Ausklingen und Ende.

Von bleibendem Wert für mich wurde vor allem der Verkehr mit der Gräfin Roon, der mich hier in das Kriegsministerium, später nach Neuhof bei Coburg und dann nach Krobnitz in der Lausitz führte.

Da habe ich den Grafen Roon, den Mann, der dem Vaterlande so Großes geleistet hat, als Mensch nicht nur hoch verehren, sondern innig lieben lernen.

Er kehrte, seiner Erkrankung halber, früher vom Kriegsschauplatz zurück; damals besaß er noch Gütergotz, und auf dem Wege von dort nach Berlin fuhr er wohl vor der Tür unserer Barackenküche vor, um seine Frau abzuholen. Die Braut seines Dieners – ich habe ihn nur unter dem Namen Dietrich gekannt – wohnte in Teltow. Als Graf Roon dies erfuhr, fragte er beim Einfahren in diese Stadt: »Dietrich, wo wohnt Ihre Braut?« Auf die Antwort: »In jener Straße, Exzellenz,« sagte er: »Na, dann gehen Sie hin und geben Sie ihr einen Kuß – ich fahre langsam durch die Stadt, und am Tore erwarte ich Sie.«

Dieser Dietrich heiratete dann bald, und da damals noch das dreimalige Aufgebot war, so rief ihn der alte Herr an jedem der drei Sonntage vor der Kirche zu sich und erklärte ihm, was in der Epistel und dem Evangelium dieses Tages für ihn und seinen Ehestand von Bedeutung zu finden sei. So handelte der[197] Mann, auf dessen Schultern bei der Rückkehr vom Kriegsschauplatz eine fast erdrückende Last von Arbeit lag.

Es war mir ein Lebensgewinn, ihm und seiner edlen Gattin Freundin sein zu dürfen – und Freundin nannte er mich noch auf seinem Sterbebette. Auf seinem späteren, unweit Görlitz, an der Bahn nach Dresden gelegenen Besitz »Krobnitz«, habe ich oft mit diesen lieben Menschen schöne Wochen verlebt.

Das Schloß ist geräumig, aber äußerlich nicht geschmackvoll, da es aus einem alten Wohnhaus umgebaut wurde. Vor der bedeckten Vorfahrt stehen 2 französische Geschütze, die der Kaiser seinem Feldmarschall geschenkt hat. Die Umgegend ist sehr lieblich, wie die ganze Oberlausitz. Sehr hübsche, erst vom Grafen Roon selbst angelegte Anpflanzungen, führen vom Schloß zu dem von ihm erbauten Mausoleum, in welchem er jetzt ausruht von den Mühen seines Lebens. Diese Anlagen hat Graf Roon mit vieler Freude selbst geleitet und sich zum Transport der größeren Bäume, der Hinterräder der oben erwähnten Geschütze bedient. Er amüsierte sich dabei in dem Gedanken, was Napoleon wohl zu dieser Verwendung seiner so bombastisch gegen Deutschland ins Feld geführten Kriegsgeräte sagen würde.

Weiterhin sind alte Anlagen – das Friedenstal, welches ein gern besuchter Platz für Missionsfeste ist. Eine Kirche hat Krobnitz nicht, es ist eingepfarrt in dem dicht am Friedenstal liegenden Meuselwitz, und oft haben wir das freundliche Gotteshaus besucht!

Eines Abends waren Graf und Gräfin Roon allein zur Kirche gefahren, – da dort Abendmahl gefeiert wurde. Bei der Rückkehr sagte er: »Was ist doch der Mensch für ein schwaches Wesen! Soeben hatte ich meine Sünden bekannt und aufrichtig[198] bereut. Da, als ich in den Wagen steigen wollte, ließ der Kutscher die Pferde anrucken, und wenig fehlte, daß eine an der Kirchtür stehende Frau verletzt wurde. Nun fuhr ich den Kutscher fluchend an und stieg dann tief beschämt ein.«

Wie hat doch Gottes Gnade an diesem Manne während seiner ganzen Lebenszeit gearbeitet, um ihn zu solcher Frömmigkeit zu führen; Erziehung und Belehrung als Kind haben es nicht getan. Von seiner Einsegnung erzählte er mir oft. Er war Kadett in Kulm. Der reformierten Kirche angehörend, welche damals noch strenge von der anderen geschieden war, konnte er an der Vorbereitung zur Einsegnung seiner Kameraden nicht teilnehmen. Eines Tages kam ein reformierter Prediger nach Kulm. Da wurde Roon vom Gouverneur aus dem Klassenunterricht gerufen, mußte einen guten Rock anziehen, wurde eingesegnet, genoß das Abendmahl, zog den guten Rock aus, und ging in die Klasse zurück.

Wie er überhaupt dazu gekommen ist, Kadett zu werden, erzählte er mir auch. Er hatte die Eltern früh verloren und wuchs bei einer alten, sehr treuen Tante in Pommern auf. Dort war er zunächst der Sorge eines alten Dieners überlassen und hat diesem beim Messerputzen u. dgl. oft geholfen. Dies veranlaßte später eine Mutter, die es hörte, zu der Äußerung: »Wüßte ich, daß Messer putzen so gute Erziehungsresultate zeitigte, meine Jungens sollten dies von früh bis spät tun.«

Schließlich war's nun aber doch wohl besser für den jungen Roon, auch anderes zu treiben.

