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[21] Ich war frohen Mutes. Die Freunde im Rütli hatten mir einige Empfehlungen mitgegeben, unter anderen eine solche an Friedrich Engels in Paris. Der Sängerchor des Handwerkervereins hatte mir am Abend vorher ein Abschiedsständchen gebracht. Wie konnte es mir nun anders als gut gehen? Und es ging nicht schlecht. War ich doch kein verwöhntes Muttersöhnchen. Das damals noch neue Lied »Was braucht man Vieles, um glücklich zu sein«? war mein Leiblied geworden; ich stand ohne jede Anstrengung auf der Höhe der Lebensweisheit seines Verfassers. Das will sagen, daß ich das Leben in keiner Weise kannte und das, was ich als Weisheit ansah, nur die Unerfahrenheit eines eben aus dem Neste fliegenden jungen Zeisigs war. Nur eine wertvolle Eigenschaft war mir für die angetretene Fahrt von der gütigen Natur mitgegeben: die Lust und die Kunst zu lernen. Diese habe ich bis in mein hohes Alter nicht eingebüßt.
Nach Leipzig, wo ich zuerst Rast machte, war mir eine Empfehlung an Robert Blum mitgegeben worden, der sich in weitern Kreisen durch seine politischen Reden bekannt gemacht, auch nach außen hin als Präsident eines sogenannten Redevereins viele Beziehungen angeknüpft hatte und allgemeiner Verehrung sich erfreute. Ich würde ihn abends an der Theaterkasse finden, hatte man mir gesagt. Robert Blum war Kassierer am Leipziger Stadttheater. Er nahm meine Empfehlung freundlich auf, musterte mit wohlwollendem Blick meine jugendliche Gestalt, erkundigte sich nach seinen Berliner Freunden und lud mich ein, mir das Stück anzusehen, das eben gegeben werden sollte. Von dem Stück weiß ich nichts mehr, doch ist mir das joviale Gesicht des Theaterkassierers, aus dessen hellen Augen männliche Energie leuchtete, nicht mehr aus der Erinnerung verschwunden. Wenige Jahre später, und der tapfere deutsche Volksmann fiel als Märtyrer des ersten Freiheitstraumes, den er mitgeträumt. Ich habe seine Witwe in Wabern bei Bern gekannt und sein Söhnchen Hans Blum hat damals auf meinen Knieen sich geschaukelt.
Von meinen nächsten Stationen nenne ich Brüssel. Ich war in einem kleinen, von einem Deutschen geführten Gasthof eingekehrt. Meine Finanzen waren sehr auf die Neige gegangen und ich fragte den Wirt[22] nach dem Preise der Fahrt nach Paris. Die Eisenbahn nach der französischen Hauptstadt war eben eröffnet worden. Er sagte mir, daß die Messagerie bei herabgesetzten Preisen noch bis zum Jahresschluß ihre Fahrten fortsetzen werde; wenn ich einen Platz auf der Imperiale, neben dem Kondukteur nähme, so käme ich noch billiger nach Paris als mit einem Billet dritter Klasse der Eisenbahn. Ich überzählte meine Reichtümer. Wenn ich bescheiden haushielt, so langte es. Wäre ich in Brüssel geblieben, so hätte ich sicher in der Stadt der Nachdrucker Beschäftigung gefunden und mir die Kosten einer Reise nach Paris leicht erarbeiten können. Doch das Verlangen, die berühmteste Stadt des modernen Europa zu erreichen, hatte sich bei mir bis zur Leidenschaft gesteigert. Ich wollte nicht bleiben. Leider war jedoch die Rechnung des biedern Landsmannes etwas größer ausgefallen als ich erwartet hatte, und als ich mit verlegenem Gesicht mich doch anschickte, die Reise anzutreten, da trat der Sohn des edlen Vaters an mich heran und fragte mich, ob er mir nicht meinen kleinen Koffer tragen dürfe. Es war ein Junge von etwa dreizehn Jahren, ich nahm sein Anerbieten, daß ich als den Ausfluß eines gutmütigen Herzens ansah, dankbar an. Der dienstfertige Junge forderte aber, als wir am Ziel angelangt waren, mit so großem Geschrei einen Franken Trägerlohn, daß ich, um keinen Skandal zu erregen, ihm die für mich in diesem Augenblick sehr kostbare Summe einhändigte. Es blieb mir noch ein Frank für die Reise von Brüssel bis Paris in der Tasche. Gegessen hatte ich zum Glück. An der Grenze gab es einen kleinen Halt. Ich hatte nichts Verzollbares. Ich opferte hier die Hälfte meines noch vorhandenen Geldes, also einen halben Franken für ein Glas warme Milch und ein Stück Brot. Das stärkte mich für die Weiterreise. »Was braucht man Vieles, um glücklich zu sein?« Es war mitten im Winter und grimmig kalt. Der Kondukteur an meiner Seite hüllte sich in einen großen Schafpelz, ich existierte nicht für ihn. Er hätte mir wohl eine der Pferdedecken anbieten dürfen, die in seiner Nähe unter der Plane lagen; er dachte nicht daran, und ich bat ihn nicht darum, weil ich ihm schließlich ein Trinkgeld hätte geben müssen. So kam ich halb erfroren und mit 50 Centimes in der Tasche in dem ersehnten Paris an. Von Mäntel war mir ein Haus angegeben worden, in dem man mich gut aufnehmen werde: Rue du Temple No. 47.
Ich nahm meinen kleinen Koffer und fragte mich bis zur Rue du Temple No. 47 durch. In einer Viertelstunde war ich am Ziel. Der Portier erklärte mir, ich sei wohl nicht am rechten Ort, es sei hier kein[23] Gasthaus. Ich war bei diesen Worten gewiß sehr erschrocken, denn der Portier, nachdem ich ihm den Namen dessen genannt, zu dem ich zu gehen gedachte, sagte mir tröstend, es sei vielleicht Rue vieille du Temple, wo dieser wohne. Auch dort, wohin ich mich hoffnungsreich begab, wohnte der Mann nicht, den ich suchte. Man nannte mir Rue neuve du Temple, und als ich herzklopfend, weil der Gesuchte wiederum sich nicht dort befand, nach einer andern Straße fragte, die etwa auf das Wort Temple ausging, schickte man mich ins Faubourg du Temple und schließlich, da auch dort das richtige Haus nicht war, nach dem Boulevard du Temple. Da war ich endlich, nach zweistündigem, ängstlichem Suchen, erschöpft vor Müdigkeit und Hunger, im rettenden Hafen angelangt. Vertraute deutsche Laute drangen mir entgegen, man gab mir zu essen und zu trinken und wies mir ein kleines Zimmer an. An seinem Geburtstag, deshalb weiß ich noch das Datum, dem 28. Dezember 1846 landete der nun Zweiundzwanzigjährige in Paris, reich an Hoffnungen und – einen halben Franken in der Tasche. Der angebliche Gesinnungsgenosse, an den ich von Berlin aus gewiesen war, ein gewisser Heidecker, der dies gleiche kleine Hôtel garni bewohnte, war nicht zu Hause. Als ich mich ein wenig erholt hatte, führte man mich noch in derselben Nacht zu ihm in ein Wirtshaus nahe dem Père la Chaise, wo ich in einen deutschen Gesangverein trat und als ersten Lohn für meine Reiseausdauer meinen unerfahrenen Geist mit der wichtigen Entdeckung bereicherte, daß man in Paris auch den Wein aus Wassergläsern trinke.
Man sang, trank und politisierte, die sozialistische Note beherrschte die Unterhaltung. Auf dem Heimwege und in den nächsten Tagen wurde es mir immer klarer, daß schon in diesem engeren Kreise meiner Landsleute, worüber niemand sich allzusehr verwundern wird, eine große Einigkeit nicht herrschte. Störenfried war wie immer die Eitelkeit, der Ehrgeiz. Es fehlt niemals an Individuen, die es nicht erwarten können, bis sie kraft ihrer besonderen Fähigkeiten an die Spitze einer Vereinigung gelangen; gelingt ihnen das nicht so rasch, wie sie es wünschen, so säen sie Zwiespalt, sammeln ihre Anhänger zu einem Sonderbund, und aus einem Vereine werden zwei. Das geschieht häufig unter den deutschen Arbeitern im Auslande. Heidecker, wie es sich bald herausstellte, war seit kurzem einer sozialistischen Gruppe beigetreten, die sich unter Karl Grün gebildet hatte, und Karl Grün, der Übersetzer Proudhons, machte lebhafte Propaganda für dessen Evangelium, an dessen Spitze zwar die Worte[24] standen: »La propriété c'est le vol,« das jedoch der neu aufkommenden Marxischen Schule und den Programmen aller anderen kommunistischen Vereine den Krieg erklärte. Konnte Proudhon sich auf seine umfassenden nationalökonomischen Studien stützen, so stand seinem Übersetzer nur die Schablone Hegel'scher Dialektik zu Gebote. Karl Grün war, was ich bei unserer ersten Zusammenkunft sogleich bemerkte, eher ein Ästhetiker von der Sorte, welche Goethe mit den Worten gekennzeichnet: »Legt ihr nichts aus, so legt ihr doch was unter«. Er hat ein ungenießbares Buch über Schiller geschrieben. Er war ein »Belletrist«, um mich eines zu jener Zeit gebräuchlichen Ausdrucks zu bedienen, im übrigen ein liebenswürdiger Mann – in keinem Falle ein Nationalökonom. So machte er denn keinen rechten Eindruck auf einen jungen Menschen, der wie ich, nach Aufklärung über die Probleme des Tages strebte, der die Wassersuppe der damaligen phrasenhaften Ästhetik entschieden verschmähte. Heidecker hatte mich zu ihm geführt. Es kam nun zwischen uns beiden bald zu einem Bruch. Ich verließ das Hôtel gami auf dem Boulevard du Temple, nahm Wohnung in einem andern Stadtteil, so daß ich nicht allzuweit von dem Atelier war, in dem ich durch einen glücklichen Zufall bald Beschäftigung gefunden hatte. Von der Berührung mit Friedrich Engels hatten mich die Grünianer fern halten wollen. Ich machte ihn in wenigen Tagen ausfindig, schloß mich ihm mit jugendlichem Eifer an, und wir wurden eng befreundet. Darüber im nächsten Kapitel. Hier noch ein Wort über meine typographische Tätigkeit in Paris. Meine Aufgabe war, für den Druck der neu gegründeten Nordbahn und Paris-Lyon-Mittelmeerbahn die einzelnen Teile der Aktien zusammenzusetzen und dann während des Druckes, von einer der zehn Handpressen zur andern gehend, die Nummern zu ändern. Das Atelier war in einem Nebengebäude eines dem Hause Rothschild gehörenden Palastes in der Rue Lafitte eingerichtet worden, Druckherr war – der homöopathische Arzt der Frau Baronin Rothschild, dem man auf diese Weise einen hübschen Nebenverdienst zukommen ließ. Er hatte mit der Straßburger Buchdrucker – Firma Silbermann einen Vertrag abgeschlossen, die das Nötige besorgte. Er erschien von Zeit zu Zeit auf einige Minuten im Atelier, pour faire acte de présence, grüßte und entfernte sich lächelnd. Die Arbeit ging bei dem damaligen Stande der Buchdrucker-Technik langsam genug von statten, und um so langsamer, als es hie und da dem Verwaltungsrat der beiden Bahnen, d.h. Herrn von Rothschild gefiel, ganze Partieen der[25] fertig gewordenen Aktien, weil deren Farbe nicht zusagte, einstampfen zu lassen und sie durch neue Exemplare in anderer Farbe zu ersetzen. Daß der junge Sozialist zu der Verschwendung des assoziierten Großkapitals, deren Zeuge er war, seine stillen Glossen machte, daß er schon damals an das manchesterliche Dogma nicht glauben wollte, die Privatgesellschaften arbeiteten billiger als der Staat, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Die Verschwendung mit dem Gelde der Aktionäre, welche von den französischen Finanz-Mächten beim Bau der ihnen vom Staat überlassenen Eisenbahnen geübt wurde, machte sehr bald einer kleinlichen Sparsamkeit Platz, da die Inhaber der Aktien deren Kurs durch Erteilung möglichst hoher Dividenden zu heben suchten. Man muß bekanntlich in Frankreich Billets erster Klasse nehmen, will man dort nur die Bequemlichkeit der Reise genießen, die in Deutschland und der Schweiz in den Wagen zweiter Klasse geboten wird.
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