4.


[24] Sachsen besaß damals drei solcher Fürstenschulen, oder, wie sie jetzt heißen, Landesschulen. Schulpforta bei Naumburg, Grimma und Meißen. Sie gehörten zu den angesehensten Lehranstalten Chursachsens. Jede sächsische Stadt hatte das Recht, in der Fürstenschule ihres Bezirkes einen Stiftplatz zu verleihen. Durch den öffentlichen Charakter, den er bekleidete, war es meinem Vater gelungen, für mich einen Schulplatz zu erhalten, den die Stadt Grimma selbst zu vergeben hatte.

Als ich im Jahre 1835 Grimma wieder besuchte, berührte mich zwar der Einfluß des Zeitfortschrittes und der Verfeinerung sehr angenehm, denn ein stattliches Gebäude blickte mich an, dessen innere Einrichtungen von den damaligen[24] allerdings gewaltig abstachen, dafür aber hatte auch die Flucht der Jahre den größten Theil meiner Erinnerungen begraben.

In meiner Schulzeit war die Fürstenschule, an derselben Stelle wie die jetzige Landesschule, in einem uralten Augustinerkloster untergebracht, dessen ruinenähnliches Gebäude ein längliches Viereck bildete. Nur die Hälfte, nämlich eine Lang- und eine Breitseite waren bewohnbar, der übrige Theil lag wüst und öde, wenn auch unter Dach. Zwischen dem Kloster und der Mulde lagen Rasenplätze, welche den Zöglingen als Spielplätze dienten. Die ehemaligen Sprach- und Versammlungssäle bildeten die Auditorien, die Zellen der Mönche im ersten Stockwerke unsere Studirzimmer, die Zellen im zweiten Stockwerke unsere Schlafstellen.

Auch dieses Institut hatte nach damaliger Gewohnheit viel Ursprüngliches und Naives. Namentlich war, wenn auch absichtslos, für eine bedeutende Abhärtung des Körpers vollauf gesorgt. Unsere Schlafkammern unter dem Dache hatten nur einfache Fenster, denen man nicht eben hermetische Luftabsperrung vorwerfen konnte. Bei ungünstiger Witterung war uns daher die reichlichste Gelegenheit gegeben, mit Sturm, Regen und Schnee die unmittelbarste persönliche Bekanntschaft vom Bette aus zu machen. Wenn man im Winter erwachte, war nicht selten das Gesicht an das Kopfkissen angefroren, die Bettdecke glitzerte und glänzte und rauschte höchst wunderbar, wenn man sie zurückwarf. Um 51/2, Uhr Morgens gab der Wocheninspector (immer einer der sechs ältesten Primaner) auf der Brüstung der Tabulate mit dem Hammer das Zeichen zum Aufstehen. Hierauf mußte jeder Schüler aus dem Bette[25] springen und die Kammerthüre öffnen. Wer nach einer Viertelstunde die Thüre noch verschlossen hielt, verfiel in Strafe. Dann ging es in Unterkleidern zwei Treppen hinab nach dem Flur, wo das Wasserbecken eines alten Brunnens als Lavoir für Alle und ein daneben liegendes Beil dem Erstgekommenen dazu diente, das Eis aufzuhacken. Nach dieser einfachen Toilette ging es zum Gebete, dem an einigen Tagen eine Bibellection und dann das Frühstück (gewöhnlich Milchsuppe mit schwarzem Brote) folgte. Zeigte die Speise einen unverantwortlichen Makel, daß sie angebrannt, räucherig war, oder nach schlechtem Fette schmeckte, so wurden die Schüsseln gewöhnlich umgeleert, daß der weiße Inhalt über Tische und Bänke strömte.

Von 7 bis 111/2 Uhr waren Lehrstunden und um 12 Uhr ging es zum Mittagstische, wo, wie beim Frühstücke, an 5–7 Tischen gespeist wurde und wobei es weniger in patriarchalischer als in mittelalterlicher Weise herging. Große Schüsseln wurden aufgetragen. Wer am heißesten und schnellsten genießen konnte, hatte den Vortheil auf seiner Seite. Die Primaner hatten den Vortritt, dagegen mußten die Kleinsten, die Möpse (eine vom Schulwitze ersonnene Derivation von Ultimus, ultimos, ultimops, mops), sich mit dem Abfall, mit den sogenannten Mopsportionen, begnügen. Einen Vortheil bot übrigens diese Ungleichheit vor dem Gesetze: man lernte schnell essen und lernte Alles schätzen und genießen, um satt zu werden. Das Faustrecht war überhaupt in dieser Republik der Kleinen noch sehr stark vertreten. Klage oder Verrath wegen Gewaltthätigkeiten der oberen Classen war arg verpönt. Heilig[26] war zwar das Eigenthum, nur in Bezug auf Diebstahl von Tinte und Federn galten Sparta's milde Rechtsanschauungen.

