11. Wie ich von Voigtsberg weg kam.

[106] Weihnachten war vorüber. Ein trauriges, freudloses Fest war es für mich gewesen. Es hatte mir vermehrte Arbeit gebracht, aber nicht einmal die Möglichkeit zu einem festlichen Kirchgange, worüber ich bitter weinte. Meine Seele dürstete nach diesem Trost. Von den Eltern war kein Brief, kein Liebeszeichen gekommen, ich fühlte mich durchaus vergessen.

Eines Tages wurde in der dunklen, geschwärzten Küche wieder Branntwein gebrannt, und ich schleppte[106] mühsam die großen Holzscheite aus der Scheune herbei. Ich zitterte vor Kälte, denn ein heftiges Schneegestöber fegte über den Hof. Das dünne Röckchen flog mir über den Kopf, als sei es aus Papier gemacht. Bei dem Bemühen, dem Sturm den Rücken zu kehren, sah ich einen Mann in den Hof einbiegen. Er hatte eine große Pelzmütze mit stattlichen Ohrenklappen auf, und seine Hände staken in mächtigen Fausthandschuhen. Was mochte der bei dem Unwetter hier wollen? Ich kannte ihn gut, es war ein Siebenlehner. Ich nickte ihm flüchtig zu, er blieb stehen und winkte heftig mit beiden Händen, so daß ich wohl zu ihm mußte. Er schrie mir etwas zu, der Sturm trug aber seine Worte ungehört davon. Da er mir scheinbar etwas zu sagen hatte, so deutete ich auf die Scheune. Was konnte der Mann nur von mir wollen?!

Ich packte die Scheite in den Korb und sagte: »Was wollt Ihr doch bei dem Wetter in Voigtsberg?«

»Ja,« sagte er pustend und schnaubend, »setz dich mal da auf das Bund Stroh, so schnell kann ich nicht damit zurecht kommen.«

Er zog umständlich die Handschuhe aus, knöpfte den dick gefütterten Überrock auf, langte in eine der Innentaschen und klapperte mit Geld.

Gespannt, sprachlos sah ich seinem Tun zu. Die Hand kam gefüllt aus der Tasche zurück, und nun legte er umständlich einen, noch einen – bis sechs zählte ich, ja sechs harte Taler in meinen Schoß.

»Wo kommt denn das schrecklich viele Geld her?!« stotterte ich.

»Wart doch,« sagte er, und holte aus einer anderen Tasche ein zierliches Päckchen.

Als ich das Seidenpapier entfaltete, lag ein funkelnagelneues Portemonnaie neben den sechs harten Talern.[107]

»Noch mehr?« sagte ich, als er wieder mit der Hand unbeholfen in die Tiefe einer Tasche fuhr.

»Ja, noch mehr,« sagte er lachend, »hier ist der Brief dazu. Das war wohl eigentlich zu Weihnachten gemeint, aber da hatte ich grade so viel zu tun, da konnte ich nicht gut fort. Eine schöne Bescherung, was? Ein bißchen kalt und zugig hier, geh doch hin über in die Wärme. Und ja, wart doch noch ein Augenblickchen, das ist noch nicht alles. Deine Mutter schreibt, du sollst sofort dei ne Sachen packen und zu ihr nach Hamburg kommen. – Aber gleich, sonst geht sie weiter nach Holland, ich soll dir ein bißchen mit allem zurecht helfen, sie hat uns auch einige Kleinigkeiten geschickt. Hier ist auch noch ein Brief für Haubolds.«

War mir doch, als müsse mir das Herz springen vor Aufregung. Fort sollte ich, – und zwar gleich – sofort! Ich öffnete mit zitternden Händen den Brief, seufzte tief auf, als ich sah, wie lang er war, steckte alles in die Tasche, nahm meinen Korb und forderte den Mann auf, mit mir zu Haubolds zu gehen.

