6.


[61] Bald wurde dieses schmerzliche Ereigniß durch ein freudiges in den Hintergrund gedrängt, durch ein Ereigniß, welches für mich und meine künftige Lebensstellung von dem wichtigsten Interesse war und begreiflicherweise meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen mußte. Mitte Juni 1805 traf nämlich der Generaldirector der königlichen Schauspiele in Berlin, Herr August Wilhelm Iffland (wie die Annoncen ziemlich umständlich berichteten), über Einladung des Leipziger Stadtrathes zu einem längeren Gastspiele ein, welches zwölf[61] Vorstellungen umfaßte und am 16. Juni mit dem »Puls« und dem »Gutherzigen« begann. Diesen folgten: », Nathan,« »Eine deutsche Familie,« »der Essighändler« und »Herr Müßling,« »der Taubstumme,« »die Hausfreunde,« »Eheliche Probe,« »Die Räuber« (zweimal), »Pagenstreiche,« »Die Erben« und als letzte Gastrolle: »Der Amerikaner.«

Sogleich benachrichtigte ich Ringelhardt von dem bevorstehenden Glücke. Er eilte nach Leipzig, wir besuchten gemeinschaftlich das Theater und theilten entzückt die Genüsse, die uns die Kunst des gefeierten Mimen gewährte.

Jeder dieser Abende ward für uns zum Feste. Am nächsten Tage pflegten wir auf unseren Spaziergängen die Vorstellung des Vorabends und deren vorzüglichste Einzelheiten uns in das Gedächtniß zurückzurufen; wir suchten dem hohen Meister in seinen Ideen zu folgen und das Lehrreichste aus seinem Spiele wurde für immer in unser Inneres geschrieben.

Man muß Iffland in der Zeit der Kraft gesehen haben, um bis in das späteste Alter diese hinreißende Charakteristik im Gedächtniß zu tragen, welche jede seiner Gestalten im bürgerlichen Schauspiele, namentlich aber jeden seiner feinkomischen Charaktere, zu einem Spiegelbilde des Lebens machte. Da pulsirte Alles, keine Nuance ging seinem forschenden Genius verloren, und manche an sich unbedeutende Scene wußte er zu einer Bedeutung zu erheben, daß man sich überrascht fragte: Worin besteht denn der Zauber, den er hierbei ausgeübt hat? Bei Iffland empfand man die wunderbare Wirkung, die planvolle Anordnung des Meisters hüllte sich in einen duftigen Schleier.[62]

Einen eigenthümlichen Reiz gewährte mir seine Darstellung des Baron Stuhlbein in Kotzebue's »Pagenstreiche«. Welche zwerchfellerschütternde Komik und dabei dieser Ernst, dieses Maß; diese Noblesse des Edelmannes und dabei wieder diese unwiderstehliche Bornirtheit. Da war von Uebertreibung keine Spur, wie denn überhaupt das ganze Stück wie das feinste Lustspiel dargestellt wurde.

Und gerade in diesem Style der Darstellung wirken die schon an sich derben Situationen doppelt, weil sie durch die Mäßigung wahrscheinlicher werden. Heutzutage wird in dieser Posse, wo sie noch zur Darstellung gelangt, der Scherz zu Bierstubenspäßen, Muthwille wird zu Frechheit, Einfalt zu Blödsinn gesteigert und eben dadurch die Wirkung auf die Gebildeten vernichtet. Auch gehört zum Aufputz des Ganzen, daß die drei Liebhaber Officiere sind, und das Gefährliche in der Situation des Pagen wird dadurch gesteigert. Es gehören sehr falsche Begriffe von Ehre dazu, daß die Eitelkeit des Militärs in späterer Zeit das glänzende Resultat erkämpfte, diesen drei renommirenden Liebhabern das Portepée zu nehmen und sie in Civilpersonen zu verwandeln. Als ob nicht der verdienteste Officier in der Liebe von einem jungen Sausewind verdrängt oder überlistet werden könnte. Das ganze Stück wurde in Leipzig mit den ersten Mitgliedern besetzt. Opitz, Schirmer und Drewitz waren die Liebhaber, Ochsenheimer, Bösenberg und Thering die drei alten Landjunker. Die Hartwig war allerliebst als Page; doch muß ich gestehen, daß die Wirkung eine ungleich größere ist, wenn der Page von einem jungen Manne dargestellt wird, der die gehörige Leichtigkeit besitzt.[63] Fichtner's herrliche Leistung steht unübertroffen in meinem Schauspielergedächtnisse.

Mit der größten Spannung wartete ich auf die »Räuber«, welche in Leipzig nur selten gegeben werden durften und von Censurwegen »Carl Moor« heißen mußten, seit sich das possierliche Factum ereignet hatte, daß eine Anzahl Studenten, im Enthusiasmus über diese wilde Dichterphantasie, sich nach den böhmischen Wäldern aufgemacht hatte, um nach dem Beispiele der Tragödie eine leibhaftige Räuberbande zu stiften.