Nach dem Mittagsmahle von 121/2 bis 2 Uhr war Freistunde. Wehe dem Unglücklichen, der ein Disciplinarvergehen verschuldet hatte, er mußte die Freistunde am Catheder stehend zubringen. Nachmittags von 2–7 Uhr waren wieder Lehrstunden. Um 8 Uhr wurde zu Abend gespeist, um 81/2 Uhr ging es zum Gebet und gegen 9 Uhr zu Bette. Noch im Bette mußte laut repetirt werden. Dann hieß es nochmals: »Betet!« und endlich: »Jetzt könnt Ihr einschlafen.«

Diese so ganz contrastirende Lebensweise hatte die Bilder und Träume der Vergangenheit bald verdrängt, wie es in diesen glücklichen Jahren hergebracht ist. Nach vier Wochen warich vollständig in mein neues Leben und Treiben eingewöhnt und bis zum Herbste war ich bereits Quartaner mit Bewußtsein, der mit Declinationen und Conjugationen ganz verwegen herumwarf.

Nachdem ich mich im folgenden Winter mit Cornelius Nepos herumgeschlagen hatte, stand ich nunmehr auf dem Puncte, mich so recht in das classische Römerthum zu versenken, als plötzlich die Hand des rauhen Schicksals den ersten Mißaccord in die Harmonie meines Jugendlebens tönen ließ.

Es war am Mariä-Verkündigungstage 1800. Alle Schüler hatten die Verpflichtung, nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten in dem musikalischen Theile des Gottesdienstes mitzuwirken und ich hatte soeben mein erstes Probestück auf dem Fagotte abgelegt. Sichtlich befriedigt und besonders heiter kam ich aus der Kirche, als mich der Rector rufen ließ. Er hielt einen Brief in der Hand, dessen Siegel er nach abwärts kehrte. Mit[27] einem auffallend feierlichen Tone sprach er von den Prüfungen, die der Schöpfer in seiner unergründlichen Weisheit dem Menschen auferlege, um ihn zu läutern, daß er in sich die Kraft finde, des Lebens dunkle Pfade selbstständig zu wandeln. Er schloß damit, daß ich vielleicht in die Lage kommen könnte, frühzeitig für meine Existenz sorgen zu müssen und ermahnte mich, mit Fassung hinzunehmen, was mich erwarte.

Dieser Eingang ließ mir keinen Zweifel übrig, daß sich in meiner Familie ein unglückliches Ereigniß zugetragen habe. Der Rector übergab mir den Brief, der nicht wie gewöhnlich die Schriftzüge meines Vaters, wohl aber ein schwarzes Siegel trug. Ich zog mich auf meine Zelle zurück und erfuhr nun aus dem verhängnißvollen Schreiben, daß mein Vater am Morgen desselben Tages einem Nervenschlage erlegen sei.

Die unerwartete Unglückspost betäubte mich dergestalt, daß ich keine Thräne vergießen konnte. Erst nach und nach fing mein unnennbares Weh an, sich in reichlichen Thränen aufzulösen und zu mildern. Schon in der nächsten Stunde war ich auf dem Wege nach meinem verödeten Vaterhause.

Welche Scene enthüllte sich mir hier. Mein Vater, ein Mann von 48 Jahren, also im kräftigsten Alter, von einem plötzlichen Tode hinweggerafft, lag als Leiche auf seinem Bette; meine hochbetagte Großmutter mütterlicher Seite, welche vierundzwanzig Stundenvormeinem Vater gestorben war und für welche derselbe den Todtenzettel noch eigenhändig geschrieben halte, lag aufgebahrt, meine Mutter lag schwer krank darnieder; meinen jüngsten Bruder Eduard fand ich blind an den natürlichen Blattern. Mein Vater todt! Meine Mutter folgt ihm vielleicht[28] bald, und wenn auch nicht! Der Erhalter der Familie ist nicht mehr! Die Witwe, auf eine kärgliche Pension angewiesen, muß dem neuen Amtsverwalter Platz machen! Was wird aus den Deinen? Was aus dir? Diese Betrachtungen lagerten mit lastendem Gewichte auf mir. Werde ich weiterstudieren können? Werde ich nicht genöthigt sein, einen Beruf zu ergreifen, der meine Mutter so schnell als möglich von der Sorge meiner weiteren Erziehung befreit?

Solche Vorstellungen konnten nicht verfehlen, den fünfzehnjährigen Knaben ungewöhnlich ernst und nachdenkend zu machen und die Ueberzeugung zu begründen, daß er Alles aus sich werden, Alles aus sich machen und mit dem strengsten Ernste seine einstige Laufbahn verfolgen müsse, welcher Richtung dieselbe auch angehören möge. Diese Ueberzeugung ist nicht mehr von mir gewichen und hat mich zu meinem großen Vortheile durch mein ganzes Leben begleitet. Ich übereilte mich selten in meinen Entschlüssen und eine allzuängstliche Vorsicht mag vielleicht bei manchem Unternehmen für Andere den Schein der Langsamkeit und Trägheit angenommen haben. Was ich aber einmal ergriff, das führte ich beharrlich durch und unter mehreren gleichzeitigen Verrichtungen suchte ich jederzeit die schwierigste zuerst zu erledigen.