Haubold stand vor dem Herd und schaute eifrig in den großen Kessel. Er sah verwundert auf, als der Mann mit mir eintrat. »Wo bleibst du so lange? Wir haben keine Zeit, am Vormittag Besuch anzunehmen!«

Mir traten die Tränen in die Augen, ich hätte gern gestanden: »Ich habe in der Scheune Weihnachten gefeiert,« aber so sagte ich nur: »Hier ist ein Brief von meiner Mutter, ich soll gleich nach Hamburg kommen. Rüdiger Heinrich soll mir helfen. Darf ich gleich fort?«

Es war nicht nur der Feuerschein, der jetzt das Gesicht von Haubold so rot erglühen ließ.

»Ihr habt mich wohl verstanden!« sagte er mit einer deutlichen Handgebärde nach der Tür.[108]

Der Mann stotterte verlegen: »Bedenkt, sie ist doch noch ein Kind, man muß ihr doch zurecht helfen, – es ist eine weite Reise, wenn sie auch nicht viel hat, aber sie soll ihr bißchen Kram doch mit haben!«

Haubold knüllte den Brief, den er während der Rede des Mannes gelesen hatte, wütend zu einem Ballen zusammen und warf ihn in die Flammen. »Schert euch fort! Das Mädel bleibt, wo sie ist! Die Mutter hat sie uns übergeben. Wenn sie sie haben will, da mag sie sie selber holen! – Nach Hamburg! – Na, das ist was Schönes! – Das könnt' ich ja vor Gott nicht verantworten, da geht sie zugrunde! Hier bleibt sie!«

Ich brachte das viele Geld weinend in meine Kammer. Der Mann stand bei meiner Rückkehr noch immer in der Küche.

»Hol Wasser!« befahl Haubold. Der Mann folgte mir. Ich war in höchster Aufregung, ich hätte den Mann schütteln können. »Steht mir doch bei, Rüdiger Heinrich!« bat ich weinend.

»Was kann ich dabei tun, wenn die Leute nicht wollen! Pack deine Sachen zusammen und reise.«

»Als ob ich das könnte! Das wage ich doch gar nicht!«

»Na, siehst du, ich auch nicht!« Damit bog er nach der einen, ich nach der anderen Seite.

Ich stellte meine Kanne unter den Strahl, eilte zu meinen Freunden, legte den Brief auf den Tisch und sagte erregt: »Lest den Brief und helft mir! Ich muß zu meiner Mutter! Wenn ich nicht bald komme, treffe ich sie gar nicht mehr. Wenn ich hier länger bleibe, gehe ich zugrunde!«

Sie trösteten und versprachen mir ihren Beistand. Bei Haubolds wurde der Sache mit keinem Wort Erwähnung getan. Das vermehrte meine Erregung. Mit[109] niemandem konnte ich sprechen, und doch war mir, als müsse ich ersticken vor Aufregung. Freude, Hoffnung, Zweifel, alles gärte in mir.

In der Dämmerung kam Fritz. Ich meinte, mir müsse das Herz still stehen. Hatte er wirklich den Mut, für mich zu kämpfen? Als er mich sah, schob er mich in die Küche, schloß die Tür und ging in die Stube.

Ich hörte, wie er mit erzwungener Ruhe fragte, ob ich reisen dürfe. Mann und Frau antworteten erregt und wiesen ihm die Tür.

»Gut,« sagte er, »nun werde ich andere Wege einschlagen! Ich dachte, es wäre im Guten und in Ruhe gegangen! – Ein kleines, schwächliches Kind so auszunutzen, weil sie niemanden hat, der nach ihr sieht, das ist Sünde, und jetzt geh' ich erst 'mal zum Schulzen, und dann werde ich es allen im Dorfe erzählen. Ich prophezeie euch, ihr seid bald eure Kundschaft los!«

Er ging. Haubolds schalten, ich weinte, und doch fühlte ich Hoffnung und Freudigkeit, daß jemand für mich eingetreten war.

Am nächsten Tage kam ein Bergmann, gab mir meinen Brief und sagte: »Der ist beim Schulzen gewesen. Heb ihn gut auf! Ich soll dir sagen, niemand darf dich zurückhalten. Wir sind alle auf deiner Seite!« Dann ging er hinein und sprach mit Haubolds.

