A. Allgemeines.

[841] 841. Was soll der Junge werden? Diese Frage wird von den Eltern oder dem glückstrahlenden Vater sehr häufig auf das gewissenhafteste von der Minute an erörtert, da der Junge die Welt mit seinem ersten Geschrei erfüllt.

Was soll der Junge werden? Jahrelang wird darüber gesprochen, immer von neuem die Frage erörtert und je näher der Tag der Entscheidung herantritt, desto mehr wird diese Frage zu einer Qual für alle. Was er werden soll, weiß kein Gott, nur eins wissen die Eltern:


Ein Handwerk soll der Bub' nicht treiben,

Denn dazu ist er viel zu gut;

Er kann so wunderlieblich schreiben,

Ist ein so feines junges Blut.

Nur ja kein Handwerk! Gott bewahre,

Das gilt ja heute nicht für fein.

Und wenn ich mir's vom Munde spare:

Er muß schon etwas »Beßres« sein. –

Das ist der wunde Punkt der Zeiten,

Ein jeder will aufs hohe Pferd,

Ein jeder will sich nobel kleiden,

Doch niemand seinen Schneider ehrt.

Der Hände Arbeit geht zu schanden,

Der Arbeitsbluse schämt man sich,

Das rächt sich noch in deutschen Landen,

Das rächt sich einmal bitterlich.

Das Handwerk hat noch gold'nen Boden,

Hält es nur mit dem Zeitgeist Schritt,

Folgt es den Künsten und den Moden,

Und bringt man Liebe zu ihm mit.

Wenn Bildung sich und Fleiß vermählen,

Und thut der Meister seine Pflicht,

Mögt ihr es zum Beruf erwählen,

Es ist das Schlechteste noch nicht.


Leider ist es mir nicht möglich, den Verfasser dieses Gedichtes, das irgendwo anonym erschien, anzugeben, aber er trifft mit seinen Worten sicher das rechte.

[841] 842. Die Furcht vor dem Handwerk. In jedem Haushalt wird wenigstens einmal am Tage über die schlechten Handwerker geklagt: Sie sind unzuverlässig, ungewandt in ihrer Arbeit, verstehen nichts von ihrem Fach und sind oft faul und unverschämt obendrein. Immer hört man die Klage: Es giebt heutzutage keine guten Handwerker mehr, aber niemand denkt daran, diesen ehrenwerten Stand dadurch wieder zu Ansehen zu bringen und ihm dadurch neue, frische Kräfte zuzuführen, daß er seinen eigenen Sohn ein Handwerk erlernen läßt. Bei den verkehrten Weltanschauungen, an denen wir leider in mancher Weise kranken, gilt das heutzutage beinahe für eine Schande, das ist nach Ansicht vieler noch schlimmer, als wenn der Sohn das Einjährige nicht bekommt. Als ob der Bengel davon stürbe, wenn er zwei Jahre diente, und als wenn es ein Flecken auf seiner Ehre wäre, wenn er, ohne die Einjährigen-Schnüre erhalten zu haben, durch das Leben ginge. Aber nein, das darf nicht sein.

[842] 843. Das Pressen unbefähigter Kinder. Mag der Junge noch so dumm sein, mag ihm das Lernen noch so schwer fallen, mag es den Eltern noch so sauer werden, sich das Geld für den teuren Schulbesuch ihres Einzigen zu ersparen, mögen alle Verständigen und Vernünftigen noch so viel davon abraten, ihn nicht länger mit den Wissenschaften plagen zu lassen, es ist alles vergebens, er muß das Einjährige haben. Geht es auf der Schule nicht, so wird er gepreßt. Auf einem Militärpädagogium werden ihm mit vieler List und Tücke die allernotwendigsten Kenntnisse eingetrichtert, und eines schönen Tages steigt er in das Examen und alle, die an seinem Schicksal beteiligt sind, drücken sich die Daumen ab, damit der Junge Glück hat. Ist das Glück ihm hold, so ist es ja gut, wenn nicht, so wird weiter gepreßt, denn kurz vor dem Ziel will man nicht innehalten, es kann und darf nichts unversucht bleiben. Und wenn er sehr, sehr viel Glück hat, besteht er endlich mit Ach und Krach die Prüfung. Die ganze Familie atmet erleichtert auf, ihre Ehre ist gerettet, der Sohn hat den Einjährigen bestanden, er hat etwas gelernt, er zählt jetzt mit zu den Gebildeten. Ach du lieber Himmel, als wenn alle Leute, die die Schnüre haben, gebildet wären! In meiner langen Dienstzeit als Offizier habe ich Einjährige ausbilden müssen, bei denen mir oft das alte Wort einfiel: »O Gott, wie groß ist dein Tiergarten!« und in Bezug auf ihre Manieren, auf das Deutsch, das sie sprachen, auf den Lebenswandel, den sie führten, wurden sie oft genug von gewöhnlichen Mannschaften, die zwei Jahr dienten, weit übertroffen.

