Die persönliche Vorstellung im gesellschaftlichen Leben.

[52] Sobald ein Verkehr mehrerer Menschen aus dem Rahmen des Zufälligen oder Geschäftlichen in den Rahmen des Gesellschaftlichen tritt, ist die persönliche Vorstellung notwendig, da auf deren Grund erst das gesellschaftliche Verhältnis geschaffen wird.

Eine Beachtung dieser Form wird besonders streng in Norddeutschland gefordert, zumal in den Kreisen der Offiziere und Beamten; in Süddeutschland und Österreich nimmt man es darin weniger genau und es sind dort mehr gesellschaftliche Freiheiten eingeräumt. In Norddeutschland beginnt erst mit der Vorstellung der Neueingeführte[52] für die Gesellschaft vorhanden zu sein; wer diese Vorstellung unterlassen wollte, würde als gesellschaftlich nicht vorhanden betrachtet werden. Erst nach erfolgter Vorstellung, durch die also die Bekanntschaft vermittelt wurde, steht es im Belieben des anderen, die betreffende Persönlichkeit nicht nur zu grüßen, sondern sie auch anzureden oder gegebenenfalls zu besuchen.

Bei der Vorstellung gelten folgende Regeln:

Die Damen lassen sich die Herren vorstellen, ausgenommen fürstliche Personen, hohe Geistliche und höchste Staatsbeamte, ferner Herren, die sich durch ihr hohes Alter ehrwürdig machen. Den zuletzt genannten Personen sind Damen wie Herren stets vorzustellen.

Ausgenommen die vorstehend genannten Fälle, ist es stets der jüngere oder im Range tiefer stehende Herr, der vorgestellt wird oder sich vorstellen läßt. Bei Damen, die sich untereinander vorstellen, ist das gleiche Verhältnis maßgebend.

Der Name des Vorgestellten wird zuerst genannt. Ist der, dem die betreffende Persönlichkeit vorgestellt werden soll, im Range bedeutend höher stehend oder bedeutend älter, so wird der Name allein, ohne den Titel, genannt. Nach jeder Vorstellung haben beide Personen sich voreinander zu verbeugen. Über das mehr oder weniger ist näheres im Kapitel ›Vom Grüßen‹ gesagt.

Will der Angekommene sich in einer Gesellschaft vorstellen lassen, so wendet er sich an einen seiner Bekannten, etwa mit den Worten: »Würden Sie wohl so freundlich sein, mich Herrn (Frau) N. N. vorzustellen?« Der also zum Vermittler angerufene entledigt sich seines Auftrages etwa in folgender Weise: »Darf ich mir erlauben, (meinen Vetter – Herrn N. N.) vorzustellen?« Oder: »Herr N. N. wünscht Ihnen vorgestellt zu werden«, oder er besorgt die Vorstellung ohne jede Einleitung, indem er mit einer leichten Handbewegung die jüngere, beziehungsweise im Rang niedriger stehende Person bezeichnet und zugleich deren Namen nennt, dann mit gleicher Handbewegung auf die andere Persönlichkeit deutet und ebenfalls deren Namen nennt. Dabei sei nur hervorgehoben, wie nötig es ist, daß die Namen und[53] Titel der Vorgestellten recht deutlich ausgesprochen werden, damit Verwechslungen und Mißverständnisse vermieden werden.

Hat der Vermittler die Unterhaltung der beiden Parteien durch einige Worte eingeleitet, so zieht er sich zurück und läßt sie allein.

Wird jemand mehreren Personen vorgestellt, so wird zuerst sein Name genannt, dann folgen die Namen sämtlicher Anwesenden der Reihe nach; nur beginne man mit der ältesten oder höchstgestellten Person.

