Laie und Arzt.

[137] Ähnlich wie der Schüler zum Lehrer, steht der Laie zum Arzt. Auch dem Arzte gegenüber, det, durch Kunst sowohl wie dutch seine selbstlose Hilfe und Hingabe, uns ein teures Glied der Familie am Leben erhalten hat, fühlen wir uns zu Danke verpflichtet, den wir nicht allein durch die Gebühren abtragen können. Letzteres wird in vielen Familien jährlich in einer bestimmten Summe gezahlt, das heißt es berechnet der Arzt nicht jeden Besuch einzeln. Er kommt auch nicht nur, wenn er gerufen wird, sondern er spricht öfter bei Gelegenheit vor, um sich von dem Gesundheitszustande seiner Schutzbefohlenen selbst zu überzeugen. Verreist er, so setzt er diese davon rechtzeitig in Kenntnis,[137] empfiehlt ihnen auch für etwa während seiner Abwesenheit eintretende Krankheitsfälle einen anderen Arzt als Ersatz. Diesen entschädigt der Hausarzt aus seinen Mitteln; nur wenn ernstere Krankheiten den Ersatzarzt ungewöhnlich in Anspruch nehmen, bittet man auch diesen um seine Rechnung, wenn man nicht vorzieht, ihm unverlangt einen angemessenen Betrag zu übersenden. Ein derartiger Zwischenfall befreit uns aber nicht davon, am Jahresschluß dem Hausarzt die volle Gebühr zu senden. Man fügt seine Karte bei, auf die man einige herzliche Worte des Dankes schreibt. Macht im Laufe der nächsten Tage der Arzt uns unverlangt seinen Besuch, so gilt das gewissermaßen als Quittung.

Hat man Veranlassung, dem Arzt für außergewöhnliche Dienste sich besonders erkenntlich zu zeigen, so erhöht man für das laufende Jahr die Gebühr, ohne sich deshalb verpflichtet zu halten, den höheren Satz auch ferner beizubehalten. Sendet ein mit irdischen Schätzen ohnehin schon gesegneter Hausarzt eine ausnahmsweise gewährte Sondergebühr zurück, so ist das keine Beleidigung, namentlich Familien gegenüber, die nicht zu den wohlhabenden gehören und denen der höhere Betrag schwer fällt, die aber dennoch ihrer Verpflichtungen gegen den treuen Helfer in der Not eingedenk blieben.

Nimmt man die Hilfe des Arztes nur in eintretenden Krankheitsfällen in Anspruch, so werden die einzelnen Besuche bezahlt. Entweder sendet dann der Arzt eine Rechnung, oder man schickt ihm die Gebühr nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse, die drei bis fünf Mark für jeden einfachen Besuch beträgt. Besuche bei Nacht, sowie Operationen sind natürlich teurer.

In ernsten Fällen zieht der behandelnde Arzt zuweilen, zur Beruhigung der Umgebung des Kranken, einen Fachgenossen, der Spezialarzt ist, hinzu. Wünscht aber die Familie ihrerseits Hinzuziehung eines zweiten Arztes, so darf sie das nur in Form eines Vorschlags dem behandelnden Arzte sagen; meist wird letzterer auch dazu bereit sein.

Jeder Arzt hat seine Sprechstunde, in der er die Besuche seiner Kranken annimmt. Wer ärztliche Hilfe während der Sprechstunde sucht, muß dafür auch sofort bezahlen. Ist[138] der betreffende Arzt eine Berühmtheit, so ist die Gebühr auch entsprechend höher.

In der Sprechstunde hört Rang und Unterschied auf; in der gleichen Reihenfolge, in der sie anlangten, betreten die Hilfesuchenden das Zimmer des Arztes, nachdem sie vorher im Wartezimmer so lange sich aufgehalten haben, bis die Reihe an sie kommt. Es ist höchst ungehörig, nicht warten zu wollen und vor früher Gekommenen den Zutritt zu verlangen; ist man aber endlich vorgelassen, so gebietet es die Rücksicht auf die kärglich bemessene Zeit des Arztes wie auf die noch Wartenden, sich kurz zu fassen und nur Sachliches zur Besprechung zu bringen, selbst, wenn man mit dem Arzte bekannt sein sollte.

Hat der Arzt seinen Besuch in der Familie gemacht und mußte er den Kranken anfassen, so bietet man ihm vor dem Weggehen ein Waschbecken mit reinem Wasser und frischem Tuch dar, um seine Hände zu waschen.

Begegnet man einem Arzte in der Gesellschaft, so darf man, selbst wenn man zur Zeit sich in seiner Behandlung befindet, mit ihm sich nicht über Krankheitsfälle unterhalten; man meide alles Geschäftliche, denn der Arzt will nichts mehr von ›Krankheiten‹ hören, wenn er sein anstrengendes Tagewerk hinter sich hat. – –[139]

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 137-140.
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