1.


Das heilige römische Reich war an tief innerster Entkräftung selig oder vielmehr höchst unselig verstorben. Es war ihm sein Recht widerfahren. Zu den vielen Schäden und Schwächen, denen es erlegen ist, gehörten unfehlbar auch die Verkehrsanstalten zur Zeit meiner Jugend.

Es gab damals nur zwei Reisegelegenheiten, die einen anständigen Charakter trugen: die Extrapost für vornehme und reiche Leute, und Lohn-oder Landkutscher für die wohlhabenden Mittelclassen. Alles andere Pack, als: Handwerker, fahrende Schüler oder Künstler, hatten in Sachsen zwei minder empfehlenswerthe Beförderungsmittel: »Die gelbe Gelegenheit,« ein unbehilflicher schwerer Kasten mit gelbem Anstrich (daher der Volksname), welcher für 8 Personen Raum hatte und den eiligen Passagier auf der Route zwischen Leipzig und Dresden in ungefähr 36 Stunden von einem Endpuncte zum andern schaffte. Auf allen andern Straßen bestand nur noch die »Ordinäre«, scilicet Post. Letztere besonders war eine der kindlich naiven Einrichtungen, wodurch zur Zeit unserer ehrenwerthen Vorvordern für die Bedürfnisse des Publicums so väterlich ge sorgt wurde. Die »Ordinäre«, wie gesagt eine Post-Einrichtung, bestand aus einem sehr geräumigen Korbwagen (Steirerwagen), dessen Decke der blaue Himmel war. Auf diesem Wagen, der bei steigender Passagierzahl von vier Pferden gezogen wurde, hingen[89] in eisernen Ketten hölzerne Sitzbrette, auf deren jedes zwei bis drei Personen gepfercht wurden. Hinten im Korbe des Wagens wurde das Gepäck der Reisenden untergebracht. Waren aber der Passagiere und daher auch des Gepäckes so viel, daß es an Raum gebrach, so wurden die Sitze ausgehängt, die Koffer und Kisten mit groben Decken belegt und man nahm sodann auf denselben Platz. Leber- und Unterleibskranke gaben während der Fahrt den Geist auf oder fanden Genesung. Den Schutz gegen üble Witterung hatte sich Jedermann aus eigenen Mitteln durch Mäntel und Regenschirme zu verschaffen. So ging es fort über Stock und Stein in einem Tempo, daß man von einer Station zur andern hinlänglich Zeit hatte, mit den Betrachtungen über ein langes Leben, oder wenn man Schauspieler war, mit dem Memoriren einer mäßigen Rolle fertig zu werden.

Dieses zur körperlichen Abhärtung vortrefflich geeignete Gefährte entführte mich also um die Mittagsstunde, von Leipzig, wozu der gütige Himmel, vielleicht aus Barmherzigkeit mit seinen preisgegebenen Creaturen, glücklicherweise ein freundliches Gesicht machte. Mit dem freundlichen Herbstwetter stieg auch von Stunde zu Stunde meine Zuversicht und ich war vor der Hand schon zufrieden, daß ich nur einmal draußen war.

Ich unterbrach meine Reise in Baireuth, um Ringelhardt zu besuchen, der daselbst in Engagement stand. Welch' ein bedeutungsvolles Wiedersehen! Beide standen wir an dem Eingange einer Laufbahn, deren Ausgang so ungewiß war. Per aspera ad astra war unser Wahlspruch. Wir durchlebten[90] hier gar glückliche Stunden, die ganz unseren Jugenderinnerungen und den Betrachtungen über unsere Zukunft gewidmet waren. Wir erneuerten gegenseitig das Gelübde, redliche Kunstjünger bleiben zu wollen und lieber zu darben, als unsere Kunst durch Mißbrauch zu schänden. Ringe lhardt fühlte sich in den kleinlichen Verhältnissen seiner Stellung wenig behaglich und theilte mir mit, daß er die Absicht habe, mir nach Nürnberg zu folgen. Mit der Aussicht auf dieses freundliche Wiedersehen riß ich mich aus seinen Armen und setzte meine Reise fort, die mich Freitag den 11. September in Nürnbergs Mauern führte.

Ich stieg im Gasthofe »zum Hahn« ab. Als ich auf meinem Zimmer war, mußte ich lachen. Da saß ich in einer wildfremden Stadt, von keinem Menschen gekannt, beschützt, befördert und sollte nun zusehen, wie ich mir weiterhelfen könnte. Aber ich besann mich auch nicht lange. Ich kleidete mich um, machte ein paar Gänge durch die Straßen, deren eigenthümliche Bauart mit ihren veralteten Häusern und spitzen Giebeldächern mich sehr vertraulich ansprach, und fragte mich sodann nach der Wohnung des Mitdirectors Josef Reuter.

Die Direction des Nürnberger Theaters hatte sich ein paar Jahre vorher aus den vier Schauspielmitgliedern Eßlair, Reuter, Braun und Eberhardt constituirt. Eßlair war wenige Monate vor meinem Eintreffen aus dem Verbande des Theaters geschieden. Ich hatte also die Aufgabe, drei Personen für mich zu gewinnen, wenn ich meinen Zweck erreichen wollte. Aber der Zufall kam mir zu Hilfe. Das Theater entbehrte dringend eines jugendlichen Liebhabers und Helden[91] und unter dem Schutze dieser Verhältnisse betrat ich Reuter's Wohnung.

