroline Lindner mit einem Anfluge von Frankfurter Dialect, »ich bin Ihnen zu häßlich auf die Neumann.«

»Das will ich damit nicht gesagt haben,« erwiederte Brühl mit einiger Reserve, »es kommt natürlich hauptsächlich auf die künstlerische Leistung an.«

»Sehen Sie, das glaubte ich auch.«

»Ich zweifle durchaus nicht an Ihrem Talente, welches Ihr Ruf verbürgt, aber ich glaubte Ihnen einen Dienst zu erweisen –«

»Lassen Sie mich die Margarethe in Gottesnamen spielen, am Ende trage ich ja nur meine eigene Haut zu Markte.«

Graf Brühl zuckt die Achseln und versetzt: »Nun, auf Ihre Gefahr, ich werde die ›Hagestolzen‹ ansetzen lassen.«

Gegen sein Kanzleipersonal spricht sich Brühl förmlich desperat über das tollkühne Unternehmen aus und am Tage der Vorstellung ging der Intendant mit unruhigen Schritten[371] auf und ab. Unmuth und Mitleid rangen in seiner Seele um die Herrschaft und mit dem Ausrufe: »Heute erleben wir etwas,« begab er sich in seine Loge.

Und man erlebte etwas.

Caroline Lindner betritt die Bühne und ein leises Murmeln des Publicums, das nichts Gutes zu versprechen schien, begrüßt den Gast. Da perlen die ersten Worte von ihren Lippen. Man stutzt, man ist erstaunt, befangen. Das Murmeln verwandelt sich bei ihrem ersten Abgang in ein Beifallszeichen und als Caroline Lindner mit dem bekannten Monologe den. Act schließt, erhebt sich ein stürmischer Ruf nach der Meisterin. Der nächste Act gestaltet jede ihrer Scenen zum Gegenstande von Ovationen und der reinste Triumph, den Schauspielkunst bereiten kann, krönt den Abschluß ihrer vollendeten Leistung. Caroline Lindner hatte die glänzendste Genugthuung erlebt, denn ihren Erfolg verdankte sie einzig und allein ihrer Kunst, die eben nur veredelte Natur war.

Heutzutage, wo jede Schauspielerin ihre Photographie einschicken muß, bekäme Caroline Lindner weder Gastspiel noch Engagement.

Etwas ist denn doch daran, wenn man von der guten alten Zeit redet.

Aus meinen Kinderjahren war mir immer ein Abend erinnerlich, wo der sächsische Hofschauspieler Christ in unserem Familienzirkel über Chiromantie gesprochen hatte. Zum Scherze hielten ihm Alle und natürlich auch ich die Hand hin und er legte uns mit höchst launiger Wichtigkeit nach den Linien des Handtellers unser Leben aus. Mir prophezeite er für mein[372] fünftes Decennium eine drohende Lebensgefahr und ein hohes Alter, wenn ich sie überstünde.

Ich habe bereits eine Probe meines Hanges zum Wunderbaren und Mystischen berichtet. Christ's Worte machten tiefen Eindruck, und da mein Vater mit 48 Jahren gestorben war, so beschäftigte mich Christ's geselliger Scherz sehr häufig und seltsam! Nachdem ich 1827 beinahe Schiffbruch gelitten hatte, traf mich ungefähr um die Zeit meines Geburtstages 1831 der Unfall, daß ich nach beendigter Vorstellung des Schauspieles: »Die Zauberfürstin,« um nach der Garderobe zu gehen, durch die Thür eines Prospectes in dem Augenblicke schreite, als die Decoration von dem Schnürboden-Personal aufgezogen wird. Ich wurde einen Schuh hoch mitgeschleppt und stürzte, am Schienbein verletzt, zu Boden, so schwer verletzt, daß ich sechs Wochen lang das Bein nicht brauchen konnte. Christ fiel mir wieder ein, und bis in mein hohes Alter hat mich Jahr für Jahr der 25. März als Todestag meines Vaters um so nachdenklicher gemacht, als fast alle meine späteren Unpäßlichkeiten in den Beginn des Frühjahres fielen.

Die nächstfolgenden Ereignisse waren nicht geeignet, diese Gedanken zu zerstreuen.

