Verhalten bei Abstattung eines Besuches.

[72] Wie der oberflächliche persönliche Verkehr, die Bekanntschaft, durch die gegenseitige Vorstellung eingeleitet wird, so ist die Grundlage alles vertrauteren Verkehrs, aller engeren Beziehungen der Besuch. Auch für Besuche gibt es gewisse, feststehende Regeln, deren genaue Kenntnis und Befolgung jeden davor bewahrt, Anstoß zu erregen, und die wir daher nachstehend erläutern.

Zunächst hat jeder selbst zu beurteilen, ob ihm ein Besuch nicht als Zudringlichkeit ausgelegt wird, oder ob ein unterlassener Besuch ihm als Unhöflichkeit angerechnet werden könnte. Glaubt man aber zu einem Besuche berechtigt oder verpflichtet zu sein, so erforsche man zunächst die Zeit, um die der Besuch am gelegensten kommen dürfte. In Ländern mit einer für alle Gesellschaftsklassen feststehenden Tischzeit, also zum Beispiel in England oder Frankreich, ist auch die Besuchszeit feststehend. Bei uns in Deutschland wird aber in der einen Familie um 4 Uhr, in der anderen um 2 Uhr, in einer dritten um 1 Uhr oder um 12 Uhr gespeist und deshalb sind vorherige Erkundigungen nötig. Als Regel mag gelten: man mache den Besuch etwa eine Stunde vor der Tischzeit.

Haben Leute, denen wir einen Besuch machen wollen, feststehende Empfangstage, so erfordert es die gute Lebensart, nur an solchen Tagen zu kommen – ausgenommen, es handelte sich um einen geschäftlichen Besuch. Diesen aber haben wir hier nicht im Auge; wir haben uns in diesem[72] Buche nur mit den gesellschaftlichen Besuchen zu beschäftigen, und unter diesen wiederum zunächst mit dem Antrittsbesuch, dem ersten Schritt zur Anbahnung eines gesellschaftlichen Verkehrs mit einer einzelnen Familie oder mit einem bestimmten Gesellschaftskreise. Deshalb sind Antrittsbesuche ebenso notwendig für das junge Mädchen, das nach erfolgter Konfirmation in Begleitung ihrer Mutter in die gesellschaftlichen Kreise tritt, wie für den jungen Mann, der die erste feste Stellung erlangt hat und jetzt als selbständiger Herr auftreten will, oder für das junge Ehepaar, das vom neuen Heim aus Anknüpfungen für den geselligen Verkehr mit anderen Familien sucht. Antrittsbesuche macht aber auch der Beamte, der in eine andere Stadt versetzt worden ist.

Durch den Antrittsbesuch gibt jeder, wie bereits gesagt, seine Absicht zu verstehen, gesellschaftliche Beziehungen anzuknüpfen; unterläßt man den Besuch, so gibt man daducch seinen Willen kund, den gesellschaftlichen Verkehr zu beschränken und derlei Unterlassungen sind durchaus nicht als Unart zu bezeichnen, höchstens als Unliebenswürdigkeit. Dagegen sind Antrittsbesuche in dienstlichen Verhältnissen Pflichtbesuche, die unter keinen Umständen unterbleiben dürfen.

Macht man in einem Hause Besuch, so hat man deutlich zu melden, wem der Besuch gilt: dem Herrn des Hauses, oder der Frau, oder beiden, oder einem anderen Familiengliede. Werden wir also beim ersten Empfang durch den Diener oder einen Dienstboten nach dem Zweck unseres Besuches gefragt, so nennen wir deutlich unseren Namen mit dem Hinzufügen, wem der Besuch beabsichtigt ist, und übergeben dem Diener unsere Besuchskarte.

Werden wir nun gemeldet – aber nicht angenommen, so ist das ein Fingerzeig für uns, den Besuch ohne besondere Aufforderung nicht zu wiederholen. Liegt uns daran, ein besonderes Anliegen vorzubringen, so müssen wir in solchem Falle den schriftlichen Weg wählen. Werden wir aber angenommen, so haben wir Überzieher, Überschuhe, Schirm oder Stock im Vorzimmer oder Korridor zu lassen, den Hut aber mitzunehmen, denn in guter Gesellschaft erscheint man stets mit dem Hut in der Hand. Wird man aber[73] aufgefordert, den Hut abzulegen, so setze man ihn nicht auf den Tisch vor sich, sondern neben sich auf den Fußboden oder unter den Stuhl.

Die Dame des Hauses empfängt den Besuch, indem sie ihren Platz auf dem Sofa verläßt, einige Worte des Willkommens spricht und dann den Herrn beziehungsweise den Besuch zum Niederlassen einladet. Ein Herr hat hierbei zu beachten, daß er sich niemals auf das Sofa setzen darf, sondern auf den zunächst stehenden Stuhl oder Sessel. Ist es der erste Besuch, den er in diesem Hause macht, so hat er für die ihm gütigst erteilte Erlaubnis seinen Dank auszusprechen. Sache des Empfängers ist es dann, beim Abschiednehmen um die Fortsetzung der Besuche zu bitten. Aus dieser Einladung wird der Besuchende am besten zu erkennen vermögen, ob er willkommen war. Der Besuch läßt selbstverständlich den Stuhl, auf dem er gesessen, an dem Platz stehen, den er gerade inne hatte.

Es ist unfein, sich wegen eines Besuches zu entschuldigen; aber es ist ebenso unfein, sich wegen eines Besuches zu bedanken. Auch vermeide man Redensarten, aus denen zu entnehmen ist, daß man nur zufällig gekommen.

Treffen wir die, denen unser Besuch zugedacht war, nicht zu Hause, so haben wir unsere Karte abzugeben, anderenfalls gilt der Besuch als nicht gemacht. Besuchskarten spielen also bei Besuchen eine wichtige Rolle und jeder gebildete Mann, jede Dame, muß damit versehen sein. Denn wie es beim Besuch nötig ist, dem uns empfangenden zur Vermeidung von Mißverständnissen neben deutlicher Nennung unseres Namens auch noch unsere Karte zu geben, ebenso mißlich ist es dem, dem der Besuch zugedacht war, wenn er keine Karte vorfindet und nicht weiß, wer die Absicht gehabt hat, ihn zu besuchen.

Zu Besuchen sind wir auch verpflichtet, wenn jemand uns einen wesentlichen Dienst erwiesen hat. Hier fällt natürlich, was bei Antrittsbesuchen in der Regel erfolgt, der Gegenbesuch fort. Unterbleibt aber der Gegenbesuch auf Antrittsbesuche, so mag dies als ein Zeichen gelten, daß man unseren näheren Umgang aus irgendwelchem Grunde nicht wünscht, wenn nicht irgend eine darauf folgende Einladung oder irgend ein Dienst, eine Gefälligkeit[74] oder Empfehlung, namentlich seitens Höhergestellter, uns erkennen lassen, daß der Zweck unseres Besuches gewürdigt wurde.

Damen sind Herren gegenüber zu Gegenbesuchen nicht verpflichtet.

In vielen Städten ist es üblich, beim Einzug in eine neue Wohnung den übrigen Mitbewohnern des Stockes oder des ganzen Hauses Besuche zu machen; dieser Brauch ist indessen in Großstädten nicht üblich.

Allgemein ist zu beachten, daß an hohen Festtagen und am Bußtag oder Totensonntag keine Besuche gemacht werden.

Macht man Besuche bei Familien, mit denen man bereits näher bekannt oder befreundet ist, so kann man auch eine andere Tageszeit, als die oben angegebene wählen. Herren nehmen es in diesem Punkte untereinander überhaupt nicht so genau, und Damen machen in solchen Fällen ihre Besuche oft des Nachmittags ab.

Es kann auch vorkommen, daß jemand infolge einer besonderen Empfehlung oder auf Grund freundlicher Zuvorkommenheit eine Einladung in eine Familie erhält, in der er bisher noch keinen Besuch machte. In solchem Falle ist der Besuch in den nächsten Tagen nachzuholen.