Seit ich vom Theater sprechen gehört hatte, wurde Iffland's Franz Moor als das Höchste gepriesen, was in dieser Rolle geleistet werden kann. Ich kann nicht läugnen, daß ich den Künstler bewunderte, der mit seiner bereits zum Embonpoint neigenden Individualität, mit seinen unzureichenden Stimmmitteln solche Wirkungen hervorbrachte. Welche psychologische Feinheit in dem leisesten Uebergange; man gerieth förmlich in Angst und Beklemmung, wenn man von Minute zu Minute das Netz anwachsen sah, welches der schurkische Sohn über Vater und Bruder unentwirrbar ausspannte. Unvergeßlich sind mir die Momente, wo ihm das Todesmittel des Schreckens beifällt, wo der Feigling gegen Amalie wüthet und in dem kunsthistorischen: »Wer schleicht hinter mir?« sowie in den Monologen des letzten Actes gipfelte auch unbedingt Iffland's wunderbare Leistung. Im Gesammtbilde des letzten Actes müßte er jedoch nach meinem Urtheile die Palme an Ludwig Devrient abtreten, denn erst aus der Darstellung des letzteren lernte ich die ganze Furchtbarkeit der Räuberkatastrophe kennen. Was Devrient hier leistete, muß man gesehen[64] haben, um es ganz zu würdigen. Ging man die einzelnen Momente beider Leistungen durch, so schien bald der eine, bald der andere Künstler den Vorzug zu verdienen; denn während Devrient mit seiner dämonischen Leidenschaftlichkeit den Zuhörer oft gewaltsam mit sich fortriß, wußte Iffland durch eine ruhigere, aber überzeugende Wahrheit zu siegen. Auch habe ich nie gewagt, ein Urtheil abzugeben, wenn an mich die Frage gestellt wurde, ob ich Iffland oder Devrient als Franz Moor für größer hielte.

Die Anerkennung, welche Iffland für seine Leistung als Franz Moor in Leipzig fand, war um so bedemungsvoller, als das Publicum mit einer gewissen Eifersucht jedem Schauspieler entgegentrat, der es unternahm, sich in dieser Rolle mit Ochsenheimer zu messen, und der folgende Vorfall mag als Beweis gelten, wie hoch Ochsenheimer gerade als Franz Moor in der Achtung und Bewunderung des Leipziger Publicums stand.

Der Schauspieler Unzelmann aus Berlin war als Gast in der Rolle des Franz Moor angekündigt. »Die Räuber« durften, wie oben erwähnt, wegen des damals gefürchteten Inhaltes nicht oft aufgeführt werden. Jeder Student wollte während seiner Universitätsjahre Ochsenheimer als Franz Moor gesehen haben und nun sollte ein fremder Schauspieler, der nicht einmal einen imponirenden Ruf für sich geltend machen konnte, diesen seltenen und lang ersehnten Genuß vereiteln. Der Vorhang hebt sich. Bruder Studio fängt an zu trommeln und zu lärmen, das Publicum betheiligt sich an der Demonstration und dem verwirrten Gaste schallt der hundertstimmige Ruf[65] entgegen: »Ochsenheimer soll spielen!« Der Geforderte mußte endlich auf der Bühne erscheinen und erklären, er habe für diesen Abend die Rolle des Franz Moor an seinen Freund und Collegen Unzelmann überlassen und könne daher heute in keinem Falle auftreten. »Bravo, Ochsenheimer!« war die lärmende Antwort. Nun erst beschwichtigte sich der Sturm, der Gast spielte unangefochten seine Rolle und wurde sogar zur Entschädigung sehr artig behandelt.

Am Schlusse seiner letzten Gastrolle wurde Iffland in ehrenvoller Anerkennung seiner Gesammtleistungen hervorgerufen und das Publicum brach in lauten Jubel aus, als eine Deputation des Stadtrathes auf der Scene erschien und dem Gefeierten einen werthvollen Lorbeerkranz überreichte.