Während meines Ferialaufenthaltes in Baden bei Wien näherte sich den österreichischen Grenzen das Gespenst, welches im Gefolge der russischen Heerzüge nach den Schlachtfeldern Polens seine asiatischen Schlupfwinkel verlassen hatte, um eine veränderte und modernisirte Auflage der Pest über Europa zu verbreiten.[373]

In der Nacht vom 14. zum 15. Setember 1831 brach die Cholera mit jener großen Heftigkeit in Wien aus, welche jedes erste Auftreten einer unbekannten epidemischen Krankheit bezeichnet. Einerseits Schrecken, andererseits Unachtsamkeit und alberner Trotz, ärztliche Rathlosigkeit und Mangelhaftigkeit der ersten Sicherheitsanstalten schärfen bei solchen Anlässen die Sichel des unerbittlichen Todesengels. Hat sich dann die Krankheit eingebürgert und acclimatisirt, so kehrt mit der Besinnung auch die Sicherheit zurück und man lernt den Lindwurm mit den einfachsten Vorsichtsmaßregeln bekämpfen.

Die Erwartung des schwarzen Ungeheuers versetzte namentlich die unteren Schichten der Bevölkerung in die unglaublichste Aufregung, denn allgemein war die Ansicht verbreitet, daß das Uebel hauptsächlich in jenen Kreisen wüthe, wo sich die Armuth in engen und unsaubern Räumen zusammendrängt, und von grober und unverdaulicher Kost leben muß. Der Lebenstrieb machte diese geschreckten Volksclassen mit ihrem Schicksal hadern, und wie gewöhnlich machte sich der Unmuth im Hasse gegen die bevorzugten Stände Luft.

Aber siehe da, eine seltsame Fügung der Vorsehung beschwichtigte die hochgehenden Wogen. Nicht unter den Arbeitern und Bürgerclassen, sondern mitten in den aristocratischen Stadtvierteln in der nächsten Umgebung der kaiserlichen Hofburg erfaßte die Epidemie die ersten Opfer und raffte sie binnen wenigen Stunden dahin.

In allen Stadtbezirken hatten sich Sanitätscommissariate gebildet, deren Mitglieder die Mission hatten, die einzelnen Familien bei ihren Mahlzeiten zu visitiren und auf diätetische[374] Kost zu dringen. Aber wer will den Menschen in seinen Begierden zügeln? Hunger und Liebe erhalten ihn, wie sie ihn verderben. Beklagenswerth sind jene Armen, deren traurige Glücksumstände die Beobachtung von Vorsichtsmaßregeln nicht gestatten, was aber soll man von jenen, zum Theile den gebildeten Classen angehörigen Thoren sagen, welche in blöder Frechheit das Schicksal herausfordern? Viele, die sich gefeit glaubten, übten die albernsten Bravouren aus, nahmen in jener obstreichen Jahreszeit Unmassen von Birnen, Pflaumen u.s.w. zu sich, und tranken aus Renommage Milch und Bier dazu, bis sie auf der Bahre lagen. Eines dieser Opfer war der bekannte Kieselak, jener Tourist, der einen Hauptzweck seiner Reisen darin suchte, seinen Namen an allen sehenswürdigen Puncten anzumalen, und zu diesem Behufe immer einen Tiegel voll Farbe und die entsprechenden Pinsel mit sich führte. In den österreichischen Gebirgs- und Alpenländern gab es damals kaum eine nennenswerthe Stelle, wo seine Eitelkeit sich nicht verewigt hatte. Er ließ sich mehr als einmal auf Strickleitern an senkrechten Felswänden herab und kleckste seinen Namen hin, damit ihn jeder Passant vom Thale aus lesen und verwundert fragen sollte, wie der kühne Bergsteiger das möglich gemacht habe.

In den Theatern sah es in den ersten Tagen des Schreckens seltsam aus. Auf Befehl des Kaisers Franz mußte gespielt werden, und ich erinnere mich noch einer Vorstellung des »Essex«, wo wir vor zwanzig Personen agirten. Und gerade in dieser verhängnißvollen Zeit sollte einer unserer jungen vaterländischen Dichter seinen ersten bedeutenden Erfolg[375] erringen, der seinen Namen durch Deutschland trug. Bauernfeld's »Liebesprotokoll« ging nämlich gerade in jenen Tagen der Verwirrung in Scene.

Die zahlreichen Pensionirungen, welche im Frühjahre 1831 erfolgt waren, brachten mir einen nicht unbedeutenden Zuwachs meines Repertoires. Ein Theil von Koch's Rollen ging an mich über und ich trat diese Erbschaft mit dem Abbé de l'Epée und Nathan an.

