Höflichkeit als Grundlage des geselligen Verkehrs.

[50] Die Grundbedingung für den angenehmen Verkehr mit der Gesellschaft ist Höflichkeit.

»Dem Unhöflichen bleibt das letzte Wort, dem Höflichen der Sieg,« so lautet ein anderes, ebenso wahres Sprichwort, und ein französischer Schriftsteller sagte: »Man muß schon eine große Anzahl anderer guter Eigenschaften besitzen, um den Mangel an Höflichkeit zu ersetzen.« –

Unhöflichkeit, die sich in einer das Gefühlsleben der Mitmenschen verletzenden Ungebührlichkeit äußert, ist stets ein Zeichen von Herzensroheit, deren sich niemand schuldig machen sollte. Es gibt nämlich auch Unterschiede in der Unhöflichkeit. Wenn wir beispielsweise vielleicht eine etwas allzuschroffe Abweisung vernehmen, die ein vielbeschäftigter Arzt infolge wunderlicher Zumutungen eines eingebildeten Kranken diesem zuteil werden ließ, so werden wir sicher nicht diese Unhöflichkeit gutheißen, aber wir werden[50] das Verletzende nicht so empfinden, dem Übeltäter das Vergehen nicht nachtragen.

Höflichkeit ist also das äußere Zeichen schicklichen Verhaltens, und sie umschließt alle guten Eigenschaften, derer wir nicht entbehren können, wenn wir uns unseren Mitmenschen angenehm machen wollen. Höflichkeit ist nie einzig und allein angeboren; sie ist zumeist Sache der Erziehung und Gewöhnung. Je früher also der Mensch daran gewöhnt wird, um so besser für ihn, denn was in der Jugend nicht geübt wird, erlernt sich später viel schwerer. Ohne Höflichkeit ist keine dauernde Verbindung mit unseresgleichen möglich, denn nur sie zwingt die erregten Gemüter zur Ruhe, erstickt Streitigkeiten im Keime und umkleidet überhaupt alle Handlungen oder Reden mit einer wohltuenden Milde. Höflichkeit macht jeden liebenswürdig und angenehm und entwaffnet den, der uns schroff gegenübertritt; Höflichkeit siegt immer! Ist Höflichkeit mit natürlicher Herzlichkeit verbunden, so entsteht daraus jene bezaubernde Liebenswürdigkeit, die auf jedermann beim ersten Begegnen einen so vorteilhaften Eindruck macht.

Höflichkeit gegen Untergebene sollte nie vermißt werden, denn in diesem Falle ist sie stets das sicherste Zeichen geistiger Überlegenheit. Überdies begründet sich nur auf dieser Höflichkeit jene Liebe und Achtung, die des Vorgesetzten größter Stolz in seinem Wirkungskreise sein müssen.

Aber auch in Fällen, wo wir unangenehme Empfindungen vor anderen verbergen wollen oder unangenehme Dinge von uns abzuwehren genötigt sind, kommen wir mit Höflichkeit viel besser zum Ziel, ohne daß wir den andern damit verletzen.

Hüten muß man sich aber vor übertriebener, kriechender Höflichkeit, die nichts weiter ist, als Heuchelei. Wenn beispielsweise der Spanier dem Fremden sein Haus mit allem, was es enthält, zu Gebote stellt – und er bedient sich in der Tat gewohnheitsmäßig solcher Redensarten – so würde man, wollte man das einmal ernst nehmen, eine gründliche Enttäuschung erfahren. Deshalb gilt bei uns der Satz: »Wer klug ist, mißtraut den Superlativen!«, das heißt denjenigen Menschen, die ihre Dienstbereitschaft oder Ergebenheit[51] in überschwenglicher Weise zu erkennen geben und allzuviel Komplimente machen.

In höflicher Form freimütig seine Meinung äußern, ist eine große Kunst. Gar viele glauben sie nicht üben zu sollen und geben deshalb ihre Urteile in einer erkünstelten Freimütigkeit wieder, hinter der sich, dem Auge des geübten Beobachters unschwer erkenntlich, unlautere Ursachen, Neid und Bosheit, verbergen. –

Überhaupt sei man im Urteil über Personen sehr zurückhaltend zumal wenn man einen Tadel ausspricht. Denn jedes Urteil über Menschen ist selbstsüchtig, weil wir andere nur nach dem Maßstabe beurteilen, den wir an uns selbst legen. Das bekannte Sprichwort vom Splitter im Auge des andern ist in dieser Beziehung sehr lehrreich! –

Alles in allem: eine Schmeichelei, ein Lob zur rechten Zeit in rechter Form ausgesprochen, bereitet stets Vergnügen, denn die Eigenliebe anderer ist der unsrigen gleich. Aber Lobhudeleien und plumpe Schmeicheleien können nur auf ungebildete Menschen wirken; andere erbl chen darin mindestens eine verletzende Spöttelei. –

Diese Erläuterungen allgemeiner Natur vorausgeschickt, wollen wir nun das im besonderen ins Auge fassen, was von Personen, die ihren Eintritt in das gesellschaftliche Leben und in dessen Verhältnisse bewerkstelligen wollen, zu beachten ist.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 50-52.
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