Da erbarmte sich des Knaben ein Vetter, Premierleutnant von Blankenburg, der in Berlin beim Regiment Alexander stand und in der Kaserne in der Münzstraße wohnte. Von dort aus[199] besuchte der junge Roon die Schule. Während des Manövers bekam er Kostgeld, »Und das fraß ich,« sagte er, »in den ersten Tagen für Pfannkuchen auf, die ich von einer in der Nähe ausstehenden Hökerfrau kaufte.« »Freilich,« fügte er hinzu, »wurde dadurch mein Wunsch, einmal in eine, ganz mit Pfannkuchen gefüllte Stube geführt zu werden und mich dann bis zur andern Tür durchzuessen, noch lange nicht erfüllt.«

Der Knabe lebte außer den Schulstunden meist auf der Straße. Eines Tages – es war im Winter – hatten sich die Jungens eine Schlidderbahn auf dem Bürgersteig angelegt. Vetter Blankenburg steht am Fenster und sieht den Kommandeur der Kadettenanstalten, Generalleutnant v. Borstell in die gefahrdrohende Nähe der Knaben kommen. Und, o Entsetzen – Roon läuft ihm gerade zwischen die Füße, und der kleine, untersetzte Mann setzt sich mit Vehemenz auf die schmutzige Straße. Der Vetter stürzt hinunter, kommt auch zurecht, dem Gefallenen aufzuhelfen und überhäuft ihn mit Entschuldigungen über das Ungeschick des jungen Sünders. Er erwähnt, daß der Knabe ja nicht am rechten Platz lebe. Alle Bemühungen, eine Kadettenstelle für ihn zu erhalten, seien vergeblich gewesen, und da müsse es leider so gehen.

Der alte Herr, welcher sein Mißgeschick freundlich trug, sandte nach 14 Tagen die Einberufung für Roon in das Kadettenhaus nach Kulm. Dieser sagte später oft: »Ich wäre heute noch nicht Kadett, wenn ich den alten Borstell nicht umgerannt hätte.«

Nach Kulm fuhr er dann mit anderen Kadetten in mehreren Tagereisen auf Leiterwagen, trotz winterlicher Kälte in einem[200] dünnen Mantel. Manch Muttersöhnchen jetziger Tage friert wohl schon bei dem Gedanken an solche Fahrt.

Zwischen dieser Reise und jenem Tage, welcher den Greis hinüberführte durch die Pforte des Todes zu ewigem Leben, liegt viel Zeit und viele weltbewegende Ereignisse, bei denen auch seine Hand eingriff in das Rad der Geschichte seines Vaterlandes. Berufenere Federn haben darüber berichtet.

Ich möchte nur von seinem Tode und jenen letzten Tagen erzählen, wo der Scheidende noch klar bei Bewußtsein war.

Roon lag schwer krank zu Berlin im Hôtel de Rome. Den Kindern war telegraphiert, aber noch hatte keins von ihnen kommen können. Da hatte Gräfin Roon mich zu ihrer Hilfe bei der Pflege des teuren Kranken gerufen. Bald nach mir kam Generalsuperintendent Büchsel, der dem Roonschen Hause nahe befreundet war. Mit der Gräfin kniete ich am Bette, und Büchsel reichte uns, nach tief ergreifender Ansprache, das Abendmahl. Nach der Feier rief der Kranke laut: »Mein Gott, ich bitt' durch Christi Blut, mach's nur mit meinem Ende gut.«

Ost hatte ich selbst diese Worte gesprochen und mit Ernst gebetet, seitdem ich sie aber dort und in jenem Augenblicke gehört habe, sind sie mir immer ein besonders ernster Mahnruf an das: »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.«

Still saßen wir dann am Bett. Die Hand der Gattin hielt er fest, und daher durfte ich ihm Glas oder Tasse reichen, wenn er etwas verlangte. Jedesmal drückte er mir die Hand und küßte sie sogar einmal trotz meines Widerstrebens. Auch sagte er, in Erinnerung daran, daß beide früher gewünscht hatten, ich solle zu ihnen nach Krobnitz in ein hübsches Häuschen des Dorfes ziehen und ich dies nicht angenommen hatte: »Eigentlich[201] bin ich böse, daß Sie nicht zu uns kommen wollten, werde ich aber wieder gesund, dann müssen Sie doch kommen.«

An dem früh hereinbrechenden Abend des winterlichen Tages, es war der 21. Februar 1879, hieß es – der Kaiser kommt. Dieser hatte schon am Morgen seinen Besuch melden lassen, im Fall die Ärzte einen solchen gestatteten.

Die Gräfin ging dem Kaiser entgegen, der noch von seiner Verwundung her den einen Arm in der Binde trug, und führte ihn an das Krankenbett. Ich trat leise in das Vorzimmer zurück, von wo aus ich aber sehen und hören konnte, was bei dem Kranken vorging. Der Kaiser setzte sich am Bett nieder und dankte in bewegten Worten dem teuren Mann, der ihm mehr Freund als Diener gewesen, für seine treuen und so wichtigen, ihm und dem Vaterland geleisteten Dienste. Er brachte Grüße, von, wie er sagte, »meiner Frau,« und ergänzte, als Roon dies nicht zu verstehen schien, »von der Kaiserin«; dann sagte er: »Ich folge bald, bestellen Sie Quartier dort oben«, küßte den Sterbenden auf die Stirn und trat zu mir in das andere Zimmer. Während die Gräfin hinausging, da ihr ältester Sohn, der General Waldemar Roon gekommen war, fragte er mich: »Wer sind Sie?« und als ich mei nen Namen genannt hatte, reichte er auch mir die Hand, die ich tief bewegt küssen wollte, und ging dann zur Tür. An den Rahmen derselben lehnte der Kaiser die Stirn, bemühte sich, Herr seiner tiefen Bewegung zu werden und trocknete mit dem Taschentuch die aufgestiegenen Tränen.

Als die Gräfin mit dem Sohne eintrat, begleiteten beide den Kaiser zum Wagen, und ich ging zu dem Kranken. Mit der Anrede, die er oft gegen ihm liebe Menschen gebrauchte:[202] »Liebes Kind« ergriff er meine Hände und sagte: »Das war zu schön!«

Dies sind die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe, ich der Gattin und dem Sohn den Platz räumte, noch die Fürstin Bismarck, welche bald darauf kam, begrüßte und dann fortging.

Am anderen Tage war der teure Mann schon bewußtlos und verschied am Sonntag den 23. abends.

Der Leichenfeier in der Garnisonkirche blieb der Kaiser wegen Unwohlseins fern, aber die Kaiserin erschien und der Kronprinz begleitete, trotz des Schneetreibens, den Leichenzug zu Fuß bis zum Görlitzer Bahnhofe, den Feldmarschallstab in der Hand.

Wenn viele beklagten, daß Roon fern von seinem Heim, in Berlin im Hotel starb, so habe ich dies nie bedauert.

War es ihm doch in seiner letzten Krankheit eine Freude, von seinem Stuhl und zuletzt vom Bett aus, nach dem Fenster des Kaisers hinüberzusehen. Einmal sagte er, er sei der Toggenburg, der nach dem Fenster seiner Liebe schaue, und welche erquickende Freude auf seinem Sterbebette waren ihm dieser letzte Dank, dieser letzte Besuch.

Auch das Volk erkannte, wie der Kaiser seinen Feldmarschall lieb gehabt hatte und ihn noch nach dem Tode ehrte. Es sah den feierlichen Leichenzug des Mannes, der das Schwert geschärft für den großen Krieg. Trat auch im Leben seine treue und stillere Arbeit oft hinter den glänzenden Erfolgen Moltkes und Bismarcks zurück, so wurde doch jetzt die Erinnerung daran, was dieser große Mann gewesen war und was er gewirkt hatte, wieder lebendig. –[203]

Roon war zu Grabe getragen, Bismarck lebte noch.

Obgleich Bismarck selbst, ebenso wie seine Frau mir immer freundlich begegnet sind, bin ich doch nie zu intimem Verkehr mit ihnen gekommen. Sie waren zu sehr in Anspruch genommen, und ich sagte mir, daß es besser sei, den mächtigen Verwandten nicht ungerufen zu belästigen. So konnte ich auch am besten den vielen wunderlichen Anforderungen, die man um Fürsprache beim Fürsten an mich stellte, entgehen.

Es war oft lächerlich, was man alles von mir erwartete. Bald wünschte jemand eine Anstellung als Gärtner in Varzin, ein anderer hielt einen Försterposten in Friedrichsruh für erwünscht, ein dritter wollte für sich, einen Sohn oder einen Vetter eine Stelle im Ministerium usw. usw.

Aber nicht nur Ansprüche, die an mich gestellt wurden, auch Ehrungen, die bisweilen nicht minder peinlich sein konnten, trug mir mein berühmter Name ein. Es war im Herbst 1866 – des Jahres, in dessen Anfang Bismarck wohl einer der unpopulärsten Männer gewesen ist. Selbst auf den alten König übertrug sich die Unbeliebtheit – man sprach von verwerflichem Bruderkrieg – und ich habe es selbst erlebt, daß, als der König nach der Kriegserklärung im Tiergarten spazieren fuhr, ihn kaum einer der zahlreichen Spaziergänger dort grüßte. Zwei andere Damen und ich, wir stellten uns darauf direkt am Wege auf und setzten, als der ernstblickende Herrscher vorüberkam, unsern tiefsten Knix hin, über den wir verfügten. Wir hatten auch die Genugtuung, daß der König uns sah und freundlich grüßte.

Nach dem kurzen, glorreichen Kriege war die Volksstimmung umgeschlagen, und ich sah vom Balkon des Schlosses aus den[204] König unter dem Jubel der Menge an der Spitze seines siegreichen Heeres zurückkehren. Bismarck war aus der bestgehaßten – die beliebteste Persönlichkeit geworden. Ein Abglanz davon fiel auch auf mich.

Von irgendeinem Komitee, ich weiß nicht mehr von welchem, war im Krollschen Etablissement ein Fest für zurückgekehrte Landwehrleute veranstaltet. Als Mitglied des Vereins zur Unterstützung der Landwehrfrauen war auch ich aufgefordert.

Unten in dem großen Saale tafelten die Geladenen, während oben, in den Logen die Damen des Komitees und der Vereine saßen. Es wurden Reden gehalten, Toaste ausgebracht, und die Wogen der Begeisterung gingen höher und höher; dabei entstand nachgerade eine glühende Hitze.

Eben hatte sich Paulus Cassel, mindestens gesagt, recht ausgiebig ausgesprochen. Ich fühlte mich vom Genossenen befriedigt, von der Hitze erschöpft und beschloß, mich stillschweigend zurückzuziehen.

Ich gelangte ohne Anfechtung die Treppe hinunter; aber man soll nicht zu früh das Ende loben, denn das Unheil ereilte mich noch an der Schwelle des Ausganges. Ein alter Bekannter, der Amtsrat Beier, erkannte mich und rief: »Wollen Sie uns schon verlassen, gnädiges Fräulein? O nein, das darf noch nicht geschehen!« Er bot mir den Arm und führte mich, die ich nichts Böses ahnte, sondern glaubte, er wolle mich zur Tür geleiten, in den überfüllten Saal. Kaum waren wir eingetreten, als er mit lauter Stimme rief: »Meine Herrschaften, hier ist eine Dame, die trägt den Namen, welcher heute schon oft gefeiert ist. Sie hat uns arbeiten helfen. Wir müssen alles ehren, was dem großen Manne nahe steht, also auch sie; und so rufen[205] wir denn: »Fräulein v. Bismarck lebe hoch!« und Hoch, Hoch, Hoch riefen ein paar hundert Landwehrkehlen.

Ich war wirklich entsetzt und glaube kaum je ein so dummes Gesicht, eine so ungeschickte Verbeugung gemacht zu haben, wie in jenem Augenblick.

Nachdem ich noch verschiedene schmeichelhafte Redensarten hatte anhören müssen, gelang es mir endlich, den Rückzug anzutreten; aber nicht allein. Der gute Beier und ein anderer Herr führten mich hinaus, riefen eine Droschke heran, und ich war froh, endlich heimfahren zu können.

Spaßhafter war es schon, als ich einst in Jena eine Freundin besuchen wollte und vorher bei meinem Bruder in Merseburg eingekehrt war. Dieser hielt mich einen Tag länger zurück, und ich depeschierte nach Jena: »Komme morgen 4 Uhr. Bismarck.« Bei meiner Ankunft fand ich eine große Menschenmenge auf dem Bahnhof versammelt und die Gebäude festlich geflaggt. Warum, das wurde mir klar, als ich den Bahnhofsinspektor sagen hörte: »Der Fürst ist nicht gekommen« – und herzlich lachend fuhr ich mit meiner Freundin in der bescheidenen Droschke von dannen.


Zu dem, was der Name Bismarck mir Freundliches brachte, gehört eine Begegnung, die ich in der Schweiz, in Heinrichsbad, erlebte. Dort, wo unter Pfarrer Wengers kluger Leitung Menschen aus den verschiedensten Lebensstellungen harmonisch vereint lebten, befand sich unter den Gästen des Hauses eine alte Frau aus Zürich; die große Haube bezeichnete sie als einfache Bürgersfrau.

Schon durch mehrere Tage hatte sie mich freundlich gegrüßt,[206] mir auch wohl die Hand geboten, und wir hatten einige Worte verständlich geworden waren.

Da vertraute mit Pfarrer Wenger eines Tages an, daß sie glühende Bismarckschwärmerin sei und sich brennend wünsche, ein Glied der Familie küssen zu dürfen.

Naturlich ging ich am nächsten Tage der alten Schweizerin entgegen, als wir uns frühmorgens im Eßsaal trafen, schloß sie in meine Arme, und mit feurigem Kuß besiegelten wir eine für den ganzen Aufenthalt währende Freundschaft.

Freudiges Beifallklatschen der Tischgesellschaft, die den Wunsch der Alten kannte, wurde uns zuteil.


Anders hätte es in Schwalbach gehen können. Ich telegraphierte dorthin an die erkrankte Frau v. Langenn-Steinkeller, die meiner zur Pflege bedurfte: »Langenn, Schwalbach, Hotel Herzog Ernst von Nassau. Komme heute. Bismarck.«

Hierbei hatte ich außer acht gelassen, daß der Badeort »Langen«-Schwalbach heißt, und so war das Telegramm an den Hotelwirt gelangt, indes Frau v. Langenn vergeblich auf meine Anmeldung wartete. Der Wirt hatte für die vermeintliche Ankunft meines großen Vetters eine ganze Reihe von Zimmern in Bereitschaft setzen lassen; als ich ankam, wurde mir erklärt, es sei nichts mehr frei. Nun klärte sich der Irrtum bald auf, und ich blieb nicht obdachlos.


In Potsdam ging ich einmal im Garten, nahe der Friedenskirche spazieren. Der Eingang zu dem sonst verschlossenen Teil des Gartens stand offen, und ich trat ein. Mich des schönen[207] Flieders und der anderen Blütenpracht erfreuend, verweilte ich länger und fand schließlich die Pforte geschlossen. In einiger Entfernung waren Arbeiter beschäftigt; als ein Herr, wohl ein Obergärtner, zu ihnen trat, bat ich um Entschuldigung, eingedrungen zu sein, sprach aber zugleich die nicht unberechtigte Bitte aus, wieder hinausgelassen zu werden. Der Herr war sehr freundlich bereit dazu, fragte aber, wem er die Ehre habe, zu öffnen. Als ich meinen Namen nannte, erschöpfte er sich in Entschuldigungen: er kenne nicht alle Damen des Hofes, sonst wäre gewiß nicht zugeschlossen worden. Dann rief er, als ich zum Tore hinaus, aber noch in Hörweite war, einem der Arbeiter zu: »Dieser Dame wird jederzeit aufgeschlossen.«

Da er mich später nicht wiedergesehen hat, mag er vielleicht der Ansicht jenes Droschkenkutschers gewesen sein, der mich einst, als er und ich durch Bismarcks vorüberfahrenden Wagen aufgehalten wurden, fragte: »Kennen Sie den?« Und auf meine Erwiderung: »Jawohl, er ist mein Vetter«, brummte: »Na, duhn Se man nich so jroß.« Und doch war es wirklich mein Vetter; er erkannte mich aber wegen seiner großen Kurzsichtigkeit bei dieser Gelegenheit nicht. Stets hat er sonst, soviel an ihm lag, die Kinderfreundschaft aufrecht erhalten. Doch brachten es die Verhältnisse mit sich, daß sich ihm die Gelegenheit, es zu zeigen, so selten bot. Einmal im Jahre 1866 war ich zu einer größeren Soiree im Bismarckschen Hause, bei der auch die Königin Augusta und die Kronprinzessin erschienen. Ich erinnere, daß die Gräfin Bismarck ein gelbes Kreppkleid und dunkelrote Rosen trug, und daß ihre Tochter Marie, die in dem Winter zum erstenmal ausging, mit ihren blauen Augen, dunklem Haar und schönen Farben eine überaus liebliche Erscheinung[208] war. Bismarck machte auch seinen jüngeren Gästen gegenüber einen sehr liebenswürdigen Wirt; so sah ich, wie er einige Leutnants eine ganze Zeitlang damit unterhielt, daß er die Zeiger einer Kuckucksuhr, die sie betrachteten, mehrere Male umdrehte und den Vogel zwang, immer wieder herauszukommen.


Im Alter gedenkt man gern seiner Kinderzeit und so trieb es mich die Stätte, wo meine Wiege gestanden, wo ich mit Otto gespielt hatte, noch einmal wieder zu sehen. Anfang der neunziger Jahre, gelang es mir, diesen Plan auszuführen, und ich reiste nach Schönhausen.

Wie hatte sich die äußere Gestalt meiner Heimat verändert, seit ich so glückliche Kindertage dort verlebte! Wäre nicht die Kirche gewesen, mit dem breiten, plumpen Turm, der noch die alten Risse zeigte, hätten nicht die beiden Herrschaftshäuser auf derselben Stelle gestanden, ich hätte es nicht wiedererkannt!

Ich betrat den Garten von Ottos Elternhause, um unsere Spielplätze aufzusuchen. Über 70 Jahre waren vergangen, seitdem diese Stätte von unsern Kinderstimmen widerhallte. Da war die alte Steintreppe, die einzelnen Platten noch lose, wie ehedem; schon als Kind wurde ich davor gewarnt, damit ich nicht fiele; der kleine Teich, an dem ein Apoll aus Sandstein und eine Flora standen. Er hatte die Leier, sie das Füllhorn mit Blumen, die ihnen schon damals fehlten, noch immer nicht wieder bekommen.

Jenseits der Lindenallee, die sich von einem Ende des Gartens zum andern hinzieht, befand sich früher ein ziemlich wüstes Gehölz, in dem ein Herkules seine klassische Unbekleidetheit[209] versteckte. Otto machte diesen Heros zur Zielscheibe seiner Schießübungen, und der breite Rücken zeigte noch die Spuren seiner Schroten. Jetzt war das Gehölz gelichtet, auf den Herkules führte ein Weg zu, er stand ganz frei.

Der Nimbus, der für mich in dem Graben lag, der von der einen Seite der vorhin erwähnten Lindenallee aus das Gehölz inselartig umschloß, war, als ich es jetzt wiedersah, geschwunden. Damals führte ein morscher Steg, den ich nie betreten durfte, über den schlammigen Graben, in dem schwarze Schnecken umherkrochen, zu dem Gehölz und zu einem Lusthaus, das halb verfallen, mit zerbrochenen Fensterscheiben, mir wie aus dem Märchenlande erschien, da wundervolle Rosen ringsumher blühten.

In unserm ehemaligen Hause ist in der einen Hälfte jetzt das Bismarckmuseum. In dem großen Saal oben haben meine Ahnen den großen Bildern der Kaiser und Könige Platz machen müssen. Wie hoch erschien mir der Raum früher, und nun reichen die Bilder bis an die Decke, die sie fast zu erdrücken scheint. In den angrenzenden Zimmern, in deren einem ich geboren bin, nicht, wie die Zeitungen sagten, der Reichskanzler, dessen Wiege ja im anderen Hause stand, hat man die verschiedenen Geschenke aufgestellt, die dem Fürsten gewidmet sind.

In unsern ehemaligen Wohn- und Prunkzimmern sah es, wie oft in unbewohnten Häusern, recht wüst aus. Tapeten hingen in Fetzen herunter, und durch die blinden Scheiben schien kaum das Tageslicht, so daß man nicht hinaussehen konnte. Besonders nach der Gartenseite hin brauchte man dies allerdings nicht zu bedauern; der Garten war wenig gepflegt, und die polnischen Schnitter, welche die eine Seite des Hauses bewohnten,[210] trockneten auf Sträuchern und Hecken ihre am Sonntagmorgen gewaschenen Kleidungsstücke.

Das alte Pfarrhaus hatte einem neuen weichen müssen, und, was mir fast wehtat, der Feuerrosenstrauch, wie ich ihn in solcher Größe nie wieder gesehen habe, fehlte auch. Aber, war nicht 70 mal der Sommer gekommen und vergangen, seit ich mich an seinem Blühen gefreut hatte, und waren nicht auch am Baum des Lebens viel Rosen verblüht? Ihre Dornen hatten Wunden gerissen, die nie ganz heilen können.

Das Dorf machte den Eindruck eines freundlichen Landstädtchens. Das lange Haus des Bauern Bittelmann mit dem hohen, grünbewachsenen Strohdach, unserm Wohnhaus gegenüber, war durch eine Villa mit Veranda ersetzt. Ebenso Rohdes kleiner räucheriger Katen, der an unsern Garten stieß. An dieser Stelle war damals ein großes Loch in der Mauer, durch das man bequem einsteigen konnte, und das Rohdes Jungen fleißig benutzten, um zu untersuchen, ob unsere Äpfel reif wären.

Im ganzen Dorf ist wohl kaum noch ein Strohdach, alles hat so zierlichen Bauten weichen müssen, wie jene zwei Häuser. Wie mögen die jetzigen Besitzer lachen, wenn sie des Knüppels gedenken, durch welchen damals die Dienstfuhren geregelt wurden.

Aber die Menschen stehen sich nicht mehr so nahe wie zu jener Zeit, wo eine Hochzeit ein Fest für das gesamte Dorf war, und wo der Todesfall, der eine Familie betroffen, auch die anderen zur Trauer stimmte.


Infolge dieser Reise nach Schönhausen sah ich Bismarck wieder. Die alte Gewohnheit, ihm alle Jahr zum Geburtstag[211] zu schreiben, ließ mich im Jahre 1896 erwähnen, daß ich Schönhausen und die Gärten dort, den Schauplatz unserer Kinderspiele, noch einmal aufgesucht habe.

Die Erwiderung auf meinen Brief, gleich vom 1. April datiert, sagte mir, daß auch er noch gern an die Schönhauser Zeit dächte und sich freuen würde, wenn ich ihn in Friedrichsruh besuchen wollte.

Solcher Einladung folgte ich gern und fragte nach kurzer Zeit an, ob ich kommen und als Begleiter den Sohn meines Bruders, einen jungen Leutnant mitbringen dürfe. Die Antwort war, ich solle nur Tag und Stunde unserer Ankunft nennen, damit der Courierzug in Friedrichsruh halten könne.

Auf dem Bahnhof in Berlin kostete es Mühe, Billetts nach Friedrichsruh zu bekommen, da man sagte, der Zug hielte dort nicht. Erst die bestimmte Versicherung, die Einladung und Weisung des Fürsten erhalten zu haben, sowie die Nennung meines Namens hob endlich die Schwierigkeit, und wir fuhren ab. Mein jugendlicher Begleiter war in seinem Geist mindestens um einige Zoll gewachsen.

Als nun der Zug in Friedrichsruh hielt, war es nicht allein unsertwegen, denn Graf Rantzau reiste ab. Gräfin Marie geleitete ihn zum Coupee, und uns empfing einer ihrer Söhne, dem die Mutter bald folgte.

Schloß wurde Friedrichsruh oft genannt, aber mit Unrecht, wenn man seine äußere Gestalt betrachtet. Dachte man jedoch daran, wen das Innere barg, dann freilich mochte auch diese Bezeichnung noch unzureichend erscheinen.

Eine Doppeltür führte in das Innere. Wenige Stufen hinansteigend betrat man einen kleinen Flur; von diesem führte[212] eine Tür in ein Dienerzimmer, eine andere in den Flügel, der dem alten Hause angebaut ist, und unten Dr. Chrysanders Arbeitszimmer und die Zimmer des Fürsten enthielt, während im oberen Stock die Wohnung der Rantzauschen Familie war. Von einem zweiten Vorraum aus gelangte man in die Wohnzimmer, zwei größere und ein kleineres, ich denke das Privatzimmer der Fürstin. Schließlich das Eßzimmer, der größte Raum des Hauses, der aber trotzdem die oft gehörte Äußerung des Fürsten, er habe nicht Platz für viele Gäste, rechtfertigte. Vor dem Eßzimmer lag eine ziemlich geräumige Veranda, davor ein freier Platz, wo gelegentlich Deputationen den Fürsten begrüßten, indes er dieselben von der Veranda aus anredete. In diesem Eßzimmer fanden wir ihn am Frühstückstisch.

Er trat mir freundlich entgegen, küßte mich auf die Stirn, und, ich muß sagen, als er so vor mir stand, hatte ich, obgleich er sich auf einen Stock stützte, wie ich, den Eindruck vollkommener Kraft. In dem klaren blauen Auge lag eine Welt, die von großer Vergangenheit sprach und still und klar, aber unendlich schmerzlich, die Gegenwart erfaßte.

Der Frühstückstisch war einfach hergerichtet, ein warmes Gericht, kaltes Fleisch und Eier. Der Fürst selbst aß wenig; sehr heftige, neuralgische Schmerzen im Gesicht hinderten ihn wohl daran. Dem Wein sprach er reichlicher zu. Es wurde mit Bier angefangen, dann Rotwein und Champagner, von welchem, nachdem er die erste Sorte für zu leicht befunden, eine stärkere gebracht wurde.

Die Tischgesellschaft bestand aus Gräfin Rantzau, deren Söhnen, dem Hauslehrer und Dr. Chrysander. Dieser brachte, da mit uns zugleich die Post gekommen war, verschiedene Briefe,[213] ebenso wie zahlreiche einlaufende Depeschen, Glückwünsche zu der Geburt des ersten Bismarck-Enkels in Königsberg. Telegramme vom Kaiser und fast von allen Potentaten sprachen freudige Teilnahme an dem solange gewünschten Ereignis aus.

Bis 3 Uhr blieb der Fürst am Frühstückstisch sitzen. Er sprach fortwährend in anregendster Weise und zitierte mit bewunderungswürdigem Gedächtnis Stellen aus seinen Kammerreden. Dabei rauchte er drei Pfeifen, welche neben seinem Platz bereit standen, machte mit dem historischen langen Bleistift Notizen für Dr. Chrysander, hielt sich aber freilich oft mit den aufgestützten Armen das Gesicht, wenn die Schmerzen zu heftig wurden. Das Rauchen steigert sie im ersten Augenblick, mildert sie aber dann.

Als er sich nach dem Frühstück zurückzog, sprach er sein Bedauern aus, nicht mit mir spazieren fahren zu können, aber die Gesichtsschmerzen erlaubten ihm nicht, im Freien zu sprechen. Gräfin Rantzau fuhr täglich mit uns in die herrliche Friedrichsruher Forst hinaus. Hirsche sahen wir oft und gelangten auch, in einem eingezäunten Teil des Waldes, an die Futterstelle der Wildschweine, wo eine Anzahl alter Bachen mit 70–80 Frischlingen ungestört um den Wagen herumliefen. Die Jagd ist, da der Fürst sie nicht mehr ausüben kann, an Hamburger Herren verpachtet.

Jedesmal, wenn wir hinausfuhren, war vor dem Tore des Gartens eine Menge Menschen versammelt, welche hofften, den Fürsten zu sehen. Das schon in den Kehlen steckende »Hurra« erstarb in traurigem: »Er ist nicht drin«.

Unsern vom Hause läuft ein kleiner Fluß, die Oye, an[214] deren Ufer sich unter Bäumen Wege hinziehen, welche durch Brücken verbunden sind.

Auf einer kleinen Ausbiegung des dem Hause zunächst liegenden Weges befand sich ein von geflochtenen Reisern gebildetes großes Bauer, das mit Sträuchern bedeckt war; in diesem schlugen Nachtigallen – ein Geschenk ferner Freunde; der Fürst hoffte, daß sich diese gefiederten Sänger später im Walde ansiedeln sollten. Der Weg führte auch zu einem Miniatur-Küchengarten, in welchem einige Erdbeeren, etwas Bohnen, Salat u. dgl. wuchsen und der ein, als propre crû angestauntes Gericht Spinat, welches auf dem Frühstückstisch erschienen war, geliefert hatte.

In etwas weiterem Verlauf dieses Weges kommt man an das Stück freies Feld, auf welchem der Kaiser dem Fürsten die 7. Kürassiere vorgeführt hat, und, wie man auf so vielen Bildern sieht, der Fürst im Wagen, neben ihm der Kronprinz, die Truppe an sich vorüberziehen ließ.

Die Bäume des Waldes erstrecken sich so dicht an das Haus, daß nur ein Fahrweg frei ist. Kleine Gartenanlagen mit Rosensträuchern sind vor den Fenstern des Fürsten, vor dem Hause ein blühender Magnolienbusch. Sonst keine Blumen – auch kein Flieder, der doch sonst überall gerade so üppig blühte.

Jeder Tag aber brachte Rosen in Fülle auf den Eßtisch von Hamburger Gärtnern, bei ihnen von Freunden und Bismarckverehrern bestellt. Überhaupt kamen fast jeden Tag Geschenke. Der Kammerdiener Pinnow führte genau Buch darüber und wußte auf jede Frage des Fürsten nach dem Spender zu antworten.

Der Tisch war einfach – auch bei dem Diner um 7 Uhr,[215] zu dem sich oft Gäste einfanden; während meiner Anwesenheit nur Baron Merk mit Gemahlin. Sie lebten im Sommer in der Nähe von Friedrichsruh – im Winter in Hamburg. Dem Fürsten wurde eine große Tasse voll dicker Suppe serviert, die anderen singen mit Fisch oder Hummer an, dann folgte ein Gemüse, Braten, Obst, Käse u. dgl. Kaffee wurde beim Frühstück am Tisch, nach dem Diner im Nebenzimmer herum gereicht. Der Fürst saß dann auf einem Stuhl und lehnte beide Füße auf einen anderen. Auf dem Tisch neben ihm lagen Massen von Zeitungen, die er durchsah. Fand er einen Artikel, der ihn interessierte, so legte er das Blatt beiseite, während er die anderen Zeitungen auf den Boden warf. Währenddessen sprach er auch mit den Anwesenden, und wir gerieten eines Abends in lebhafte Unterhaltung über Herrn von Diest-Daber, welcher ihm so feindlich entgegengetreten war, und durch den auch ich Betrübendes erfahren hatte. Diest war es ja, der Herrn v. Wedemeyer, als dieser durch den Tod seiner Frau in tiefster Seele erschüttert war, immer wieder in die Politik hineingedrängt und ihn in irrige Ansichten über Bismarcks Tun verstrickt hatte. Ich konnte Otto den wahren Sachverhalt darstellen und ihn über die selbstlosen Absichten Herrn v. Wedemeyers aufklären. Bismarck sagte zum Schluß: »Das freut mich, daß ich es höre; den Mann habe ich lieb gehabt, und deshalb schmerzte es mich um so mehr, ihn unter meinen Gegnern zu finden.«