Das Schicksal meiner Familie, welches bei meines Vaters Ableben ein schreckhaft trostloses schien, gestaltete sich übrigens wenn auch nicht zu der vorigen Behaglichkeit, doch unverhofft günstig. Der Nachfolger meines Vaters war ein Hagestolz; ihm war es daher ein lebhaftes Bedürfniß, die übergroße Wirthschaft des Georgenhauses in den kundigen und geübten[29] Händen meiner Mutter zu belassen, der überdies eine heranwachsende Tochter zur Seite stand. Meine Mutter verblieb durch die Gunst dieser Verhältnisse im unveränderten Besitze ihrer Häuslichkeit, und da mit Hilfe ihres Witwengehaltes sogar die Fortsetzung meiner Schulstudien ermöglicht wurde, so kehrte ich nach kurzer Unterbrechung in den Kreis meiner Cameraden zurück.

Die Eindrücke des Leipziger Theaters wirkten je doch unbewußt fort, denn schon in den ersten Zeiten meines Aufenthaltes zu Grimma zeigte sich in mir eine außerordentliche Neigung zum öffentlichen rednerischen Vortrage; ich interessirte mich für Alles, was auf diesen Gegenstand Bezug hatte, und Cicero und Livius wurden meine Lieblinge.

Der Tertius der Schule, in dessen Classe ich mich 1801 befand, hatte sich vorzüglich dem Studium der römischen Classiker gewidmet und hielt uns häufig Vorlesungen über Plautus und Terentius. Ich und die meisten meiner Commilitonen ergaben uns mit Fleiß dem Studium dieser beiden dramatischen Schriftsteller, und als jeder von uns eine Uebersetzung der Terenzischen »Andria« (das Mädchen von Andros) geliefert hatte, trug der Lehrer denen, deren Uebersetzungen er für die gelungensten erkannte, auf, die »Andria« auswendig zu lernen und sie vor ihm in der Classe dramatisch darzustellen. Mir übertrug er bei Vertheilung der Rollen den verschmitzten Davus, weil er diese Rolle für die schwierigste hielt und zu mir das meiste Zutrauen hatte, seit er mich eine Rede aus Livius und besonders die Satyre des Horaz: Ibam forte via sacra etc. hatte vortragen hören. Ich führte den Charakter glücklich durch, zur[30] großen Belustigung meiner Mitschüler und zur Zufriedenheit des Lehrers, dem ich durch pfiffige Mienen und komische Accente manches wohlgefällige Lächeln abgewann. Der »Andria« folgte bald die »Adelphi« (die Brüder) und der »Heautontimorumenos« (der Selbstquäler) und ich zog darin immer mehr die Aufmerksamkeit auf mich. Da diese dramatischen Vorträge immer mit rednerischen wechselten, und ich mich immer mehr darinvervollkommnete, so entstand in meinem Lehrerder Wunsch, mich einmal eine deutsche Rede vortragen zu hören.

Er brachte mir eines Tages eine solche, von seiner Hand auf ein Blatt geschrieben, ohne jedoch den Autor zu nennen, aus dem sie entlehnt war.

In den meisten Schulen damaliger Zeit wurde die Erlernung der deutschen Sprache in Wort und Schrift unbegreiflich oberflächlich und fast nie grammatikalisch betrieben, und besonders Knaben, die für Gymnasialstudien bestimmt waren, lernten eigentlich die Muttersprache nur gebrauchen durch lateinische und griechische Lesebücher oder als unentbehrliches Hilfsmittel bei Exegesen und Excerpten. Nun aber vollends deutsche Bücher! Diese, wenn sie nicht religiösen oder wissenschaftlichen Inhaltes waren, verbannte das strengste Verbot und ihr unerbittliches Schicksal war Confiscation, sobald sie bei einem Schüler aufgefunden wurden. Aber es ist ja eine anerkannte Erscheinung in der ganzen Lesewelt, daß zur schnellsten Verbreitung und zum reißendsten Absatze eines Buches ein Verbot am meisten beiträgt. Im Kleinen wie im Großen! Daß nun ein solches Verbot auf eine Schaar blühender und intelligenter Jünglinge einen Hauptreiz ausübte, das Gewagte zu unternehmen,[31] wird jedem Leser aus seinen eigenen Jugenderfahrungen klar sein. Ich lernte auf diesem Schleichwege die meisten deutschen Classiker, so wie die meisten Dramen Kotzebue's, Iffland's und vornehmlich die herrschende Romanliteratur kennen: »Werthers Leiden,« »Die Leiden der Ortenbergischen Familie« u.s.w.

Zu diesen Frevelthaten und eben deshalb erhöhten Genüssen wurden nebst den ungenügenden Freistunden besonders jene verhängnißvollen Tage verwendet, wo nach den Sanitätsvorschriften der Schule der ganze Coetus mediciniren mußte, und wegen der unvermeidlichen Consequenzen keine Collegien stattfanden.