Für den Abbé schwebte mir Iffland lebhaft vor, und ebenso wenig verschmähte ich, einzelne meisterhafte Züge aus Koch's Darstellung zu benützen, in soweit sie zu meinen eigenen Anschauungen stimmten. Was ich als wahrhaft gelungen an ausgezeichneten Darstellern erkannte, machte ich überhaupt von jeher zu meinem Eigenthume, denn ich beobachtete lernend selbst jüngere Schauspieler und schämte mich nie zu lernen.

Mit der Rolle des Abbé verfügte ich mich sogleich zu dem mir unvergeßlichen Professor Czech, Director des Wiener Taubstummeninstituts, und war nicht wenig erstaunt, mit welcher Einsicht dieser erfahrene Mann darüber zu sprechen wußte, was von dem Taubstummen-Apparate für eine Darstellung erforderlich und was zu beseitigen sei, um die Scene nicht unnöthig zu unterbrechen. Er reducirte die Anleitung über die anzuwendende Zeichensprache auf das strengste Bedürfniß, und wußte genau, wo Koch zu weit gegangen war, denn Czech versäumte nie, die Darstellung des »Taubstummen« mit einem Theile seiner Zöglinge zu besuchen.

Der Erfolg bewies mir, daß ich die rechte Quelle aufgesucht hatte. Von Nathan habe ich nur wenige Worte zu sagen.[376]

Nathan's Wesen wurzelt in den patriarchalischen Sitten seines Volkes. Ein reines, edles Herz, das für alle Menschen gleich warm schlägt, adelt seine Erscheinung; ein durch Länder- und Menschenkunde, sowie durch Reiseerfahrungen geläuterter Verstand erhebt ihn hoch über seine barbarische Zeit, und erwirbt ihm den Ruf des Weisen. Der Denker und Philosoph tritt bei ihm völlig absichtslos, als Resultat dieses Verstandes zur Erscheinung und wirkt dadurch doppelt mächtig auf Alles, was ihn umgibt. Sein höchster Selbstzweck ist Mensch zu sein. »Sind denn Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch?« Nicht falsche Unterwürfigkeit, Nachgiebigkeit gegen fremde Schwäche bezeichnet sein Benehmen bei der ersten Begegnung mit dem Tempelherrn. Seine Dankbarkeit weiß zu ertragen, seine Klugheit erkennt, daß »nur die Schale bitter sein kann.« Er vindicirt jedem Menschen das freie Recht des Glaubens, und nur in dem Augenblicke, wo er einen Angriff auf die Religion seiner Väter besorgt, wird er Jude. Diesen Grundgedanken verläugnet er auch nicht in der bedenklichen Lage gegenüber dem Sultan: »So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht, und ganz und gar nicht Jude geht noch minder, denn wenn kein Jude, dürft' er mich nur fragen, warum kein Muselmann? Das war's, das kann mich reiten!«

Durch einen geist- und sinnreichen Einfall sucht er die Sache der Menschheit und seines Volkes zu vertheidigen. Es gelingt ihm; er erkennt den Eindruck, den er hervorbringt und, ergriffen von der Seelengröße seines Gegners, sucht er ihm die Beschämung zu ersparen, mit dem Juden zu handeln. Nach[377] dem moralischen Siege, den er errungen hat, dünkt es ihm eine Kleinigkeit, dem Herrscher sein Hab' und Gut zu Füßen zu legen. Er weiß, wie gut dieses Opfer sich für die Allgemeinheit verwerthen wird. Der Kaufmann ist bei Nathan eine ganz zufällige Eigenschaft, die niemals in den Vordergrund tritt, und ich habe nur bedenklich den Kopf geschüttelt, wenn ich Schauspieler gesehen habe, die den Nathan als einen pfiffigen Handelsjuden oder als Messias auffaßten.

Die wunderbare Charakteristik, die Lessing allen seinen dramatischen Gestalten verliehen hat, tritt bei den handelnden Personen im »Nathan« so prägnant hervor, daß der begabte Darsteller gar nicht fehlgreifen kann, wenn er der Wahrheit nachgeht und unerschütterlich an ihr festhält und alle Schauspieler, die den Nathan auf raffinirtes Klügeln basiren, müssen vor dem Kenner mehr oder weniger scheitern.


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 369-378.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon