2.


[242] Der hochbetagte Hofschauspieler Josef Lange trat nach fast 51 jähriger Dienstleistung beim Hofburgtheater in definitiven Ruhestand, um den Rest seiner Tage auf seinem Landsitze am Gmundner See zu beschließen. Das Fest im Augarten, welches ihm bei seinem Austritte von der Gesellschaft gegeben wurde, war das erste Theaterereigniß, welches ich in Wien erlebte.

Sein Rollenrepertoire wurde vertheilt. Unter den Partien, welche mir zufielen, war König Kreon eine der ersten neuen Rollen in meinem jetzigen Engagement. Die Reprise der Grillparzer'schen »Medea« fand noch vor dem Schlusse der Theatersaison statt.

Schreyvogl sprach sich über diese Leistung besonders anerkennend aus und bezeichnete sie als einen glücklichen Vorläufer für meinen einstigen Uebergang in ein älteres Fach.

Mit dem Spätherbst 1821 trat Heurteur wiederholt und bleibend in den Verband des Hofburgtheaters. Heurteur genoß als Darsteller jugendlicher Helden im Theater an der Wien einen bedeutenden Ruf, wobei ihn der glückliche Umstand begünstigt hatte, daß er der erste Darsteller Hugo Oerindurs, Jaromirs u.s.w. gewesen war.

Heurteur war von der Natur verschwenderisch aus gestattet.[242] Ein Organ von ungewöhnlicher Klangfülle und Gewalt, eine hohe, schlanke Gestalt, ein Kopf von angenehmer Form unterstützten seine Erscheinung und ein instinctives Talent ließ ihn häufig das Richtige treffen und große Wirkungen erzielen.

Aber Heurteur gehörte zu jenen Schauspielern, welche sich aus Mangel eines höheren Kunstzweckes in das Planlose verirren und sich frühzeitig vernachlässigen. Er machte es sich aus Bequemlichkeit mit dem Memoriren sehr leicht, ohne vielleicht zu wissen, daß für den Schauspieler nichts verderblicher ist. Wer aus Mangel an Fleiß anfangs nicht memoriren will, kann es in kurzer Zeit beiallem Fleiße wirklich nicht mehr.

Ich habe diesem Factor der Bühnendarstellung von jeher die größte Gewissenhaftigkeit gewidmet, und als es mir in den letzten Jahren an genügender Beschäftigung zu fehlen anfing, so übte ich mein Gedächtniß zu Hause durch Memoriren von Gedichten.

Heurteur's Eintritt war Veranlassung, daß Müllner's »Schuld« wieder in Scene gehen sollte, um ihm Gelegenheitzu geben, eineseinergerühmtesten Rollen, Hugo Oerindur, vorzuführen.

Die Rolle des Don Valeros befand sich in den Händen Krüger's, des Meisters im Fache der feinkomischen Rollen, des Souveräns im Reiche der Laune, des sprudelnden Humors.

Krüger war ein so bedeutender Schauspieler, daß es keineswegs eine Ungereinnheit war, ihm gewichtigere Rollen im höheren Drama zu übertragen. Waltete doch ein ähnliches Verhältniß bei Costenoble, dem trefflichen Darsteller polternder Alten, der gleichwohl als Musikus Miller, als Michel Angelo und als Shrewsbury durchaus nicht störend war.[243]

Es fehlte nämlich seit dem Abgange Lange's, seit dem Altern Ziegler's und Klingmann's ganz und gar an einem Repräsentanten der tragischen Heldenväter.

Nun liegen allerdings in Don Valeros Elemente von so ausgesprochen tragischer Natur, daß selbst Krüger's bedeutendes, jedoch in ganz anderer Sphäre wirksames Talent die Rolle eben nur anständig darstellte.

Als daher Krüger in diesem Augenblicke durch Unpäßlichkeit vom Dienste ferngehalten war, ersuchte mich Schreyvogl, die Rolle des Valeros aushilfsweise zu übernehmen und berief sich auf meine Darstellung des König Kreon. Ich wollte der gestellten Bitte aus Rücksicht für Schreyvogl kein Refus geben und übernahm die Rolle.

Der Erfolg überstieg alle Erwartung, die wir Beide hegen konnten. Der Beifall, welcher der Erzählung im zweiten Acte folgte, steigerte sich im nächsten Acte bei dem Fluche über Hugo zu einer demonstrativen Anerkennung, die sich in der Scene mit Hugo im vierten Acte wiederholte.