Daß mich bei solchen Verhältnissen die deutsche Rede, die mir der Tertius übergab, doppelt ineressirte, war wohl natürlich. Die Rede begann folgendermaßen: »Römer, Mitbürger, Freunde! hört mich um meiner Sache willen und schweigt, damit Ihr hört« etc. Sie handelte von der Ermordung Cäsars, und Brutus war es, der so gewaltig zum Volke sprach; Anlaß genug für mich, sie gierig zu verschlingen und schnell meinem Gedächtnisse einzuprägen – aber wo sie hergenommen sein mochte!? Der Gedanke quälte mich unaufhörlich und der Tertius that sehr geheimnißvoll mit dem ganzen Werke. Daß es keine Uebersetzung eines alten Schriftstellers war, erkannte ich wohl, ich war fest überzeugt, sie müsse einem Werke neuerer Zeit entnommen sein. Nun entwarf ich allerhand Pläne, um hinter die Sache zu kommen. Zuerst wendete ich mich an den Tertius mit der Bitte, mich das Buch lesen zu lassen, um mir eine genauere Kenntniß der Situation, in welcher Brutus spreche, zu verschaffen. Der[32] Lehrer aber antwortete, die Situation sei mir aus der römischen Geschichte hinlänglich bekannt und die Rede selbst bezeichne Alles, was ich zu wissen brauche; wenn ich sie aber recht gut vortrüge, so würde er mir noch eine zweite und größere Rede zum öffentlichen Vortrage übergeben.

Ich wendete nun allen erdenklichen Fleiß auf meinen Brutus und hatte sowohl die Worte der Rede als auch den Ausdruck, den ich ihnen geben wollte, so inne, daß ich sie im Schlafe hätte hersagen können.

Als ich zum Vortrage kam, merkte ich mir genau das Buch, aus welchem der Tertius meine Rede nachlas, ohne mich im Geringsten aus dem Concepte bringen zu lassen. Nachdem ich geendet hatte, wiederholte mir der Lehrer sein Versprechen, mir die zweite größere Rede recht bald zuzustellen. Während mein Nachfolger seinen lateinischen Vortrag hielt und der Tertius seinem Tische den Rücken zugekehrt hatte, langte ich schnell nach dem Buche, das ich von meinem Platze mit der Hand erreichen konnte, schlug den Titel auf und las: »Julius Cäsar, Trauerspiel in fünf Acten von Shakespeare, übersetzt von Dalberg.« Wie ein Blitz fuhr es mir durch alle Glieder! Der große Britte, von dem ich schon so viel gehört und nie etwas gelesen hatte, war es, der mich unbewußt so unwiderstehlich angezogen hatte!

Den folgenden Tag brachte mir der Tertius die Rede des Antonius: »Freunde, Römer, Mitbürger! Leiht mir eure Ohren. Ich komme, den Cäsar zu bestatten, nicht ihn zu preisen« etc. Ich durchlas sie und meine Augen schwammen[33] in Thränen. Nun konnte ich dem Verlangen, das ganze Trauerspiel zu lesen, nicht mehr widerstehen, und da mir der unerbittliche Lehrer jeden anderen Weg versperrte, so suchte ich meinen Zweck auf Kosten der Wahrheitsliebe zu erreichen. An einem Tage, wo ich wußte, daß der Tertius mit Emendation unserer Exerctien dringend beschäftigt war, gab ich vor, die Rede, die ich vier Tage später vortragen sollte, verloren zu haben und bat ihn, mir das Buch nur so lange anzuvertrauen, bis ich mir die Rede wieder herausgeschrieben hätte. Der Arglose merkte glücklicherweise die Falle nicht und überließ mir endlich das Buch mit dem Bedeuten, es ihm nach der Freistunde augenblicklich wieder einzuhändigen. Kaum war ich im Besitze meines Schatzes, so eilte ich in meine Zelle, schloß mich ein, las von halb ein bis zwei Uhr das Stück mit wahrer Begierde zu Ende und brachte es dem Tertius zurück, nachdem es für ewig meinem Gemüthe eingeprägt war und meine Phantasie mit unauslöschlichen Bildern erfüllt hatte.

So trat denn der unsterbliche Shakespeare zum ersten Male vor meine Seele, um fortan als der theuerste Freund mich durch meine ganze irdische und künstlerische Laufbahn zu begleiten.

Das Studium der Rede über Cäsars Leiche war nun meine liebste Beschäftigung, denn schon früher hatte in der Geschichte der Moment der Ermordung Cäsars unendlich viel Rührendes für mich gehabt, wenn er dem Brutus zuruft: »Auch du, mein Sohn?« Die allbekannte Stelle in Shakespeare's Tragödie machte einen Eindruck auf mich, den ich mit nichts vergleichen kann.[34]

»Seht, welchen Riß der neidische Casca machte! durch diesen stieß der vielgeliebte Brutus durch und als er den verfluchten Stahl zurückzog, seht, wie Cäsars Blut ihm folgte, als stürzte es aus dem Thor, um überzeugt zu sein, ob es denn Brutus sei, ob nicht, der so unfreundlich klopfe« etc.

Ich mußte diese Stelle unzählig oft mit aller Kraft der Darstellung sprechen, ehe ich es dahin bringen konnte, meinem Thränenstrome nur einigermaßen Einhalt zu thun. Ich erinnere mich manches erschütternden Eindruckes, als ich nachher Lear, Othello, Macbeth, Hamlet, Romeo und Julie las, aber keiner glich doch an Gewalt diesem ersten im frühesten Alter, wo durch den Unterricht in der römischen Geschichte mein Geist voll war von jenen Bildern römischer Großthaten.