[843] 844. Schattenseiten des Einjährigen-Dienstes. Es ist wirklich keine Schande, heutzutage länger als ein Jahr zu dienen und den Söhnen gebildeter Familien werden, wenn sie bei einem netten Truppenteil eintreten, etwa bei einem Jägerbataillon in einer kleinen Garnison oder bei einem Kavallerieregiment, alle möglichen Vergünstigungen gewährt. Sie brauchen häufig nicht mit in der Kaserne zu schlafen, sie dürfen auf eigene Kosten essen, sie werden als Schreiber im Bureau verwandt, und, wenn sie sich gut führen und sich nichts zu schulden kommen lassen, haben sie es so gut, wie sie sich nur immer wünschen können. Aber trotz alledem bleibt die Ansicht der Eltern und Vormünder stets dieselbe, und selbst kleine Handwerker, Schuster und Schneider, sind nicht glücklich, wenn ihr Junge nicht den Berechtigungsschein erhält. Hat er ihn aber später, so kommen während der Dienstzeit die großen Ausgaben, der Zuschuß für den Lebensunterhalt, und dann bedauert gar mancher, seinen Jungen nicht ruhig zwei Jahre haben dienen zu lassen. Das ist das eine, aber auch diese Medaille hat noch eine zweite Seite. Der Einjährige avanciert beim Militär nicht nur nach Maßgabe seiner geistigen Fähigkeiten, wenngleich diese selbstverständlich in erster Linie in Betracht kommen, sondern auch seine gesellschaftliche Bildung, seine Manieren und seine Herkunft werden berücksichtigt. Der Sohn eines hohen Beamten avanciert häufig mit Rücksicht auf die Stellung, die sein Vater bekleidet, während aus demselben Grunde unter Umständen der Sohn eines kleinen Handwerkers nicht befördert werden kann. Ist der letztere ehrgeizig, hat er das Bewußtsein, stets seine Pflicht gethan zu haben, so wird ihn die Zurücksetzung bitter kränken, er wird darunter leiden und seinen Eltern den Vorwurf nicht ersparen, ihn in eine Sphäre hineingedrängt zu haben, in die er nicht hinein paßte. Gar mancher junge Einjährige hat sich aus diesem Grunde schon das Leben genommen und gar mancher hat mir mit Thränen in den Augen gegenüber gestanden und mich beinahe auf den Knieen angefleht, doch bei den Beförderungsvorschlägen für ihn ein gutes Wort einlegen zu wollen. Die Ausbildung der Einjährigen der Reserve, Unteroffiziere und Offiziers-Aspiranten war viele Jahre hindurch beim Militär bei meinem alten Regiment meine besondere Aufgabe, und ich habe da oft Einblicke in die Seelen der jungen Leute gethan, die mich zu der obigen Warnung berechtigen.

[844] 845. Uebermäßige Strenge der Eltern. Es ist eine Eigentümlichkeit, daß gerade die Väter, die in ihrer Jugend selbst die schlechtesten Schüler waren, mit ihren Söhnen in Bezug auf das Lernen die allerstrengsten sind und daß sie sagen: »So faul wie ich damals war, soll mein Junge nicht werden«. Geht es nicht mit Liebe und nicht mit Güte, dann geht es mit Gewalt, und wozu giebt es Rohrstöcke auf der Welt, wenn sie nicht in Anwendung kommen sollen? Vor jedem Quartalschluß herrscht im Hause eine gewitterhafte Schwüle, die Wolken verziehen sich erst, wenn das Zeugnis gut war, hat es aber nur schlechte Nummern, so schlägt es gewaltig ein, und jeden Tag während der Ferien, die zur Erholung dienen sollen, muß der Herr Sohn antreten und fünfundzwanzig auf eine gewisse Körperstelle dankend in Empfang nehmen. Nicht immer unterscheiden die Eltern streng genug zwischen dem Nichtwollen und dem Nichtkönnen, zwischen dem faul und beschränkt sein, und sie vergessen, daß das Pensum, das die Knaben heutzutage lernen müssen, fast noch größer ist, als zu der Zeit, da sie selbst die Schulbank drückten.