Nach Beendigung des Iffland'schen Gastspieles beschäftigte mich natürlich in erhöhtem Maße Alles, was auf den großen Künstler Beziehung hatte. An dem von Eckhof gegründeten Gothaer Hoftheater, wo bekanntlich auch Iffland seine Laufbahn begonnen hatte, war der Tanzmeister Mereau angestellt. Ueber die Wirksamkeit dieses Mannes hatte Iffland eine Abhandlung veröffentlicht, die mich nun besonders interessirte. Unvergeßlich bleibt mir darin die Stelle, wo Iffland die Lehren bespricht, die er von Mereau über den Gebrauch der Hände empfing: »Wenn Sie Ihre Hände eben nicht bedeutend und zweckmäßig zu brauchen wissen, so lassen Sie sie lieber ganz ruhig und ungezwungen herunterhängen.« Diese Worte schrieb ich mir hinter das Ohr und sie haben mir in der Folge großen Nutzen gewährt, denn sie halfen mir die Ungeschicklichkeit des Körpers schneller als gewöhnlich besiegen. Auch folgte[66] ich Mereau's Rathe und nahm mir keinen Tanzmeister, um von ihm Festigkeit des Körpers und freien Anstand zu lernen, sondern ich ging auf die Wachtparade, suchte mir einen Unterofficier aus, der mir am besten gefiel, und dieser mußte mir alle Tage an einem abgelegenen Orte vor der Stadt eine Lection im militärischen Exercitium geben. Er machte mich mit allen Bewegungen und Handgriffen des Soldaten vertraut und übte mich vorzüglich in dem damals noch gebräuchlichen Balancirmarsche, der ganz besonders geeignet war, Festigkeit und Sicherheit des Körpers zu geben.

Ich nahm nun noch häufiger als vorher meine einsamen Wanderungen vor, um in Wäldern und Feldern zu lesen, zu memoriren und zu recitiren. Auf diesen Wanderungen führte mich in der Zerstreuung und Träumerei mein Fuß nicht selten weit von der Stadt, der Abend überraschte mich und mehr als einmal fand ich bei meiner Rückkehr die Stadtthore gesperrt.

Bekanntlich wurden die Thore von Leipzig in früherer Zeit um neun Uhr Abends geschlossen und jeder Passant mußte von dieser Stunde an den Sperrgroschen entrichten. Für Studenten, die gewöhnlich viel länger im Freien zu thun hatten, und denen eine solche Ausgabe nicht oft erlaubt ist, hatte diese finanzielle Communalmaßregel etwas Unerträgliches. Es gehörte daher zu den Ehrensachen unter den Musensöhnen, dieser Thorsteuer durch List oder Gewalt sich zu entziehen. Entweder stieg man von außen in den Wallgraben und an der Thorseite herauf (ich selbst habe ihn mehr als einmal übersprungen), oder man ließ sich das Thor öffnen und rannte an der Thorwache[67] vorbei, ehe man gefaßt werden konnte. Wenn wir in großer Anzahl von Commercen oder Landausflügen kamen, so wurde das Thor auch mitunter durch Hinterhalt und Ueberfall forcirt. Einer ging voraus und ließ offen und der Schwarm drängte nach, warf die Wache bei Seite und zerstreute sich sodann in den nächsten Gassen.

Wer das Institat der Leipziger Stadtwache aus dem Anfange dieses Jahrhunderts kennt, wird diese Erfolge des jugendlichen Uebermuthes begreiflich finden. Als Meßfreiheit genoß Leipzig das Vorrecht, daß daselbst Militär als Garnison sich nicht aufhalten durfte. Die Stadtwache hatte die Aufgabe, den inneren Sicherheitsdienst zu leisten. Diese Wache war aber in Wirklichkeit alles Andere als ein Sicherheitsorgan. Von dem Volkswitz »Stadtmeisen« genannt, nach den Farben ihrer Uniformbestandtheile (sie trugen hechtgraue Röcke mit rothen Aufschlägen, rothe Weste und Beinkleider, gepudertes Haar und mächtige Zöpfe), bestand dieses Corps aus Invaliden, die wegen Körpergebrechlichkeit zu einer anderen Bedienstung nicht mehr qualificirt waren. Die boshafte Fama wollte sogar wissen, daß mindestens ein Leibschaden nachgewiesen werden mußte, um zur Aufnahme in dieses Corps berechtigt zu sein, welches eben nur eine Versorgungsanstalt für Veteranen war. Wer diese Helden vor der Wachtstube sitzen, schlafen oder Strümpfe stricken sah, der fand die Legion von Spottnamen und Spottliedern, die damals im Schwunge waren, vollständig gerechtfertigt und die unzähligen Anecdoten von dieser thebanischen Schaar mögen hier durch die nachfolgende vertreten sein.[68]

Nach der unglücklichen Schlacht bei Jena näherten sich die Franzosen der Stadt. Eine Cavallerieabtheilung der Avantgarde rückt durch das Rannstädter Thor und beim Anblick der bewaffneten Thorwache stellt der überraschte Offizier mit vorgehaltenem Säbel die Frage: ob denn fremdes Militär in Leipzig stehe? Der Schnurrposten, auf das eifrigste bemüht, eine übereilte Feindseligkeit zu verhüten, winkt beruhigend mit der Hand und gibt dem Frager die tröstliche Versicherung: »Ne! ne! ne! mir stehen nur so da!«


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 61-69.
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