Es gelang mir, durch den Vortrag dieser Rede sow oh meinen Lehrer als meine Commilitonen gewaltig zu ergreifen und ihnen Thränen zu entlocken. Ich galt nun auf der Schule für einen guten Declamator, so daß ich bei vorkommenden Gelegenheiten mich öffentlich produciren mußte.

Die musikalischen Zöglinge des Institutes gaben bisweilen unter der Leitung unseres Cantors und vierten Lehrers, der ein vortrefflicher Musiker war, ein Concert, wozu wir die Honoratioren der Stadt einluden. In diesen Concerten mußte ich melodramatische Stücke sprechen, z. B.: »Die Ode an den Frühling,« von Klopstock, mit musikalischen Zwischensätzen von Zumsteg u. dergl. Auch wurde ich, als zwei Fürstenschüler beim Baden ertrunken waren, dazu aufgefordert, eine Leichenrede zu verfertigen und sie bei der Beerdigungsseierlichkeit[35] in der Kirche vom Altare herab vor der versammelten Gemeinde zu halten.1[36]

Da wir Fürstenschüler in unserer Kirche, welche die alte Klosterkirche und zugleich die Hauptkirche der Stadt war,[37] an den gewöhnlichen Festen Musiken aufführen mußten, so hatte ich Gelegenheit, auch in diesem Fache mich einigermaßen auszubilden. Ich sang Tenor und mußte, als wir zu Weihnachten 1802 in unserem großen Auditorium »die Schöpfung« von Haydn aufführten, die Partie des Uriel übernehmen; auch lernte ich Contrebaß spielen, Fagott und Flöte blasen, späterhin auch die Guitarre mit solcher Fertigkeit behandeln, daß ich Andere darin unterrichtete. Dabei unterließ ich aber nie, mein Rednertalent vorzugsweise auszubilden und fing an, Gedichte von Goethe, Schiller, Matthisson und Anderen in den Freistunden auswendig zu lernen und zu recitiren, wobei ich gewöhnlich im Kreuzgange der Schule umherwandelte. Am meisten aber zogen mich dramatische Gegenstände an, und als ich einst in einer Anthologie den Monolog des Hamlet: »Sein oder nicht sein,« fand, schrieb ich ihn mir ab, ohne das übrige Trauerspiel zu kennen; aber schon genug für mich, daß er, wie man mir sagte, einem der vorzüglichsten Werke Shakespeare's angehörte.

Alle Jahre, gewöhnlich zu Pfingsten oder gegen Michaeli,[38] war es jedem Schüler gestattet, auf einige Wochen seine Familie zu besuchen. Meinen besten Schulfreund Ringelhardt (der nachmalige rühmlich bekannte Director des Leipziger Stadttheaters in den Jahren 1832–1844) führte der Weg nach seiner Heimat über Leipzig, und so pflegten wir denn immer zu gleicher Zeit zu reisen und besuchten gemeinschaftlich das Leipziger Theater.

Während unseres Ferialaufenthaltes im Jahre 1801 wurde eines Tages, wenn ich nicht irre für den 17. September, »Die Jungfrau von Orleans« angekündigt. Schiller, durchbrauste es die Studentenkreise, Schiller ist in Leipzig und wird der Vorstellung beiwohnen, um selbst zum ersten Male seine Schöpfung dargestellt zu sehen. In einem Freudentaumel strömte Alt und Jung nach dem Schauspielhause. Die Kräftigsten errangen sich die besten Plätze im Parterre, welches damals nur ein Stehp latz war und Gottlob, ich gehörte zu den Kräftigen und Glücklichen. Da thut sich die Thür einer Loge auf und eine lange schlanke Gestalt tritt an die Logenbrüstung. »Er ist es! Schiller ist es!« durchläuft es die Räume und wie ein Kornfeld, vom Winde bewegt, wogt die Masse, um den Angebeteten zu sehen. Welch' ein Kopf! welch' ein Auge! welche Mischung von Klarheit und Ruhe, von durchdringendem Verstande und unendlicher Güte; dabei ein elegischer Ausdruck des Leidens, der bis in das Innerste rührte.

Das also ist der Herrliche, der Hunderttausende, Millionen durch die Gewalt seines Genius der Erde entrückt, nach dem Himmel hebt, in Seligkeiten wiegt![39]

Kaum kann man sich von dem Anblicke losreißen, um dem Vorspiele und dem ersten Acte der Tragödie zu folgen. Nun bricht das Heldenmädchen auf, um in Orleans das Siegeszeichen zu pflanzen, der Vorhang senkt sich und ein bacchantischer Jubelruf stürmt durch das Haus: »Es lebe Friedrich Schiller!« Das Orchester muß mit Trompeten und Pauken secundiren und nun erhebt sich die rührende Gestalt, um sich mit sichtbarer innerer Bewegung gegen den Zuschauerraum dankend zu verneigen. Von Neuem rast der Jubel und nur das Aufrollen des Vorhanges und Ochsenheimer's Erscheinen als Talbot macht dem Aufruhr ein Ende.