An einem anderen Abend, als das Gespräch auf unsere Kindheit kam, machte ihn die von mir zitierte Äußerung meiner Mutter: »Was Du nicht von Torheiten weißt, das lernst Du von Otto«, zwar herzlich lachen, aber das Faktum wollte er nicht[216] zugeben und meinte, er sei ein viel zu gesitteter Knabe gewesen, als daß so etwas hätte von ihm gesagt werden können; der Verführer sei entschieden Bernhard, sein älterer Bruder gewesen. Das mußte ich bestreiten, denn Bernhard, um 5 Jahre älter als wir beide, fühlte sich damals schon zu erwachsen, um mich, die Sechsjährige, als Spielgenossin zu wählen.

Unser Aufenthalt in Friedrichsruh war durch das damals nur 4 Tage geltende Retourbillett beschränkt, und der Tag unserer Abreise brach an. Der Zug, mit dem mein Neffe und ich zurückreisen wollten, ging am Nachmittag; wir nahmen daher Abschied beim Aufstehen von der Frühstückstafel. Als ich dem Fürsten die Hand reichte, war es wohl unwillkürlich, daß wir uns einige Augenblicke schweigend gegenüberstanden, wußten wir doch beide, daß es wohl ein Abschied fürs Leben sein werde. Er, der für die ganze Welt gelebt, für den Schönhausen mit seinen Erinnerungen nichts Schmerzliches hatte, wie für mich, sah doch auch wohl sinnend auf die langen Jahre zurück, die vergangen waren, seitdem wir als Kinder dort spielten.

Wieder küßte er mich auf die Stirn, drückte mir die Hand und sagte: »Lebe wohl!« Welche Kämpfe waren durch dies Herz gezogen, bis der Mann so still vor mir stand. Aus seinen Augen sprach etwas von dem Schmerz, dem er in seinen Memoiren Worte verleiht. Verlassen und einsam fühlte sich dieser große Schöpfer des Deutschen Reiches, als sein langes arbeitsreiches Leben, sein rastloses Schaffen in diesem stillen Hafen ausklang.

Mir aber tönt sein »Lebe wohl« noch heute wehmütig in der Seele nach. – – –

Nun ist – seitdem ich dies schrieb, das Auge, das damals[217] so freundlich auf mir ruhte, geschlossen. Das Herz steht still, das für so Großes geschlagen und um so Vieles gerungen und getrauert hat. Der Geist ruht aus von aller Unruhe, von allem Schaffen. Was alles war an diesem Auge vorübergezogen, was alles hatte dieser Geist erfaßt und ausgeführt. Nicht nur das Geschick einzelner Menschen, das Geschick ganzer Völker hatte in seiner Hand gelegen. Jedoch hat diesem Manne mit der kalten Überlegung, mit der starken Leidenschaft des überwältigenden eisernen Willens keineswegs ein wahrhaft christlicher Sinn gefehlt; wer einmal gesehen hat, wie sich diese gewaltige Hand zum Tischgebet faltete, wird das nicht bestreiten. Noch weniger fehlte ihm die Tiefe eines warmen Herzens, die sich nicht nur in seinem Hause zeigte, sondern vor allem in der begeisterten Liebe, mit der er an seinem greifen Kaiser hing, in dem er immer den Herrn, aber den heißgeliebten Herrn verehrte. Diese Liebe ließ den starken Mann, so erzählte mir die Fürstin einst, weinend niederknien an dem Lager seines von frevelnder Hand verwundeten Kaisers, und diese Liebe klang noch aus jedem Wort in seiner Unterhaltung, mit dem er die Vergangenheit berührte. –

Zur Ruhe hat man ihn gebettet. Die Weltgeschichte, die man sich kaum ohne ihn denken konnte, geht weiter. Wer weiß, ob Bismarck nicht in bezug auf manches, was die Zeit seitdem gebracht, kopfschüttelnd fragen würde, wohin das Schiff geht, das er einst so sicher gesteuert hat.

Außer seiner engsten Familie durfte kein Träger seines Namens ihm die letzte Ehre erweisen. Es ist mir immer ein Schmerz gewesen, daß es den Sprossen seines alten Stammes, dessen Namen er zu so hohen Ehren erhoben hat, nicht vergönnt[218] war, ihn auf dem letzten Wege zu geleiten. Über seiner Ruhestätte haben die Glocken der Heimat, die über den Gräbern seiner Väter erklangen, nicht geläutet.

Aber die Erde ist überall des Herrn. Der Enthüllung seines Denkmals in Berlin habe ich beigewohnt. Es war ein großer Augenblick, als die Hülle fiel. Und ich konnte wohl, Schillers Wort umwandelnd, sagen: »Wer nur zum Stamm der Bismarck sich bekennt, der war des Namens stolzer sich bewußt.« – –[219]

Quelle:
Bismarck, Hedwig von: Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen. Halle 151913, S. 195-220.
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Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen
Erinnerungen aus dem Leben einer 95-jährigen: Nachdruck Der Originalausgabe Von 1913 In Frakturschrift

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