Schreyvogl, der an jeder glücklichen Leistung des Personals den aufrichtigsten Antheil nahm, war wie verklärt und gab mir den Rath, diese Elasticität meines Talentes weiter auszubeuten.

Valeros sammt Schreyvogl's Aeußerung war längst aus meinem Gedächtnisse, als dieser am Christtage in meine Stube trat und mir eröffnete, daß es ein Wunsch der Direction sei, ich möge die Rolle des Valeros dauernd übernehmen.

»Das Vertrauen der Direction,« erwiederte ich, »ist mir sehr schmeichelhaft und ich glaube auch, daß mir Krüger[244] diese Eroberung von Herzen gern überläßt, aber ich möchte doch das Heldenfach vorderhand noch nicht mit dem Vätersache vertauschen.«

»Davon ist auch nicht die Rede. Wir sind ja froh, daß wir endlich einen Darsteller für das Heldenfach haben. Uebrigens glaube ich, daß Ihnen selbst die gesetzten Helden mehr Vergnügen bereiten und daß Sie Macbeth, Othello vor Mortimer und Romeo den Vorzug geben. Letztere sind Aufgaben, die am Ende auch jüngere Schauspieler zur Zufriedenheit durchführen. Auch neigt Ihre ganze Erscheinung mehr nach dem Gewaltigen, Titanenartigen und in dem älteren Fache gäbe es Kränze für Sie, von denen Sie selbst vielleicht noch keine Ahnung haben.«

»Herr von Schreyvogl, ich halte das Alles für eine Einleitung und wenn mich nicht Alles trügt, so haben Sie noch etwas im Hinterhalte.«

»Sie haben es errathen.«

Hierbei zog er ein Papierheft von ziemlichem Umfange aus der Brusttasche, in welchem jeder Schauspieler eine größere Rolle erkennen mußte.

»Eine neue Rolle?«

Ich sah das Titelblatt an: »König Lear. Rolle des Lear, König von Britannien.«

Ich legte das Buch etwas betroffen auf den Tisch.

Schreyvogl sah mich mit seinem scharfmarkirten, geistvollen Gesichte beobachtend und lächelnd an.

»Ich soll den Lear spielen?«

»Warum nicht?«[245]

»Herr von Schreyvogl, ich bin 36 Jahre alt, bin bis auf wenige Ausnahmen seither nur mit Schwert und Myrthe umgegangen und daher auf diesem Felde ein Neuling.«

»Sie haben sich ja die Sporen schon verdient.«

»Sehr gütig, aber das ist ein salto mortale von der untersten Leitersprosse zur höchsten. Lear ist die Rolle, womit ein Schauspieler den Giebel auf sein Gebäude setzt. So haben es Schröder, Brockmann, Fleck, Iffland und Eßlair gehalten.«

»Ludwig Devrient, Ihr vertrautester Freund, hat den Lear mit 25 Jahren gespielt.«

»Aber ich bin nicht Devrient.«

»So werden Sie es! Wer Kraft und Muth hat, springt in das Wasser und schwimmt. Die Schwäche hat die Regel für sich, aber die Kraft den Erfolg. Weigern Sie sich nicht länger.«

»Und wenn ich auch das mißliche Wagestück unternehmen wollte, das Burgtheater zählt ja bewährte Schauspieler in seinen Reihen, die gegen den Ankömmling begründete Ansprüche voraus haben.«

»Diese Beurtheilung überlassen Sie getrost der Direction, welche nicht nur das Recht, sondern vielmehr die Aufgabe hat, für bedeutende Kunstwerke die geeignetsten Darstellungskräfte auszuwählen. Uns erscheinen Sie als der tauglichste Repräsentant des Lear.«

»Die Rolle liegt so ganz außerhalb meiner Jahre und meines ganzen Wesens.«

»Gerade darauf rechne ich. Bei König Lear müssen Sie Ihre Individualität vollständig aufgeben und so zu sagen in den heidnischen Greis hineinspringen.«[246] »Ich werde mir unter meinen Collegen Feinde machen.«

»Brodneid? Lächerlich! Nun sind wir wohl mit den Bedenken am Ende. Ich lasse die Rolle da.«

»Ich habe noch zu ringen, um mich in der guten Meinung des Publicums festzusetzen. Wenn ich dieses Va banque- Spiel verliere, so bin ich vielleicht für immer um den Credit.«

»Sollten Sie das wirklich befürchten?«

»Jedenfalls bitte ich um Bedenkzeit.«

»So lange Sie wollen. Wenn ich Ihnen aber rathen soll, so beschleunigen Sie Ihre Studien. Der wahre Schauspieler liest und findet.«

»Sie wissen, ich bin kein Grübler, aber ich muß meinen Gegenstand vollständig erschöpft haben, ehe ich an die Ausarbeitung gehen kann.«

»Sie sollen gar nicht gebunden sein. Wenn Sie fertig sind, so setzen Sie mich in Kenntniß.«

Er ging fort und ließ mir das bedenkliche Christgeschenk auf dem Halse.

Gleich darauf tritt Hormayr ein. »Ist er schon da?« – »Wer?« – »Der wahnsinnige König!« – »Leider! Stecken Sie auch dahinter?« – »Ein wenig, ich habe geschürt.« – »Ich weiß nicht, ob ich danken soll?« – »Hinterdrein. Jeder Schauspieler braucht einen Eclat, um für Voll zu gelten, dazu muß Lear verhelfen. Ich kenne kein Schauspielernaturell, das so für die Rolle paßt, wie das Ihrige.« Er ging.

Ich nahm meine Riesenaufgabe sogleich in die Hand. Zuerst verschaffte ich mir die Uebersetzung des älteren Voß, um[247] aus dieser sclavischen Verdeutschung den nackten Gedanken Shakespeare's wo möglich in seiner ganzen Ursprünglichkeit zu erkennen. Auch andere ältere Uebersetzungen las ich nach, vermied aber vorsätzlich Schröder's Bearbeitung.

Als ich hierauf die Uebersetzung des jüngeren Voß, nach welcher das Trauerspiel zur Darstellung gelangen sollte, zur Hand nahm und durchgelesen hatte, lag auch das Bild in seinen äußeren Umrissen klar und deutlich vor mir.

Als ich mit meinen Vorstudien so weit war, daß ich Rechenschaft darüber ablegen konnte, beschloß ich mich meiner Sache zu vergewissern.

Schall war mir so oft ein wohlmeinender Freund und Rathgeber gewesen, und um seine gewiegte Meinung zu vernehmen, wollte ich mit ihm über meine Anschauungen in Correspondenz treten. Nachstehendes Bruchstück meines ersten Briefes habe ich aufbewahrt:

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Ich habe den Lear noch nie auf der Bühne darstellen sehen; keiner der berühmten Meister also, die als Zierden der deutschen Bühne in dieser Rolle glänzten, kann mir gegenwärtig bei dem Studium derselben als Muster oder Führer dienen, ich muß Alles aus dem Riesenwerke des ewig großen Dichters und aus mir selbst schöpfen; denn selbst das, was hie und da sowohl von Schlegel als andern bewährten Commentatoren des Shakespeare über dieses Trauerspiel geschrieben worden ist, dient weniger dazu, den Schauspieler in die einzelnen Theile der Darstellung dieses schwierigen Charakters zu begleiten und denselben gehörig zu zergliedern, als vielmehr[248] den künstlichen Bau des ganzen Kunstwerkes, die meisterhafte Fügung der einzelnen Theile zu einem vollendeten Ganzen recht anschaulich zu machen. – Aus dem Wenigen, was ich über Iffland's Lear theils gelesen, theils gehört habe, so unvollständig es auch ist, scheint mir hervorzugehen, daß er diesen Charakter schwerlich so wiedergab, wie Shakespeare sich ihn gedacht hat, obschon ich weit entfernt bin, den großen Meister tadeln zu wollen, daß er die Rolle in einem andern Geiste nahm; im Gegentheil finde ich ein großes Verdienst und eine gewaltige Kunstfertigkeit darin, daß er sie seiner Individualität und seinen physischen Kräften so anzupassen und da sie ihm, durchgehends nach dem Sinne des Dichters gespielt, nicht zusagte, zu einer eigenen neuen Schöpfung mit künstlerischer Freiheit umzubilden und dadurch das Publicum in Staunen, Bewunderung und Entzücken zu versetzen wußte. – Wenn ich recht berichtet wurde, so hat Iffland gleich bei seinem ersten Erscheinendurch wankenden Schritt, vorgebeugten, auf's Schwert gestützten Körper und abgebrochene Diction eine gänzliche Erschöpfung blicken lassen. Beim Fortschreiten der Handlung hat sich der steigende Affect durch einzelne gewaltsam ausgestoßene Laute, durch Stöhnen und erschütterndes Aufschreien geäußert und das öftere Zurückdrücken des hoch aufklopfenden Herzens, wie das völlige Zusammensinken unter dem ersten gräßlichen Fluche, haben die letzte fürchterliche Anstrengung des Greises bewiesen. Auch hat er schon im ersten Acte durch starres Hinbrüten und Abbrechen der Worte eine Spur oder doch eine Anlage zum Wahnsinn verrathen. Es dringt sich uns freilich schon beim ersten Erscheinen des Lear unwillkürlich die Ueberzeugung[249] auf, daß dieser heftige, der ersten Aufwallung seiner Leidenschaften sich blind hingebende Greis den Ereignissen, die ihm bevorstehen, nur eine zerrüttete, aber auch im tiefsten Elende noch unbeugsame Seele entgegensetzen kann, eben diese unbeugsame Seele bedarf daher auch der heftigsten und gewaltsamsten Erschütterung, um in eine solche Zerrüttung zu gerathen.

Hätte Iffland diese Rolle dem Originale treu gegeben und nicht nach der unglücklichen Bearbeitung, die mit den Eingangsscenen so unbarmherzig verfährt, ich glaube, er würde den Charakter ganz anders angelegt haben, denn auf dem ersten Auftritte, in welchem Lear sich seines königlichen Ansehens begibt und das Reich unter seine Töchter vertheilt, ruht das ganze Stück. Das Hauptinteresse der Handlung ist dadurch eben so bestimmt festgesetzt, als die Charaktere darin mit unverlöschlichen Zügen bezeichnet sind. – Ich denke mir den Lear als einen munteren, rüstigen und jovialen Greis, der seine letzten Jahre noch sorglos und heiter verleben will und deshalb alle Regierungslasten von sich entfernt und auf kräftigere Schultern überträgt; nur hundert Ritter, die ihn als muntere Gesellschafter auf seinen Fahrten umgeben sollen, wählt er sich aus. So lebenslustig zeigt er sich noch bei der Rückkehr von der Jagd, wo eine gutbesetzte Tafel und der Narr, der ihn mit seinen Scherzen belustigen muß, sein erstes Verlangen sind. Man empfiehlt sich ihm durch rasche und witzige Antworten, welches Kent sehr wohl weiß; er stellt sich ihm auf diese Weise vor und wird deshalb gleich im Gefolge mit aufgenommen. So wie er sich gleich beim ersten Auftreten als einen[250] stolzen Mann zeigt, der keinen Widerspruch zu ertragen gewohnt ist, so bringt ihn auch nachher das absichtlich nachlässige Betragen und die Versagung des schuldigen Gehorsams von Seiten des Haushofmeisters schnell in heftigen Zorn, aber die Verworfenheit seiner Töchter ahnet er noch nicht, oder vielmehr sein leichter Sinn achtet die Warnungen seines Narren nicht; deshalb ergreift ihn zuerst Erstaunen, als er sich durch das Betragen der Goneril überführt sieht; er traut seinen Sinnen nicht, er weiß nicht, ob er schläft oder wacht. Und als ihm endlich kein Zweifel mehr übrig bleibt, als Beschämung vor seinen Dienern und gekränkter Herrscherstolz in seinem Innern wühlen, erreicht sein Zorn schnell den höchsten Gipfel, und ob er sich gleich schmerzlich im innersten Herzen verwundet fühlt, obgleich manchmal gewaltsam seine Thränen sich hervordrängen, so hält er sie doch für schimpflich, weiß sich viel mit seiner Mannheit und in voller Kraft donnert er den Fluch gegen Goneril los und stürmt ab. Langsamer überführt er sich, daß die Gesinnungen seiner Tochter Regan eben so schwarz sind als ihre Worte, und obgleich er es seltsam findet, daß sie und Cornwall so schnell vom Hause wegreisen, ohne seinen Boten heimzuschicken und ihm Unheimliches zu ahnen anfängt, obgleich die schimpfliche Behandlung seines Dieners und die Verweigerung des Gehörs, das er sich zuletzt von ihnen erzwingt, seinen Argwohn zur Gewißheit machen, so sucht er sich doch auf alle Weise zu überreden, daß er sich irrt, weil er die letzte einzige Hoffnung, die ihm noch übrig bleibt, nicht will in den Grund sinken sehen. Als ihm aber sein ganzes Unglück klar wird, das empfindlichste, das dem[251] Menschen auf der höchsten Stufe des Alters begegnen kann: die Erfahrung des herzlosesten Undanks von Seite derer, die ihm zur höchsten Liebe und Dankbarkeit verpflichtet sind und denen er Alles aufgeopfert hat, verbunden mit dem zu spät erwachenden Bewußtsein eigener Thorheit und Ungerechtigkeit gegen bessere Wesen, als er sich vergebens bald der Regan, bald der Goneril in die Arme wirft und überall mit kaltem, unbarmherzigem Hohn zurückgewiesen wird, fleht er den Himmel an, ihm andere Waffen als Thränen, die sich abermals gewaltsam hervordrängen, zu verleihen, der Wunsch nach Rache beseelt ihn und schimpflich seine Ohnmacht fühlend, stürzt er verzweifelnd mit dem Ausruf: ›O Narr, ich werde rasend!‹ ab. Hier ist noch immer keine Spur von einer gänzlichen Erschöpfung seiner körperlichen Kräfte sichtbar, denn er gibt sein altes, nacktes Haupt den wilden Elementen preis, er verschmäht sogar das Dach, das ihn vor ihrer rauhen Wuth schützen soll, der Körper fühlt nicht zart, weil die Seele nicht frei ist; der Sturm in seiner Seele nimmt seinen äußern Sinnen jegliches Gefühl, das Ungemach der rauhen Sturmnacht ist ihm in gewisser Hinsicht sogar erwünscht, denn es läßt ihn nicht grübeln über Dinge, die ihm größern Schmerz verursachen würden. Die Fäden seines Geistes sind schwächer als die seines Körpers, denn jener wird zuerst überwältigt, während dieser noch allen Stürmen trotzt, und der Narr und Edgars verstellte Tollheit sind vortrefflich angelegte Maschinen, um seinen Wahnsinn in den Gang zu bringen. ›Noch aus der Nacht des Wahnsinns,‹ sagt Voß, ›blitzen dem König unaufhörlich zwei Gedanken hervor: Königsstolz und[252] Rache an den unnatürlichen Töchtern, denen er mit Gewalt das Reich wieder nehmen will.‹

Es ist wohl das erschütterndste Schauspiel, eine solche Kraft vor unsern Augen allmälig vernichten zu sehen.

So finden wir ihn nunmehr, von der Nacht des Wahnsinns umhüllt, im Gartenhause bei Glosters Schloß. Hier hält er Gericht über die schändlichen Töchter; aber mit dem ersten Momente äußerer Ruhe tritt auch zum ersten Male körperliche Erschöpfung ein. Er fühlt das thierische Bedürfniß der Ruhe, sobald die geistige Unruhe nachläßt.

Der aus den Fugen getretene Geist bricht alsbald in völlige Tollheit und in Tobsucht aus. Er entläuft seinen Wächtern und irrt in Feld und Wald herum. Er läßt in Gedanken münzen, um Mittel zum Kriege zu erhalten; er schleudert Wurfspieße, schlägt todt, wirbt Soldaten und fühlt sich jeden Zoll einen König.

So finden ihn die nach ihm ausgesandten Boten seiner Tochter Cordelia. In einer zweckmäßigen ärztlichen Behandlung beruhigt sich endlich der wilde Aufruhr seiner Seele. Der Schleier hebt sich für einen Augenblick von seinem Begriffsvermögen. Er erstaunt über seine Umgebung, seine Kleidung, er möchte überzeugt sein von seinem Zustande und er fühlt ihn zum ersten Male. Er erkennt seine verstoßene Tochter, Scham und Reue wirft ihn zu ihren Füßen. In ihren Armen fühlt er sich sicher, aber nun bricht auch der letzte Rest geistiger Kraft zusammen. Der müdegehetzte Greis verfällt in kindische Albernheit und auf die ihm fühlbar werdenden Liebesbeweise Cordeliens vermag er nur unter heißen Thränen zu[253] erwiedern: ›Du mußt Geduld mit meiner Schwäche haben; vergiß, vergib mir; ich bin alt und kindisch.‹ –

Der Geist ist verduftet, nur die Physis hält noch eine kurze Spanne aus in dem neuen Glücke von Cordeliens Besitze. Alles andere Verständniß für Außendinge hat aufgehört und als endlich das geliebte wiedergefundene Kind vor seinen Augen erwürgt wird, als er vergebens bemüht ist die Erschlagene in das Leben zurückzurufen, da reißt der schwache Faden, der ihn an die Erde bindet.