Reuter empfing mich sehr wohlwollend und meine Persönlichkeit schien befriedigend auf ihn zu wirken. Er las sehr aufmerksam Bossann's Brief durch, worin derselbe den gutgemeinten Passus angebracht hatte, daß er bereits Proben meines Talentes gesehen habe und nicht unbedeutende Anlagen in mir erkenne.

»Was haben Sie bereits gespielt?« fragte Reuter.

Ich war auf diese Frage gefaßt. Ohne mich zu besinnen, überreichte ich ihm ein sauber zusammengefaltetes Papier, das die Liste meines bereits eingespielten Repertoires vorstellen sollte. Das Verzeichniß bestand in einer Auswahl der besten und schönsten Rollen der deutschen Dramenliteratur. »Da haben Sie ja eigentlich schon gespielt, was gut und theuer ist. Bossann schreibt, Sie besäßen auch einen angenehmen Tenor und sängen sehr hübsch zur Guitarre.«

»Ja, Herr Reuter,« war meine Antwort, »ich bin nicht ganz ungeübt in diesem Fache.«

»Gut,« schloß jener, »so finden Sie sich morgen nach Tische wirder bei mir ein, wir wollen dann eine kleine Probe alla camera vornehmen.«

Ich durchstrich nun wieder die Stadt und die Erinnerungen an Hans Sachs, Albrecht Dürer, an die blutige Schlacht zwischen dem großen Schwedenkönig und Wallenstein tauchten bei jedem Schritte vor mir auf. Ermüdet von der Reise legte ich mich auf mein Lager und schlief zwar in einer gewissen unerklärlichen Zuversicht sehr fest und lange, aber Schauspielerträume[92] der buntesten Art durchzogen die Nachtruhe. Ich wurde nicht fertig mit Anziehen, ich blieb stecken, ich vergaß, in welchem Stücke ich zu spielen hatte; – wer hat sie nicht durchgemacht, diese Zunftträume!

Zur bestimmten Stunde des nächsten Tages trat ich wieder bei Reuter ein und fand dort den Vorstand des Orchesters, Wagner, der zugleich im Schauspiele mitwirkte. Wagner setzte sich an das Clavier, schlug die »Zauberflöte« auf und forderte mich auf, die Arie Ta mino's: »Dies Bildniß ist bezaubernd schön« zu singen.

Beide waren sichtlich befriedigt von dem Resultate dieser Gesangsprobe, die ich als ersten Beleg für mein Schauspielertalent ablegen mußte.

Reuter meinte nun, er wolle mit Braun und Eberhardt sprechen und ich sollte den andern Tag, Sonntag, vor Anfang des Theaters wiederkommen.

Welcher entsetzlich lange Tag! Jede Stunde dehnte sich zur Ewigkeit. Ich war auch natürlich lange vor der festgesetzten Zeit an Ort und Stelle, und umkreiste das Theater mit sehnsüchtigem Verlangen.

Endlich erspähte ich Reuter und flog auf ihn zu.

»Sie können's ja kaum erwarten; das nenne ich doch Feuer!« So empfing mich Reuter in der herzlichsten Weise.

Ich suchte meine Ungeduld so viel als möglich zu bemeistern.

»Nun, Herr Reuter, was bekomme ich für Antwort?«

»Mittwoch sollen Sie losgelassen werden. Wir haben[93] aus Ihrem Repertoire den jungen Klingsberg ausgesucht. Sie haben doch die Rolle schon gespielt?«

»Ei ja wohl,« war meine verwegene Antwort und ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen.

»Nun, so kommen Sie Dienstag zur Probe. Wollen Sie sich nicht die heutige Vorstellung ansehen?«

Es wurden die »Künstler« von Iffland gegeben.

Ich war zwar im Besitze der angesetzten Rolle, aber noch hatte ich nicht daran gedacht, sie zu memoriren. Dergleichen geschah nur mit Goethe und Schiller. Ich hätte daher allerdings nichts Eiligeres zu thun gehabt, als nach Hause zu laufen und die Rolle vorzunehmen.

Aber einerseits lockte mich die Erlaubniß, den freien Eintritt zu benützen und das Theater, sowie die Schauspieler kennen zu lernen; andererseits glaubte ich Mißfallen zu erregen, wenn ich die Vorstellung versäumte.

Ich betrat daher den Zuschauerraum und eine ganz eigenthümlich feierliche Stimmung ergriff mich bei dem Gedanken: Von dort herab wirst du vor der versammelten Menge sprechen dürfen; von hier aus werden Hunderte dir zuhören und dich richten. Dein höchster Wunsch wird erfüllt werden, und mit dieser letzten Betrachtung verwandelte sich plötzlich meine Stimmung zur glücklichsten Heiterkeit. Ich hätte Jedem meine Freude verkünden mögen, daß ich Mittwoch loslegen dürfe. Unerwartet fand ich dazu Gelegenheit, denn plötzlich klopfte mich Jemand auf die Schulter und ich hörte meinen Namen.

Beim Umwenden stand Secretär Wetzel vor mir, ein[94] Bekannter aus dem Leipziger Theaterparterre, der in Nürnberg domicilirte. Das Herz ging mir auf, daß ich bereits einen Bekannten hatte. Mit einem Schlage war ich nun in Nürnberg zu Hause und die Stunden der Vorstellung flogen dahin.

Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 87-95.
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