Diese Leistung ist mir aus der ganzen Darstellung die unvergeßlichste. Ich habe nie wieder einen Talbot gesehen, der nur annähernd im Stande gewesen wäre, an dieses Meisterstück der Darstellungskunst zu erinnern. Die ganze einfache, düstere, eherne Erscheinung, dieser eiskalte Realismus gegenüber der prickelnden, fanatischen Ueberspanntheit der Franzosen! Dieses Mark der Rede, jedes Wort ein erlegter Feind, jeder Blick Verachtung des fränkischen Gaukelspieles! Und Talbot's Sterbescene! Diese Bitterkeit gegen ein unverdientes Schicksal! Dieses allmälige Verlöschen in der letzten Rede und dabei jeder Laut dem Ohr vernehmbar!

Dieser Eindruck gehört zu den höchsten Genüssen, die die Bühnenkunst mir als Zuschauer gewährt hat, und als ich nach vielen Jahren selbst in die Lage kam, diese Rolle darzustellen, habe ich zu meinem Vortheile mich bemüht, dieses Bild nach Möglichkeit in meinem Gedächtnisse wachzurufen.

Begeisterungstrunken kehrte ich mit Ringelhardt nach[40] Grimma zurück und da wir auf der Schule nun noch unzertrennlicher waren als vorher, so lagerten wir uns oft am Ufer der Mulde in das hohe Gras unserer Spielplätze, die uns in den Freistunden geöffnet wurden. Hier recapitulirten wir unsere Reiseeindrücke, die Kunstgenüsse im Leipziger Theater und hatte bisher nur der Gedanke in mir vorgewaltet, einst öffentlicher Prediger zu werden wie meine Oheime, so tauchte jetzt zuerst und dann immer häufiger und lebhafter der Wunsch in uns auf, selbst einmal die Bühne zu betreten und wo möglich bei einem und demselben Theater rühmlich zu wetteifern.

Der Wunsch, unser dramatisches Talent einmal zu prüfen, gab uns den Anschlag ein, uns ein Theater zu bauen, was denn auch auf die einfachste Weise in das Werk gesetzt wurde. Wir spannten nämlich zwischen vier Säulen in unserem großen Auditorium drei Bettücher auf, steckten zwei Spannen hoch von der Erde einen Streifen von rothem Papier darum, und ein Zimmer war fertig; zur Vordergardine verwendeten wir ein Stück alter Leinwand, welches wir unserem Oeconomie-Verwalter vom Boden entführt hatten, und welches vor seiner Kunstbestimmung wahrscheinlich einem Frachtwagen als Decke gedient hatte; an den Säulen bohrten wir blecherne Leuchter ein, die sich an unseren Musikpulten befanden, und so war die Scene auch beleuchtet.

Hier wurden nun unter Beiziehung einiger Mitschüler, denen wir Geschick zutrauten, extemporirte Komödien gegeben, zu denen Ringelhardt und ich den Canevas lieferten, und wofür unser plagiarisches Gedächtniß hauptsächlich Bruchstücke[41] aus bekannten Scenen zu Grunde legte. Auch gingen wir, nachdem wir uns einige gedruckte Theaterstücke verschafft hatten, zu größeren und vollständigen Scenen bekannter Dramen über, z. B. aus Kotzebue's »Epigramm«, worin ich den Klinker und Ringelhardt den Hippeldanz spielte.

Wie aber der Mensch mit dem, was er besitzt, nie zufrieden ist, sondern immer nach Verbesserung strebt, so wollten auch wir uns nicht mehr mit unserem dürftigen Kunsttempel begnügen; vielmehr erkannten wir es als das dringendste Bedürfniß und als das höchste Ziel der Wünsche, gemalte Decorationen zu besitzen und vollständige Stücke auswendig zu lernen und aufzuführen.

Wir machten uns frisch an's Werk. Schon waren mehrere decorative Prachtstücke unter unseren schöpferischen Händen hervorgegangen, als wir plötzlich vor den Lehrer gefordert und über unser geheimnißvolles Treiben zur Rede gestellt wurden. Läugnen half nichts; unsere unsterblichen Werke sprachen laut gegen uns. Wir erhielten einen derben Verweis, unser theatralischer fundus instructus sammt Bibliothek wurde confiscirt und uns das Komödiespielen streng untersagt.

Auch an anderen muthwilligen Streichen fehlte es nicht. Nitimur in vetitum semper, cupimusque negata. Außer der Ferienzeit oder jenen Fällen, wo an freien Tagen Schüler von Honoratioren der Stadt ausgebeten wurden, war es nicht gestattet, das Weichbild der Fürstenschule zu überschreiten. Ebenso war natürlich auch das Tabakrauchen ein schrecklicher Pönfall.

Im Unmuthe über unsere fehlgeschlagenen Theaterfreuden[42] faßten ich, Ringelhardt und ein anderer Mitschüler, Ernest Schmorl (nachmaliger Gerichtsdirector zu Oschatz in Sachsen), einen anderen, höchst muthwilligen Gedanken. Wir wollten den verhaßten Schulzwang wenigstens für einige Stunden der Nacht von uns abschütteln und an einem Orte, wo wir freundlich aufgenommen wurden, bei einem Glase Punsch und einer Pfeife Tabak im Genusse erträumter Freiheit uns angenehm unterhalten.