Noch mit der verzweifelten Hoffnung, daß Cordelia erwachen müsse, ruft er: ›Seht, seht hin, seht Ihr?‹ und haucht den letzten Seufzer aus ...«

Daß dieses Bild, welches die Höhen und Tiefen menschlicher Leidenschaften umfaßt, in der Darstellung alle geistige und physische Begabung eines Schauspielers in die Schranken fordert, konnte ich mir keinen Augenblick verbergen und immer wieder tauchte die Besorgniß auf: wird es dir gelingen, diese Welt voll tragischer Emotionen, diese gigantischen Gegensätze in Ton, Miene und Geberde vollständig künstlerisch auszudrücken?

Der Lauf der Begebenheiten machte meinen Betrachtungen plötzlich ein Ende. »Es muß sein!« rief ich mir zu und an Schreivogl's letzte Worte denkend, kam ich zu der Ueberzeugung: was du jetzt noch nicht gefunden hast, findest du nicht mehr, und verlierst höchstens durch Grübeln, was Phantasie und Urtheil in freier Thätigkeit erfaßt haben.

Der Brief an Schall lag noch unvollendet am Schreibtische, als mir Schreyvogl plötzlich anzeigte, daß die Regie[254] des Hoftheaters, in Kenntniß über die beabsichtigte Einstudirung des »König Lear«, die Bitte gestellt habe, die erste Aufführung als die damals übliche Jahresbeneficevorstellung der Regie geben zu dürfen.

Die Bitte wurde mit dem Beisatze gewährt: »Aber Herr Anschütz spielt den Lear.«

Was ich gegen Schreyvogl als Besorgniß ausgesprochen hatte, sollte zur Wahrheit werden. Kaum war es bekannt, daß die Rolle des Lear mir zugetheilt sei, so begegneten mir im Theater die langgezogenen Gesichter jener Collegen, welche bei ihren Jahren zwar nicht mehr im Stande waren, die gewaltige Anstrengung selbst zu übernehmen, aber ebensowenig ertragen konnten, daß ein Jüngerer dafür gewählt worden war. Jeder war fest überzeugt, daß ich die Rolle durch Intriguen an mich gerissen hätte und Einer konnte sich nicht enthalten, mir im Foyer die ironische Frage zu stellen: »Nun, Herr Anschütz, Sie werden ja, wie ich höre, den Lear spielen?«

»Ja; es ist der Wunsch der Direction.«

»Nun, viel Glück.« Hierzu eine entsprechende Grimasse.

»Diesen gutgemeinten Wunsch habe ich allerdings vonnöthen, lieber ***. Uebrigens habe ich das Meinige nach Kräften dafür gethan.«

»Wir wollen das Beste hoffen.« Wieder eine Grimasse.

So rückte endlich der bedeutungsvolle Abend des 28. März 1822 heran, der bestimmt war, mein strengstes Rigorosum in sich zu schließen, zu welchem sich die unerbittlichsten Richter nicht vor, sondern hinter der Courtine einstellten.[255]

Die ungewohnte Scene der Ländertheilung begleitete eine sichtbare Ungeduld und als die Scene mit Goneril begann, hätte man eine Stecknadel können fallen hören, so gespannt war man hüben und drüben. Aber schon bei den Worten: »O Lear, Lear, Lear, Lear! Schlag' an dies Thor, das deine Blindheit einließ, ausstieß gesundes Urtheil,« kam Leben und Bewegung in das Auditorium, das erste Beifallszeichen ertönte, und gestaltete sich nach dem Fluche über Goneril zu einem mich selbst überraschenden Sturme. Das Publicum rief mich bei offener Scene hervor und weil dies durch die kunstsinnigen Gesetze des Hofburgtheaters verboten ist, mußte man sich entschließen, die kurze Scene zwischen Goneril und Albanien wegzulassen und mich gleich die nächste Scene beginnen zu lassen, eine Auskunft, die bis zu meiner letzten Darstellung der Rolle beibehalten werden mußte.

