Höflichkeitsformen in der Gesellschaft.

[251] Wir sagten vorhin: Takt und Herzensgüte müssen uns mehr leiten, als die Etikette; das gilt für den ganzen geselligen Verkehr. Damit ist aber nicht gemeint, daß die Etikette überflüssig sei; denn einesteils besitzen nicht alle[251] Menschen, leider! jene beiden Eigenschaften, und wer sie besitzt, wird doch die Erfahrung machen, daß sie allein auch nicht genügen, um Sicherheit auf dem Parkett des Gesellschaftslebens zu verleihen. In dem Lehrbuch der Etikette, wie in dem der Grammatik, gibt es Regeln und Ausnahmen, seine Nuancen, in denen man sich auskennen muß, um keine Verstöße zu begehen.

Für einen Herrn ist eine der ersten Regeln die, daß dem weiblichen Geschlechte überall der Vortritt gebührt. Nun wird es ihm, ohne Zweifel, nicht leicht einfallen, sich vor einer Dame in einen Salon einzudrängen; wenn er aber bescheiden stehen bleibt, während die Dame, welche er geleitet, in ein Haus, ein Zimmer eintritt, die verschlossen waren, so verfehlt er es damit ebenfalls: er hatte die Schelle am Hause oder Vorplatz zu ziehen, hatte die Thür des Zimmers zu öffnen. Steigen sie zusammen eine Treppe hinauf, so thut er Unrecht, die Dame vorangehen zu lassen: das Terrain, verbunden mit der Art des weiblichen Anzugs, machen es unangenehm für eine Dame, hier dem Herrn voranzugehen. Steigt er eine Treppe hinauf, während eine Dame herunterkommt, so hat er ihr die Seite der Rampe frei zu lassen.

In der Gesellschaft ist der Herr der natürliche »Cavaliere servente« des weiblichen Geschlechts. Er wird nicht sitzen bleiben, wenn er sieht, daß es einer Dame – und sei es auch nur ein Backfisch! – an einem Stuhl fehlt; er wird ihr die geleerte Tasse abnehmen, für die sie keinen Platz findet, wird ihr behilflich sein, den Shawl, der ihr von den Schultern geglitten ist, wieder umzulegen, wird das Taschentuch, den Fächer, der ihr hingefallen, aufheben, wird ihr die Thür des Zimmers öffnen, wenn er sieht, daß sie hinaus gehen will, wird eine alte Dame mit einer Fußbank, einem Rückenkissen versehen, wird bei Tisch für[252] die Bedürfnisse der ihm zunächst sitzenden Damen sorgen. Diese kleinen Ritterdienste tragen viel zur Annehmlichkeit des geselligen Verkehrs bei und sollten mehr, als dies im allgemeinen der Fall ist, geübt werden.

Die gleichen Aufmerksamkeiten hat das junge Mädchen den älteren Damen zu erweisen; besonders darf sie nie unterlassen, ihre Bekannten unter den letzteren zu begrüßen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, wo immer sie dieselben bei irgend einer geselligen Vereinigung trifft. Unsere jungen Damen lassen sich häufig Verstöße nach dieser Richtung zu schulden kommen: sie sind so sehr mit sich selbst, mit ihrem Amusement beschäftigt, daß sie keine Zeit und Gedanken für andere, zumal für »die Alten« übrig haben. Sie vergessen, daß sie selbst ja auch einmal alt werden, und dann eine Vernachlässigung von seiten der »Jungen« ebenso schmerzlich empfinden werden, wie diese es jetzt thun. Ja, es wird einem jungen Mädchen nicht schaden, wenn sie ihre Rücksichten auch auf die alten Herren ausdehnt: wenn sie einem, viel leicht kränklichen Greis ihren Stuhl anbietet, ihm den Handschuh, nach welchem sein steifer Rücken sich nicht mehrt bücken kann, aufhebt; indessen muß sie mit solchen Zuvorkommenheiten gegen Herren vorsichtig sein, da sie ihr leicht übel gedeutet werden können, und der Herr selbst nicht immer geneigt ist, sich für so alt halten zu lassen, um derartige Dienstleistungen anzunehmen. Einen sehr unangenehmen Eindruck aber macht es, wenn junge Mädchen einen jüngern Herrn, etwa einen Künstler, einen Virtuosen hofieren, sich um ein Wort, ein Lächeln von ihm bemühen; durch solches Benehmen schaden sie nicht nur sich selbst, sondern tragen auch dazu bei, die gesellschaftliche Stellung der Frau, die in Deutschland ohnehin eine weniger bevorzugte ist, als in anderen Ländern, herabzudrücken.[253]

