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[135] Anfang Oktober verlautete, Preußen sei an Hamburg herangetreten, um es unter Hinweis auf den Ausfall der Reichstagswahl im zweiten Hamburger Wahlkreis zur Verhängung des kleinen Belagerungszustandes in Hamburg zu veranlassen, wobei Preußen gleichzeitig denselben über Altona, Ottensen, Wandsbek und Umgebung verhängen werde. Der Hamburger Senat habe aber das Ansinnen abgelehnt, er glaube ohne ein solches Gewaltmittel die öffentliche Ruhe und Sicherheit aufrechterhalten zu können. Wie vergleichsweise objektiv man damals in Hamburg sogar dem Wydener Kongreßbeschluß gegenüberstand, das Wort »gesetzlich« aus dem Programm zu streichen, zeigte eine Äußerung des offiziösen »Hamburger Korrespondent«: Die Sozialdemokratie habe mit diesem Beschluß nur den durch das Ausnahmegesetz auf sie gezogenen Wechsel akzeptiert.
War man also in Hamburg zunächst nicht geneigt, dem Drängen Preußens nachzugeben, so besagt das nicht, daß man gegen die Sozialdemokratie dort glimpflich verfuhr. Im Gegenteil, vom ersten Augenblick der Verkündigung des Ausnahmegesetzes an traten Polizei und Gerichte Hand in Hand arbeitend mit der größten Strenge und Rücksichtslosigkeit auf. Ein Prozeß jagte den anderen, und die Strafen waren die höchsten, die ausgesprochen werden konnten. Und als schließlich dennoch der Hamburger Senat dem Drängen Preußens erlag und am 24. Oktober den Kleinen verhängte, zeigte die Masse der Ausweisungen, daß die Hamburger Republik mit dem Polizeistaat Preußen in Konkurrenz treten konnte. Aus Hamburg wurden auf den ersten Hieb fünfundsiebzig Personen ausgewiesen, darunter siebenundsechzig Familienväter. Im Laufe der Jahre stieg die Zahl der aus Hamburg Ausgewiesenen auf über dreihundertfünfzig. Gleichzeitig mit Hamburg war der Kleine über Altona, Ottensen, Blankenese[135] und Wedel usw. einschließlich der Güter des Fürsten Bismarck und der Stadt Lauenburg verhängt worden. Im ganzen über ein Gebiet von über tausend Quadratkilometer.
Ausgewiesen wurden unter anderen Auer, den dieses Schicksal binnen einem Jahre zum zweitenmal traf, Blos, Dietz, Garve, Praast, die beiden Kapell usw. Nach einigen Monaten wurde auch die »Gerichtszeitung« wegen eines nichtssagenden Artikels über russische Zustände verboten, wodurch abermals eine Anzahl Existenzen vernichtet wurde und ein großer materieller Schaden entstand. Dietz, der bei Verhängung des Sozialistengesetzes die im Jahre 1876 gegründete Genossenschaftsdruckerei pro forma käuflich übernommen hatte, fiel jetzt das schwerste Stück Arbeit zu. Er sollte Arbeit und Mittel schaffen für die vielen Existenzlosen und mußte alle Anordnungen von Harburg aus treffen, wohin er sich mit einer Anzahl Ausgewiesener begeben hatte. Aber auch dort war ihres Bleibens nicht. Preußen erklärte nach einiger Zeit auch über Harburg den Kleinen und zwang die Hamburger Ausgewiesenen, sich zu zerstreuen. Dietz ging nach Stuttgart, woselbst er die in Leipzig unhaltbar gewordene Druckerei übernahm, die später mit der »Neuen Welt« nach Hamburg übersiedelte. Auer, der sich vergeblich nach einer Stellung umgesehen hatte, trat in das Geschäft seiner Schwiegermutter in Schwerin, dem er als ehemaliger Sattler und Tapezierer gute Dienste leisten konnte. Blos ging nach Bremen; die Mehrzahl der aus dem nördlichen Belagerungsgebiet Ausgewiesenen wanderte über den Großen Teich nach Nordamerika, darunter Molkenbuhr.
Für die Parteikasse, die eben anfing sich zu erholen, kam der Hamburg-Altonaer Schlag sehr ungelegen, doch sei zur Ehre der Hamburg-Altonaer Genossen gesagt, sie parierten die Schläge aus eigenen Kräften. Es waren nur tausend Mark, die sich Dietz eines Tages von mir für die Hamburger Ausgewiesenen erbat, und diesen Betrag haben die Hamburger Genossen während der Dauer des Sozialistengesetzes buchstäblich hundertfältig zurückbezahlt. Vom Jahre 1884 ab, wo ich in Plauen bei Dresden Wohnung genommen hatte, war die Hamburger Deputation, die alle paar Monate einmal spät abends bei mir einrückte, ein gern gesehener Gast; sie kam stets mit Mammon beladen an, und fünftausend Mark war das mindeste, was sie jedesmal der Kasse zuführte.
Überhaupt hatte der Hamburg-Altoner Schlag die entgegengesetzte Wirkung, die man oben erwartete. Eine leidenschaftliche Bewegung ging durch die Massen, und denen »oben« die Stirn zu bieten, koste es, was es[136] wolle, war die allgemeine Losung. Von jetzt an hörte allmählich die Geldklemme auf, Kanäle öffneten sich überall.
In Berlin hatte man gehofft, mit der Erneuerung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend ihn auch durch die sächsische Regierung über Leipzig und Umgegend verhängt zu sehen. Aber unsere Stunde war noch nicht gekommen.