[845] 846. Alte Schulzöpfe. Gar mancher alte Zopf ist ja glücklich abgeschafft, die lateinischen Aufsätze sind verschwunden und, dem Himmel sei Dank, auch die Uebersetzungen aus dem Griechischen in das Lateinische. Denke ich an die Stunden, in denen ich bei dieser wahnsinnig schweren und für das spätere Leben völlig nutzlosen Arbeit schwitzen mußte, so freue ich mich, daß die Tage vorüber sind, und danke dem Himmel, daß ich nicht mehr nötig habe, die Schulbank zu drücken. In dem Lehrplan der Gymnasien ist seit einigen Jahren bekanntlich eine Aenderung eingetreten, man fängt mit dem Lateinischen und Griechischen später an, aber alle, die nicht absichtlich blind sind, gestehen offen ein, daß diese sogenannte Erleichterung weiter nichts ist, als eine Erschwerung. Bei dem Schlußexamen wird im großen und ganzen dasselbe verlangt wie früher, nur ist die Zeit, in der das Pensum bewältigt werden muß, bedeutend verkürzt und die Jugend muß heutzutage noch mehr als sonst zu Hause bei den Schularbeiten sitzen, wenn sie dem Unterrichte in der Klasse mit Nutzen folgen will. Was das für die Gesundheit der Schüler bedeutet, kann sich jeder Verständige selbst sagen, und dies sollte dazu führen, in den Anforderungen, die man an seine Söhne stellt, nicht gar zu streng zu sein. Bleibt der Junge sitzen, so hat er doch selbst den allergrößten Schaden davon, denn dann ist er dazu verdammt und verurteilt, noch länger, als er es unbedingt nötig hätte, die schlechte Luft in den Schulstuben einzuatmen und sich Sachen eintrichtern zu lassen, die er später als unnötigen Ballast in einem weiten Bogen von sich werfen muß. Gewiß sollen die Eltern und Erzieher darauf achtgeben, daß ihre Kinder oder Schutzbefohlenen ihre Schuldigkeit thun, aber falsch und unverantwortlich ist es, für diese ehrgeizig zu sein und beispielsweise zu sagen: mit sechzehn Jahren spätestens muß der Junge sein Einjähriges und mit neunzehn spätestens das Abiturium haben. Sie verbittern dadurch sich und der Jugend das Leben und rauben dadurch ihnen das, woran jeder später mit der größten Freude und Dankbarkeit zurückblicken soll: die Kindheit und die glückliche Zeit im Elternhause.

Zuweilen glaubt man wirklich in einer verkehrten Welt zu leben. Hat ein Ehepaar keine Kinder, so jammert und stöhnt es, bis der Himmel sich endlich ihrer erbarmt und ihren Wunsch erfüllt, aber ist der Junge dann endlich da, dann ruhen die Eltern nicht eher, als bis er seine Examina bestanden, in die Welt gewandert und ihnen damit fast wieder entzogen ist, denn von dem Tage an, wo der Sohn das Elternhaus verläßt, um dieses nur noch besuchsweise wiederzusehen, ist er doch für die Eltern mehr oder weniger verloren, ohne daß er deshalb nötig hat, ein verlorener Sohn zu werden.