Damen, zumal junge, machen Herren nur Besuche in Geschäftsangelegenheiten, und selbst dann ist die Begleitung einer anderen Dame zu empfehlen, wenn es sich nicht um besondere Geheimnisse handelt. (Rechtsanwalt, Arzt usw.)

Ein junger Mann muß bei Wiederholung seiner Besuche in Familien, wo erwachsene Töchter vorhanden sind, vorsichtig sein, falls er keine ernsten Freiergedanken hegt, weil er sonst die jungen Damen ins Gerede der Leute bringen kann. Wird er aber in einem solchen Hause zu einem Balle oder irgend einer anderen Festlichkeit geladen, so ist er verpflichtet, oder mindestens berechtigt, vor und nach der Festlichkeit den Eltern seinen Besuch zu machen, natürlich ohne Hintergedanken, als ob man auf ihn als Schwiegersohn rechne; und er möge nur immer annehmen, daß man seiner als flotten Tänzers und angenehmen Gesellschafters bedurfte. Hat er aber ernste Absichten, so ist es seine Pflicht,[75] diese so bald wie möglich den Eltern der jungen Dame zu eröffnen, worauf er dann erfahren wird, ob man gewillt ist, ihm die Annäherung an die Familie zu gestatten.

Es gibt aber, wie wir bereits an anderer Stelle wiederholt bemerkten, noch weitere Gründe für Besuche. Man wird diese unter den betreffenden Kapiteln (Trauerfall, Verlobung usw.) ausführlich hervorgehoben finden und wir brauchen hier nicht mehr darauf zurückzukommen.

Die bei Besuchen anzulegende Kleidung muß stets sorgfältig gewählt sein. Die Herren haben bei Vorgesetzten im Frack, andernfalls im schwarzen Gehrock, mit hohem Hut, halbhellen Handschuhen und in tadelloser Wäsche zu erscheinen. Erscheint man im Frack und geht zu Fuß, so trägt man über dem Frack den schützenden Überrock, der im Vorzimmer abzulegen ist.

Die Dame betritt das Besuchszimmer in voller Straßenkleidung, also in Hut und Mantel, es sei denn, sie wird zum Ablegen aufgefordert.

Bei schlechtem Wetter vermeidet man Besuche, wenn es irgend angeht; andernfalls muß man sich so einrichten, daß man stets sauber und tadellos ins Zimmer tritt.

Die Dame, die den Besuch macht, nimmt den Ehrenplatz auf dem Sofa ein und die Dame des Hauses setzt sich ihr zur linken Hand, während jüngere Damen auf Stühlen sich niederlassen.

Der erste Besuch darf zehn, höchstens fünfzehn Minuten währen, und man empfiehlt sich dann mit einer eleganten Verbeugung, die man zu wiederholen hat, wenn der Besiühle uns bis zur Tür oder Treppe geleitet. Bei späteren, wiederholten Besuchen ist es gestattet, länger zu verweilen und auch die Unterhaltung abwechslungsreicher zu führen.

Es kann vorkommen, daß, während wir zu Besuch uns befinden, ein neuer Besuch sich einstellt. Dann warte man, nach dem Eintreten des letzteren, einige Minuten, und gehe dann erst; jedenfalls aber muß man sich eher entfernen, als die neuen Ankömmlinge, weil es ja sein kann, daß diese dem Wirt oder der Wirtin etwas mitteilen wollen, was wir nicht hören sollen. Anderenfalls muß erst die Aufforderung seitens des Besuchten zum längeren Verweilen an uns erfolgen.[76]

Ist man verhindert, Besuche zu empfangen, weil man selbst welche machen oder einer Einladung Folge leisten muß, so gebe man dem Dienstpersonal rechtzeitig die nötigen Anweisungen, und lasse mit einigen höflichen bedauernden Worten den Besuch zum Wiederkommen auffordern.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 72-77.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon