Gute Lebensart im Familienverkehr.

[14] Wie aber haben die Eltern untereinander im Hause zu verkehren? Da gilt zunächst für den Hausherrn das Gebot, sich stets so zu halten, daß er jeden Augenblick mindestens einen guten Freund empfangen kann. Streng gegen sich, darf der Hausherr auch seinen Angehörigen gegenüber keine Vernachlässigung im Anzuge dulden. Niemand darf so gekleidet im Hause umhergehen, daß er vor einem plötzlich Eintretenden erst nötig hätte, zu verschwinden, um sich in eine andere Kleidung zu werfen. Die Hauskleidung sämtlicher Familienangehöriger sei bequem, aber auf alle Fälle so geordnet, daß sie sich untereinander und vor Fremden sehen lassen können.

An diese Regel knüpft sich als zweite: »Man übe sich gegenseitig in der Geduld!« Nur durch die Geduld ist ein völlig harmonisches Zusammenleben aller Beteiligten zu ermöglichen. Gegenseitige Rücksichtnahme müssen wir im Verkehr mit der Außenwelt stündlich üben, und diese darf im Familienverkehr ebenfalls nicht fehlen. Wenn jeder sich bemüht, dem anderen in seinem Betragen ein gutes Beispiel zu geben und dabei gleichzeitig Nachsicht mit den Schwächen anderer zu üben, so werden sich derartige Schwächen nicht nur leichter ertragen lassen, sondern sie werden am Ende auch ganz verschwinden.

Wer in Bezug auf Haltung, Anzug und Sprache im Hause sich grober Vernachlässigungen schuldig macht, wird, wenn er seine Umgebung stets in allen diesen Punkten sich[14] überlegen fühlt, sicher danach streben, jenen gleichzukommen, weil er fürchtet, in den Ruf eines ungebildeten Menschen zu kommen. Selbst das reichste Wissen, oder andere persönliche Vorzüge, sind nicht imstande, den Fluch der Lächerlichkeit von dem fernzuhalten, der auf sein Äußeres und auf seine ganze Haltung keinen Wert legt. Die peinlichste Beobachtung der Gesetze des Anstandes ist also auch im engsten Familienleben geboten, denn nur darauf gründet sich jenes wahrhaft vornehme Wesen, das einen um so wohltuenderen Eindruck macht, wenn es in bürgerlichen Kreisen angetroffen wird.

Die Eltern haben ferner im Verkehr mit den Schwiegereltern jeden Verstoß zu vermeiden; auch diese sind stets mit ausgesuchter Höflichkeit und Herzlichkeit zu behandeln.

Ebenso muß auch der Verkehr mit den Verwandten herzlich sein. Was Freunden gegenüber mit einer Karte abgemacht werden kann, erfordert bei Verwandten einen vertrauten, längeren Brief oder gar einen Besuch. Familienangelegenheiten erheischen eine viel eingehendere Berücksichtigung, als solche von Freunden.

Erwachsene Söhne dürfen im Familienzimmer und in Gegenwart der Eltern ohne Erlaubnis weder rauchen noch Karten spielen; auch die auszuführenden Arbeiten verrichte man nicht in diesem Raume.

Junge Mädchen mögen es vermeiden, müßig zu sitzen; eine leichte Handarbeit gereicht der Tochter stets zur Zierde, und die kann sogar bei Besuchen näherer Bekannter fortgesetzt werden, natürlich, ohne daß sie die Arbeitende derartig in Anspruch nimmt, daß sie die Anwesenden infolge dessen unbeachtet ließe oder ihnen nur eine oberslöchliche Beachtung schenkte. Wird das junge Mädchen angeredet, so muß es die Arbeit ruhen lassen. Bei Besuchen von Höherstehenden, ebenso während des Musizierens oder Deklamierens, verbietet sich diese Handarbeit von selbst. Daß keinesfalls dergleichen Handarbeiten im Strümpfestopfen oder Ausbessern von Wäsche bestehen dürfen – Arbeiten, die stets diskret und nie vor den Blicken anderer, nicht zur Familie gehöriger auszuführen sind – –, sei hier noch besonders erwähnt.[15]

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 14-16.
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