Mitte November mußte Liebknecht seine sechsmonatige Gefängnisstrafe antreten, die er sich durch eine Rede in einer Versammlung in Chemnitz zugezogen hatte. Diese Haft war sehr unangenehm im Hinblick darauf, daß Vollmar die Redaktionsstelle im »Sozialdemokrat« zum 1. Januar gekündigt hatte. Er wollte nicht durch längeres Bleiben als Redakteuer sich die Stellung in Deutschland unmöglich machen, wie sich das für Motteler und Bernstein aus ihrer Tätigkeit ergab. Er wollte nicht auf eine aktive Rolle in der deutschen Politik verzichten.
Über, diese Vorgänge schrieb ich am 4. Dezember 1880 an Engels:
»Lieber Engels!
Wieder einmal habe ich auf eine Antwort recht lange warten lassen, dafür ist die Situation mittlerweile um so klarer geworden. Vollmar hat seinen Posten am Blatt gekündigt und will die Stelle am 1. Januar verlassen. Wir kamen also in die Lage, eine Neuwahl zu treffen, die am Mittwoch stattfand.
Hirsch ist zum Redakteur gewählt worden, jedoch zunächst provisorisch und erst nach Überwindung ziemlich starken Widerstandes. Dieser Widerstand richtete sich nicht – das muß ich ausdrücklich sagen – gegen ihn, weil man einen Systemwechsel befürchtete, sondern gegen gewisse Taktlosigkeiten, die Hirsch seinerzeit in der ›Laterne‹ beging, und gegen seinen Charakter, dem man Neigung zu persönlicher Rachsucht und Unverträglichkeit glaubte vorwerfen zu dürfen. Ferner hieß es: Hirsch sei ein Mensch, der keine Disziplin kenne und gern auf eigene Faust handle, so daß man fürchten müsse, sehr bald mit ihm in Konflikt zu kommen. Daß Hirsch noch in den letzten Tagen in einer Korrespondenz in der ›Züricher Post‹ einzelne in der Partei in der gröbsten Weise angegriffen, hatte die Stellung derjenigen nicht gebessert, die für Hirsch eintraten, und das waren eigentlich nur zwei (Liebknecht und ich).
Es wurde daher zur ersten Bedingung gemacht, daß Hirsch sich jedes Angriffs gegen innerhalb der Partei stehende Personen enthalten müsse, also speziell auch gegen Höchberg, und ich schließe mich dieser Ansicht an.[137] Ihr seid irre, wenn Ihr glaubt, daß innerhalb der Partei die Meinungen so übereinstimmend seien, dies werden Euch schon die Artikel von A. und D. gezeigt haben. Die Mehrzahl der Führer neigt mehr oder weniger nach jener Seite. Allein man fühlt sich auch nicht unfehlbar, und wenn daher eine scharfe, aber objektive Redaktion geführt wird, und wenn es namentlich Hirsch gelingt, einen Ton zu treffen, der den Massen zusagt und die Massen begeistert, dann ist Hirsch gewonnen.
Ich will mich hier auf weitere Auseinandersetzungen nicht einlassen. Hirsch hat selbst die Redaktion so scharf angegriffen, daß es jetzt an ihm ist, zu zeigen, daß er es besser machen kann. Führt er die Redaktion des ›Sozialdemokrat‹ so, wie er seinerzeit, als wir in der Hochverratsuntersuchung saßen, die Redaktion des ›Volksstaats‹ führte, dann hat er meine Zufriedenheit und Zustimmung.
Was unsere Stellung zu Höchberg usw. anlangt, so habe ich schon früher, wie ich glaube, geschrieben, daß Höchberg namhafte Opfer für das Blatt gebracht hat und noch bringt, daß er aber bisher sich in keiner Weise angemaßt hat, sich in die Redaktion zu mischen. In Rücksicht auf die bisher geübte Opferwilligkeit und das persönliche, höchst anständige Benehmen Höchbergs erwarten wir also, daß Hirsch sich jedes feindseligen Aktes gegen Höchberg enthält. Mag Höchberg immerhin kein Sozialist in unserem Sinne sein, so ist er ein durchaus anständiger Mensch, und es läßt sich mit ihm verkehren.
Daß Höchberg die Wahl Hirschs gerne sieht, ist nicht zu erwarten, und ich glaube, die größere Schuld ist in diesem Falle auf Seite Hirschs, er wird aber auch nicht dagegen opponieren, und wenn er opponierte, würde es ihm nichts helfen ...
Ich darf wohl annehmen, daß durch die Wahl Hirschs Euch zur Genüge gezeigt ist, daß fremder Einfluß bei dem Blatt nicht vorhanden ist.
Bei guter Redaktion dürfen wir hoffen, daß sich der Leserkreis in Kürze so steigert, daß das Blatt ohne Hilfe Dritter sich trägt und erhält, und dies wird wieder ganz wesentlich dadurch gefördert werden, daß Sie und Marx schriftstellerisch mit dafür eintreten. Ich darf wohl hoffen, daß Ihr nächster Brief die Zustimmung dazu enthält.
Für einstweilen sind wir noch dem Belagerungszustand entgangen, auf wie lange, das wissen die Götter. Einstweilen sind die Herren in den höchsten Regionen wieder einmal untereinander sich aufsässig, und das kann uns nichts schaden. Sehr gespannt bin ich auf die Motive Hamburgs für den[138] Belagerungszustand. Der arme Senat wird große Mühe haben, die wahren Gründe nicht merken zu lassen.
Beiliegendes bitte ich an Hirsch zu geben und noch einmal gründlich mit ihm zu sprechen.
Herzliche Grüße an Sie und Marx von Ihrem
August Bebel.«
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