Diese Excursionen zur Nachtzeit waren freilich mit einiger Gefahr verbunden, von der wir uns aber in unserem jugendlichen Uebermuthe nicht abschrecken ließen.

In dem verfallenen Theile des Klostergebäudes waren von den Plafonds der ehemaligen Zellen nur noch die Balken vorhanden. Das Dach darüber war aber im baulichen Zustande erhalten. Von unseren Schlafzellen, welche daranstießen, stiegen wir nun nach diesen Balken, wobei man vorsichtig von einem zum anderen balanciren mußte, indem man sich mit den Händen an den Dachbalken festhielt. Dieser halsgefährliche Weg führte uns auf der anderen Seite des Hauses hinunter nach einem großen Schuppen zu ebener Erde und durch ein Fenster desselben, das wir öffnen konnten, nach einer Seitengasse der Stadt. Um diesen bedenklichen Pfad mit einiger Sicherheit zu wandeln, probirten wir das Manöver bei Tage zuerst mit offenen und dann mit geschlossenen Augen, um zu prüfen, ob wir den Weg auch bei dunkler Nacht finden würden. Anfangs ging es etwas schwer, aber Beharrlichkeit führt zum Ziele.

Am 3. August, dem Namenstage des damaligen Churfürsten[43] von Sachsen, fand auf dem bürgerlichen Schießhause ein Festschießen statt, wobei der Schießstand bis spät in die Nacht beleuchtet wurde. Zwei Reihen von Zelten waren für die Gäste aufgeschlagen und jede bedeutende Familie der Stadt hatte ihr eigenes Zeit, so auch Kaufmann Schmidt, von dem ich an Ferialtagen häufig aus der Schule ausgebeten wurde und jederzeit die gastlichste Aufnahme in seiner Familie fand. Daß wir Ausreißer dieses festliche Ereigniß nicht unbenützt vorübergehen lassen konnten, verstand sich für uns von selbst. Wir betraten also unseren nächtlichen Pfad und kamen glücklich bei den hellerleuchteten Zelten an. Da auch einige unserer Lehrer als Gäste in den Zelten anwesend waren, von denen erkannt zu werden nicht eben unser dringendstes Bedürfniß war, so zogen wir uns aus tactischen und strategischen Rücksichten seitwärts nach einem dunkleren Platze zurück, wo wir mit einiger Sicherheit Stellung nehmen konnten. Die Tochter des Kaufmann Schmidt, ein reizendes Mädchen von 16–17 Jahren und sehr geneigt zu geselliger Heiterkeit und harmlosen Scherzen, hatte mich aber doch bemerkt. Ich sah sie gleich darauf eine lange thönerne Pfeife stopfen, wie sie damals gebräuchlich waren; sie zündete dieselbe mit ihrem eigenen zarten Mündchen an einer Lampe des Zeltes an, und übersendete sie mir durch einen Diener des Hauses, mit einem Gruße an den armen Verbannten, mit dem man Mitleid haben müsse.

Im Schmidtschen Hause, wo ich immer häufiger verkehrte, und zuletzt wie ein Sohn behandelt wurde, hatte ich Gelegenheit, die äußerst interessante und belehrende persönliche Bekanntschaft des Dichters Seume zu machen, des berühmten[44] Spaziergängers nach Syrakus, des Freiheitssängers, den mißliche Lebensverhältnisse nöthigten, gegen die Freiheit Nord-Amerika's unter den englischen Soldtruppen und für die Unterdrückung Polens unter russischen Fahnen zu fechten. Er lebte als pensionirter russischer Officier in Grimma und wurde von den Fürstenschülern fast abgöttisch verehrt. Seume war eine schlanke Gestalt von mittlerer Größe, von erdfahler Gesichtsfarbe mit dunklem Haar und Auge. Seine Erscheinung hatte etwas Bedeutendes an sich, obgleich seine Haltung nachlässig war, und Fräulein Schmidt hatte an seiner Adjustirung immer viel auszusetzen. Als ich ihn das erste Mal sah, trug er noch das bekannte Miniaturbild, das Porträt seiner Braut auf der Brust, und es war kein geringer Beweis von Vertrauen, daß er es einst einem meiner Collegen, der mit dem Pinsel umzugehen wußte, zur Ausbesserung überließ. Wir verschlangen seine Gedichte, denn für aufblühende Jünglinge haben poetische Werke doppelten Werth, wenn sie den Schöpfer selbst kennen und anstaunen dürfen. Ich suchte, so oft ich Seume traf, mit ihm in's Gespräch zu kommen, und es schien ihm selbst zu gefallen, den wißbegierigen Frager über allerhand Materien der Kunst und Wissenschaft freundlich zu belehren und aufzuklären.

Am 14. September 1804 sollte ich die Fürstenschule verlassen, um die Universität Leipzig zu beziehen. Da dieser Tag zugleich der Stiftungstag der Schule war, so benützte ich diese Gelegenheit, wie gewöhnlich Alle, die in dieser Jahreszeit von der Schule abgingen, um öffentlich zu valediciren. Bei einem solchen Anlasse wurden in dem großen Hörsaale von dem[45] Abiturienten vier Reden gehalten: zwei lateinische und zwei deutsche, wovon in jeder Sprache die eine ein prosaischer, die andere ein poetischer Vortrag war.

Nach Beendigung der Feierlichkeit wurden mir verschiedene Lobeserhebungen über mein rednerisches Talent gemacht, und als ich dem Professor an der theologischen Facultät zu Leipzig und Archidiaconus an der St. Thomaskirche daselbst, Herrn Doctor Wolf, vorgestellt wurde, meinte derselbe, ich hätte viel Suada, ich sollte Theologie studiren und seine Disputatorien fleißig besuchen. Ein Landgeistlicher aber, ein wissenschaftlich sehr gebildeter und seiner Mann, nahm mich beim Ausgange des Hörsaales vertraulich bei der Hand und sagte: »Junger Freund, legen Sie den Codex bei Seite, es sei nun der sacer oder Justinianeus, und gehen Sie zum Theater; dafür haben Sie entschiedenes Talent und werden sich folglich auch in dieser Sphäre wohler als in einer andern fühlen.« Wie ein elektrischer Schlag durchzuckten mich diese Worte und fielen auf fruchtbaren Boden. Alle jene schwärmerischen Träume am Ufer der Mulde wachten mit verführerischem Schimmer in meiner Seele auf. Die Idee, öffentlicher Redner zu werden, hatte sich auf der Schule sehr bald in mir festgesetzt. In der ersten Zeit hatte ich dabei, wie schon erwähnt, die Kanzel im Auge. Nunmehr aber hatte bereits die Neigung für die Bühne die Oberhand gewonnen. Noch aber fehlte mir die Freiheit der Entschließung, und ich mußte sogar, durch Verhältnisse genöthigt (ich sollte Stipendien genießen), für den Augenblick das juridische Fach ergreifen.

Bei der Mittagstafel, als mir noch einmal viel Schmeichelhaftes[46] über meinen Vortrag gesagt wurde, wiederholte der Landgeistliche laut seine Meinung; allein Mehrere aus der Tischgesellschaft erhoben ihre Stimmen dagegen und meinten, sie liebten zwar das Theater sehr, aber ich möchte lieber bei der einmal eingeschlagenen soliden bürgerlichen Carriere bleiben, und ich selbst, obgleich ich jenen theaterfreundlichen Rath nur zu gerne hörte und in meinem Innern eine Achtung gebietende Stimme für ihn sprach, erklärte mich mit einigem Zögern für die Meinung der Tischgesellschaft.

Der Landgeistliche mochte das Widersprechende zwischen meinen Worten und meinen Gedanken herausgefühlt haben, und er hatte unzweifelhaft die freundliche Absicht, mich zu unterstützen und aufzumuntern, als er ausrief: »Eitles Vorurtheil! man hat längst der Schauspielkunst den gleichen Rang mit allen übrigen freien Künsten selbst in unserer noch so sehr verfinsterten Zeit einräumen müssen. Jeder schlürft ihre Genüsse so gern in sich; Dichter und Publicum in alter und neuer Zeit haben dieser Kunst so hohe Aufmerksamkeit geschenkt, – wann wird man endlich aufhören, den Schauspieler selbst mit einer Art von Scheu zu betrachten! Glauben Sie mir,« sprach er, zu mir gewendet, »jeder Stand hat seine Last; man wird Ihnen nirgends goldene Berge bieten, und am glücklichsten ist immer der, der einen Beruf wählt, wozu ihn unüberwindliche Neigung und entschiedenes Talent treiben.«

Schon lange war das, was er sprach, meine tiefste, innerste Herzensmeinung; dieser Mann zog sie mir nun auf einmal gewaltsam an das Licht. Daß ich diese Ansicht, die mit meinen stillen Wünschen so völlig übereinstimmte, ganz vortrefflich[47] fand, wird man begreiflich finden. Aber gewaltsame Schritte hatten für mich immer etwas Beängstigendes. Mit diesem Entschlusse jetzt schon vor meine Familie zu treten, schien mir das Wiedersehen zu trüben, und unangenehmen Eindrücken und Augenblicken bin ich von jeher so sorgfältig ausgewichen, daß ich lieber entbehrte und ertrug, als Conflicten begegnete. Man kann vielleicht Indolenz nennen, was mich practischen Lebensfragen gegenüber so unschlüssig machte, aber ich war es nur im Leben; so wie es sich um meine Kunst handelte, war ich klar, entschieden und thatkräftig. Ich neigte eben zum Träumer und so dachte ich schon damals: warte den günstigen Augenblick ab und lasse bis dahin das Schicksal walten. Vielleicht vermeidest du einen unerquicklichen Kampf.

Ich sagte nun meinen Bekannten und Freunden in Grimma Lebewohl und kehrte nach Leipzig in den Kreis meiner Familie zurück, voll Erwartung, wie und wann sich die Frage meiner Zukunft entscheiden werde.


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 24-48.
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Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

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