[846] 847. Neigung für einen bestimmten Beruf. Was soll der Junge werden? Eine schwere Frage, auf die es noch schwerer ist, eine Antwort zu geben. Hat der Junge für irgend etwas ausgesprochenes Talent, oder für irgend einen Beruf eine ausgesprochene Zuneigung, so müßten die Eltern, wenn es irgend in ihren Kräften steht, den Wunsch ihres Kindes erfüllen. Es mag ja sehr schwer für einen Kaufmann sein, der seine Firma aus kleinen Anfängen zu einem Welthause entwickelte, wenn keiner seiner Söhne auch nur die geringste Lust hat, Kaufmann zu werden, und wenn er sich sagen muß, daß nach seinem Tode das Geschäft in fremde Hände übergeht. Aber höher als die Erfüllung und Befriedigung aller persönlichen Wünsche müßte den Eltern das Glück ihrer Kinder stehen und niemals dürften sie diese zwingen, gegen ihren Willen einen Beruf zu ergreifen. Bedeutendes leistet nur derjenige, der den Stand, dem er angehört, achtet und liebt, der an seiner Thätigkeit Freude findet. Wer mit Unlust und Widerwillen, »der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe« an die Sache herangeht, wird als gewissenhafter Mensch zwar seine Pflicht erfüllen, aber sich nur in den seltensten Fällen über den Durchschnittsmenschen erheben. Und an den letzteren haben wir einen solchen Ueberfluß, daß es wirklich nicht nötig ist, ihre Schar noch zu vermehren.

[847] 848. Vorsicht bei der Berufswahl. Ich weiß nicht, welcher kluge Mann einmal das Wort sagte: »Es ist die größte Thorheit, die es giebt, daß man sich in seiner Jugend und nicht erst in seinem Alter für die Wahl eines Berufes entscheiden kann, denn derjenige, der da sagt, ich will dies oder jenes werden, hat in den allerwenigsten Fällen auch nur die leiseste Ahnung von den Pflichten und Lasten, die der Stand ihm auferlegt. Wer beispielsweise gern Jurist werden möchte, kann diese Frage der Wahrheit gemäß erst dann beantworten, wenn er jahrelang seinem Beruf angehörte und seine Licht- und Schattenseiten kennen gelernt hat. Die Erkenntnis kommt aber auch hier, wie fast überall, zu spät, und diejenigen Menschen, die in ihrem Beruf das fanden, was sie suchten, gehören zu den Ausnahmen.«

Das ist eine vielleicht etwas zu pessimistische Weltauffassung, aber sicher birgt sie einen wahren Kern, und nicht nur bei der Wahl der Gattin, sondern auch bei der Berufswahl gilt das Wort: »Drum prüfe, wer sich ewig bindet.« Hat man sich einmal entschieden, so ist es nachher sehr schwer, auf dem eingeschlagenen Wege umzukehren und einen anderen Pfad zu wandeln.

[848] 849. Einfluß der Eltern auf die Berufswahl. Mit ihren Erfahrungen und mit ihrem Rat sollen die Eltern und Vormünder den Söhnen zur Seite stehen, wenn es sich für diese darum handelt, für ihre Zukunft die Entscheidung zu treffen, aber sie sollen eben auch nur raten und nicht befehlen, und nicht einfach kategorisch entscheiden: »Dies wirst du und damit abgemacht.« Wenn der Vater als Gerichtsvollzieher glücklich ist, so braucht deshalb der Sohn in demselben Beruf nicht auch den Himmel auf Erden zu finden, und wenn der Vater Offizier ist, aber zu Hause den ganzen Tag über nichts anderes thut, als über den Dienst zu schimpfen, so wäre es vermessen, annehmen zu wollen, daß sein Herr Filius im bunten Rock viel glücklicher werden würde.

Es ist unrecht, seinen Sohn einen Beruf erwählen zu lassen, in dem man ihn nicht genügend finanziell bis zu dem Tage unterstützen kann, an dem er selbst so viel verdient, daß er seinen Lebensunterhalt zu bestreiten im stande ist. Die Ausrede: »Andere müssen sich auch einschränken und kommen auch mit Wenigem aus«, enthält ja gewiß eine Wahrheit, aber wir wollen doch, daß die Kinder glücklich werden und daß sie nicht nötig haben, vom ersten Tage an, fast hätte ich gesagt, mit Nahrungssorgen zu kämpfen.

Wenngleich es natürlich unmöglich ist, bei der Frage: Was soll der Junge werden? irgendwie einen positiven Rat zu geben, so sind die nachstehenden Angaben vielleicht doch im stande, dem einen oder anderen bei der Entscheidung dieser wichtigen Frage irgendwie von Nutzen zu sein.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 841-849.
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