Ein nicht leicht zu lösendes Problem bietet die Cigarre im geselligen Verkehr. Soll sie geduldet werden, oder nicht? ... Die Männer stimmen wahrscheinlich unisono dafür, die Frauen dagegen. »Nun,« sagt der höfliche Herr, »man raucht ja nicht, ohne zu fragen, nicht ohne die Einwilligung der Damen.« Das ist wahr, allein diese Einwilligung ist eine gezwungene: man wagt nicht, »nein« zu sagen, und gewöhnlich geht das »Ja« von zwei oder drei Damen aus, deren Gatten persönlich bei der Frage beteiligt sind; die übrigen, welche den Rauch vielleicht sehr schlecht vertragen können, begnügen sich, zu schweigen. Wo gesungen oder vorgelesen wird, müßte die Cigarre als selbstverständlich verbannt sein. – In manchen Gesellschaften ist ein besonderes Zimmer für die Raucher eingerichtet, in das sie sich zurückziehen. Dann werden die Damen allerdings nicht durch den Dampf belästigt, allein sie müssen sich sagen, daß, wo den Herren die Wahl gelassen wird zwischen ihrer Gesellschaft und der Cigarre, die letztere den Sieg davon trägt, was jedenfalls nicht sehr schmeichelhaft für sie ist!

Die hauptsächlichen Höflichkeitsregeln beim Empfange eines Besuches erwähnten wir schon früher3. Wir machen hier nochmals darauf aufmerksam, daß es eine Rücksichtslosigkeit ist, welche auf die Herrin zurückfällt, wenn das Dienstmädchen den Besuchenden auf dem Hausflur, oder gar außerhalb des Vorplatzes stehen läßt, während es ihn meldet; es sollte angewiesen sein, ihn stets in ein Zimmer zu führen. Eine bekannte Höflichkeitsform ist es, dem Besuch den Platz zu unserer Rechten anzuweisen, doch spricht dabei die Stellung der Möbel, die Lage der Fenster, durch welche das Licht oft in belästigender Weise eindringt,[254] mit. Der Herr reicht der Dame stets den rechten Arm, um sie zu führen und sitzt bei Tisch an ihrer linken Seite. Daß es unhöflich ist, in Gegenwart Fremder von unseren Privatangelegenheiten zu sprechen: etwa mit dem Mann von den Kindern, mit der Haushälterin von Wirtschaftssachen; unhöflich, einen Brief, den wir in ihrem Beisein empfangen, zu lesen, ohne ihre Erlaubnis dazu zu erbitten; unhöflich eine Arbeit fortzusetzen, mit der wir bei ihrer Ankunft beschäftigt waren – wenn es nicht gute Freunde sind, die es uns gütigst gestatten wollen – alles das dürfen wir als bekannt voraussetzen.

Schließlich gibt es noch eine Menge Höflichkeitsformen im geselligen Verkehr, die sich in Worte kleiden. Das wegen seiner Höflichkeit berühmte französische Volk führt die Ausdrücke: »s'il vous plaît«, »pardon«, »merci«, fortwährend im Munde. Die beiden letzteren hören wir freilich auch bei uns genug (das »merci« von jedem Kellner und Lohndiener!), aber mit dem »bitte«, »entschuldigen Sie« und »danke« sind wir sparsamer, als nötig ist. Besonders fällt das auf, wenn man jemanden zu widersprechen, einen Irrtum zu verbessern hat; dergleichen ist stets durch eine Bitte um Entschuldigung einzuleiten. Auch Untergebenen gegenüber sollte man das »bitte« nicht auslassen, so oft man sie um einen Dienst ersucht, sowie das »danke«, wenn er geleistet worden. Zuviel können wir in dieser Hinsicht nicht leicht thun, und das »Zuwenig« gibt uns den Schein eines Hochmuts, von dem wir vielleicht in Wirklichkeit ganz frei sind.

Höflichkeit ist das Kleingeld des geselligen Verkehrs. Das Gold, die großen Geistes- und Charaktereigenschaften, haben wir nicht täglich Gelegenheit, der Gesellschaft zu produzieren; allein das Kleingeld wird fortwährend verlangt, und wenn es fehlt, so können jene es nicht immer ersetzen.[255]

Im allgemeinen finden wir, daß die Menschen um so höflicher sind, je höher sie stehen. Der Ungebildete, der Emporkömmling glaubt sich etwas zu vergeben, indem er höflich gegen seine Untergebenen ist; der wahrhaft gebildete, wahrhaft vornehme Mensch sagt mit Lessing: »Ich kann meine Würde niederlegen und kann sie wieder aufnehmen.« Die Comtesse de Bassanville erzählt, daß die erste Person, vor der Talleyrand beim Ausgehen täglich den Hut gezogen habe, sein Thürsteher gewesen sei. Aber freilich, fügt sie hinzu, Talleyrand war auch ein Fürst!


Höflichkeitsformen in der Gesellschaft

Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 251-256.
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