Es gibt aber auch Fälle, wo die Vorstellung einseitig bleibt. Wenn ein junger Mann zum Beispiel sich einem durch Rang oder Titel ausgezeichneten Herrn vorstellen läßt, so wird nur der Name des ersteren vom Vermittler genannt und es lautet dann die Formel etwa folgendermaßen: »Herr Regierungsrat! Der Herr Referendar N. N. bittet um die Ehre, Ihnen vorgestellt zu werden!« Der Name des älteren Herrn wird in solchem Falle nicht genannt, weil vorausgesetzt ist, daß der Vorzustellende ihn bereits kennt. –

Auch bei Damen ist die Sitte ähnlich. Ganz junge Mädchen werden vorgestellt, ohne daß ihnen der Name der älteren oder vornehmen Dame noch besonders genannt wird. Ebenfalls wird bei Vorstellung Untergebener mit Leuten von höherer Lebensstellung ähnlich verfahren. Wenn die Dame oder der Herr des Hauses euer Gesellschaft die Erzieherin oder den Erzieher der Kinder vorstellt, so wird einfach, mit der Hand auf die vorzustellende Person deutend, gesagt: »Fräulein (Herr) N., unsere Erzieherin (unser Hauslehrer).«

Es kommt leider auch vor, daß bei svlchen Vorstellungen der Name weggelassen und einfach gesagt wird: »Unsere Erzieherin« oder »Unser Hauslehret«. Das ist aber eine Rücksichtslosigkeit und unverdiente Herabsetzung der vorzustellenden Person, und ein derartiges Verfahren deutet auf Unbildung und Hochmut der Vorstellenden.

Es ist auch gestattet, als Herr sich auf Bällen Damen selbst vorzustellen. In solchem Falle nennt die Dame ihren Namen nicht, da sie ja voraussetzen kann, daß der Herr, der ihre Bekanntschaft sucht, weiß, wer sie ist, und weil die[54] Dame, sei der Herr auch noch so hochgestellt, stets als gleiche berechtigt in der Gesellschaft gilt. –

Eine beabsichtigte Vorstellung vereiteln zu wollen, gilt als eine der größten gesellschaftlichen Unhöflichkeiten, weil ja jener, der die Vorstellung wünscht, dem anderen eine Aufmerksamkeit erweisen will. Wer sich einem anderen vorstellt, begeht in keinem Falle einen Verstoß gegen die gute Lebensart; wohl kann aber dies der Fall sein bei Unterlassung einer Vorstellung.

Denn selbst auf Reisen, bei längerem Beisammensein im Eisenbahnwagen ist es, wenn man mit einem Mitreisenden in eine belebtere Unterhaltung gekommen ist, geraten, sich vorzustellen, indem man an geeigneter Stelle etwa folgende Worte einschaltet: »Übrigens erlauben Sie mir, daß ich mich vorstelle; mein Name ist N.«, freilich kann es bei solcher Gelegenheit vorkommen, daß der andere sein Inkognito selbst jetzt noch nicht lüftet. Das ist aber kein Verstoß; denn es kann jemand auf der Reise gewichtige Gründe dafür haben, unerkannt bleiben zu wollen. Auch Damen sind nicht verpflichtet, gelegentlich sich so vorstellenden Mitreisenden ihren Namen zu nennen.

Tritt in einem Gasthaus oder in einem anderen öffentlichen Lokal ein Fremder an einen besetzten Tisch, um eine ihm bekannte Person zu begrüßen und will der Ankömmling sich der Gesellschaft hinzugesellen, so ist es Pflicht dessen, der ihn kennt, auch die übrigen Anwesenden mit ihm bekannt zu machen, indem er zuerst den Namen des Hinzugekommenen nennt und dann der Reihe nach die Namen der übrigen Anwesenden. Unwillkürlich fassen wir den, der sich uns vorstellt oder vorstellen läßt, sogleich schärfer ins Auge; wir bilden uns ein Urteil über ihn auf Grund seines Auftretens, seiner Haltung, seines Benehmens.

Zwar kann dieses Urteil nie endgültig sein, denn wie oft erlebt man es, daß herzensgute, kluge und tüchtige Männer sich linkisch und ungeschickt benehmen, während Leute mit schlechten Eigenschaften uns fürs erste durch ihr sicheres, wohlberechnetes Auftreten täuschen. Einen Menschen von ›guter Haltung‹ hält ein jeder, dem ersten Eindruck nachgebend, für ein würdiges Mitglied der guten Gesellschaft,[55] dessen Umgang man sich gefallen lassen kann, weil man weiß, daß sich die moralischen Eigenschaften des Menschen in seiner Haltung, seinem Benehmen auszudrücken pflegen.

Deshalb ist es Sache dieses Werkchens, dem Leser das zu sagen, was als gute Haltung im gesellschaftlichen Leben gilt, oder vielmehr: der Leser soll das erfahren, was bei Leuten von guter Haltung nie vorkommen wird.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 52-56.
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