Hiermit war das Schicksal meiner Leistung entschieden. Die Grundlage des Charakters sympathisirte mit den Empfindungen und dem Urtheile des Publicums, das Vertrauen war geweckt und mit diesem wuchs von Scene zu Scene, von Act zu Act die überschwänglich freudige Anerkennung. Die Scenen auf der Haide wurden von den Zuschauern mit einer Art stummen Entsetzens begleitet, das im vierten Acte in der Wahnsinnsscene mit Gloster und Edgar und bei der Zeltscene mit Cordelia wieder in brausende Acclamationen umschlug.

Die damalige Censur stellte das kindische Verlangen, daß der vielgeplagte Greis schließlich am Leben bleibe, wieder zu Verstande komme und der Vater über seine entarteten Kinder, der König über seine Feinde triumphire.[256]

Schreyvogl erkannte das Widersinnige dieser Forderung vollständig an; da er sich ihr fügen mußte, so speculirte er wenigstens auf die Gemüthlichkeit der Wiener. Er wußte, daß sein Publicum noch nicht ganz geeignet war, so furchtbar erschütternde Eindrücke in sich selbst auszugleichen, daß ein sentimentaler Zug aus der Iffland-Kotzebue'schen Repertoirezeit einen friedlicheren Ausgang vorziehen und daß das Stück durch diese Concession populärer werden würde.

Die ästhetische Sünde abgerechnet, kann man über die delicate Art und Weise, womit Schreyvogl die Forderung seiner Zeit befriedigte, nicht genug würdigen. Er rettete nicht nur das Leben Lears und Cordeliens, sondern fast alle dichterischen Schönheiten des letzten Actes und der Jubel des Publicums beim Erwachen Cordeliens war wirklich rührend.

Als das Publicum nach dem Schlusse des Trauerspieles hartnäckig meinen Namen rief, glaubte man den Enthusiasmus dadurch zu befriedigen, daß man dieselbe Vorstellung für den nächsten Abend annoncirte. Aber der Sturm ras'te aufs Neue, und endlich trat der Director, Herr Graf Moriz Dietrichstein, ganz bestürzt in meine Garderobe mit den Worten: »Was soll ich denn machen? Sie gehen nicht fort.«

»Warten, Excellenz,« antwortete ich, »wenn es zu lange dauert, werden sie schon nach Hause gehen.«

Als sich diese enthusiastische Anerkennung bei den folgenden Darstellungen erhielt, wurde ich dazu erlesen, jedesmal die Vorstellung für den nächsten Abend zu annonciren, wie es damals noch üblich war. Hierdurch wurde der Wunsch des Publicums befriedigt, ohne das Gesetz geradezu zu verletzen.[257]

Mir aber machte das einen verkehrten Eindruck und ich nahm diese Gelegenheit zum Anlasse, bei Schreyvogl den Vorschlag zu thun, ob es nicht zum Schutze des ästhetischen Gesetzes passender wäre, das mündliche Annonciren durch Zettelanschlag zu ersetzen, wie es bereits an anderen bedeutenden Bühnen Deutschlands eingeführt war.

Schreyvogl ergriff meinen Vorschlag mit Vergnügen. Weniger waren damit einige meiner Collegen einverstanden, die es gar zu gerne hatten, nach einer ihrer beliebten Rollen annonciren zu dürfen und beim Erscheinen noch einmal beklatscht zu werden.

Mit diesem ungewöhnlichen Erfolge in einer der bedeutendsten Kunstaufgaben der Bühnenwelt war nunmehr meine künstlerische Stellung in Wien begründet.

Ich machte die angenehme Erfahrung, daß meine Leistung und mein Name nicht nur in ganz Deutschland bekannt wurde, sondern daß man davon sogar in englischen Blättern Notiz nahm. Man legte mir den Ehrennamen des »Shakespeare-Spielers« bei und Schreyvogl sprach die Absicht aus, nach diesem glücklichen Versuche das Shakespeare-Repertoire allmälig zu vervollständigen.


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 242-258.
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