Wie waren die Stunden lang und qualvoll! – Am Brunnen sah ich Gustel. »Hab nur Mut und sei nicht aufgeregt. Es wird alles gut, sollst mal sehen! Wir sind Dorfeingesessene, Haubolds sind die Fremden. Über dich ist schon viel im Dorf gesprochen. Alle finden sie, so darf das nicht weiter gehen. Sie lassen dich schon von alleine gehen, wenn sie sehen, daß niemand mehr zu ihnen kommt. Wenn du weißt, daß du frei kommst, da häng dein rotes Tuch ins Fenster. Dann wissen[110] wir doch, daß wir dich bald erwarten können! Das wird 'ne Freude, wenn du kommst!«

Es kamen wirklich keine Bergleute mehr.

Da sagte Haubold an einem der nächsten Tage: »Heute abend reif, wohin du willst. Du wirst schon in dein Verderben rennen!« – Das war ein böses Wort!

Als ich das Haus, in dem ich so schwere, einsame Monate verlebt hatte, hinter mir wußte, kam ein großes Glücksgefühl über mich.

Frei! – Das stürmische Wetter war vorbei. – Über dem festgefrorenen Schnee flutete das sanfte Licht des Mondes. Als ob mir die Welt gehörte, so glücklichen Herzens ging ich in das Häuschen am Brunnen.

An der Tür stand Mutter Lehmann: »Ich hab' Erbernbackchen (Kartoffelkeulchen) in der Pfanne und schönen, weißen Kaffee!«

Da tafelten wir großartig!

»Was wird aus dir?« Diese Frage stand bei uns allen im Mittelpunkt. »Laß nur,« sagte Mutter Leh. mann, »es wird sich schon alles zum Guten wenden, wenn sie nur erst ihre Mutter wieder hat!«

Vater Lehmann meinte: »Das viele, viele Geld! Wenn du doch nur gut acht auf dein Geld geben willst! Du bist doch noch ein Kind, wie leicht kann's dir gestohlen werden, oder du kannst es verlieren!«

»Ach,« sagte Mutter Lehmann, »das Geld ist doch nicht die Hauptsache! Ich würde sagen: paß auf, daß du deine Seele draußen in der weiten Welt nicht verlierst, die ist doch mehr wert wie die 6 Taler!«

Und wie dachte ich mir die Zukunft?! –

O, ich würde endlich immer, immer bei der Mutter bleiben, mit ihr reisen, und wenn es uns besser ginge, würden wir wieder alle drei beisammen sein und bis[111] ans Ende unserer Tage glücklich und zufrieden sein! Ich habe ihnen viel vorphantasiert, und sie hörten mir, wie sonst auch, geduldig zu. Dann bat ich, daß wir noch einmal die schönen Bergmannslieder miteinander singen möchten. Als wir an das Lied kamen:


»Lacht nach bangen Kummertagen

Dir ein freundliches Geschick,

Darf das Herz mit Jubel sagen:

Sei willkommen, Silberblick!«


Da jubelte ich die Worte mit tiefster Überzeugung in das kleine Stübchen hinein, als ob ich mir die Brust frei singen müßte von all der überstandenen Pein.

Einen Tag mußte ich noch bleiben. Ich mußte mir den Paß besorgen, ich kaufte mir einen großen Tragkorb für die wenigen Sachen, und – was mir sehr wichtig war, ich nahm Abschied von meinem treuen Seelsorger.

Dann nahm ich Abschied von dem stillen Dörfchen, von den guten, treuherzigen Bergleuten, die mir unbewußt so gute Lehrmeister gewesen waren. Ich nahm Abschied von dem ganzen herrlichen Sachsenlande, von seinen bewaldeten Bergen, von den rot glühenden Felsen, den Schlössern und Ruinen – um auf lange Jahre hinaus nur noch in meinen Träumen in die heimischen Gefilde zurückzukehren. –

Euch aber, ihr lieben, frommen Bergleute, – die ihr einst eintratet für ein geringes, verlassenes Kind, – euch rufe ich heute beim Wiedersehn ein dankbares »Glückauf« zu.[112]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 106-113.
Lizenz:

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