im Gasthof.

[364] Infolge des so ungeheuer gesteigerten Verkehrs hat sich auch die Zahl der Etablissements für Fremde außerordentlich gesteigert, und jedes Reisebuch empfiehlt uns deren in jeder größeren Stadt eine ganze Menge. Die besten sind überdies mit einem Sternchen bezeichnet, und wir möchten jedem Reisenden raten, ein mit diesem Verdienstorden geschmücktes Gasthaus zu wählen, da nur zu häufig bei den übrigen das »billig« mit dem »schlecht« verbunden ist. Was wir vorhin über die Notwendigkeit einer gut gefüllten Reisekasse sagten, bezieht sich besonders auf die Gasthöfe, denn aufs Sparen sind dieselben nicht berechnet. Es mag ja möglich sein, sich auch in der Beziehung billig einzurichten; wer aber mit Lokalen einer fremden Stadt nicht genau Bescheid weiß, fällt meistens »hinein« und zahlt für ein schlechtes Quartier und ungenießbare[364] Kost schließlich ebensoviel, wie man ihm in einem guten Gasthof abgefordert hätte.

Der Hotelbesitzer, resp. die Kellner, werden einen eintretenden Fremden leicht nach seinen Manieren zu klassifizieren wissen. Der, »Parvenu« oder auch der »Herr von Habenichts« schreit nach einem Zimmer, findet alles schlecht, setzt das ganze Dienstpersonal in Bewegung. Der gebildete Mensch verlangt mit ruhiger Höflichkeit, was er braucht, läßt sich aber auch keine Vernachlässigung gefallen. In manchen unserer sonst ganz guten Hotels sind z.B. die Toiletteneinrichtungen noch sehr primitiver Natur. Mit dem Wasser ist man oft sehr sparsam, der Eimer für das gebrauchte fehlt häufig ganz; der Spiegel hängt so hoch, daß eine nicht große Dame keinen Nutzen davon hat, und für das Aufbewahren der Kleider, die man bei längerem Aufenthalt doch nicht im Koffer lassen mag, findet sich, statt des Kleiderschranks oder der »Garderobe«, nur ein allem Staub ausgesetzter Ständer. Da sollten auch Damen nicht zu ängstlich sein, das Fehlende zu fordern; ein kleines Trinkgeld an das Stubenmädchen oder den Kellner genügt meistens, um das Gewünschte zu erlangen.

Im Gasthof, wie auch auf einem Schiff, thut man wohl, mittags an der Wirtstafel – Table d'hôte, wie wir immer noch sagen – zu speisen. Erscheint der Preis auch hoch, so erhält man doch eine reichliche und meist gute Mahlzeit, während man bei dem Essen nach der Karte entweder nur halb satt wird, oder weit mehr ausgeben muß.

Nimmt man am Tische Platz, so grüßt man seine beiden Nachbarn durch stummes Verbeugen. Das Zureichen der Schüsseln und andere kleine Dienste, etwa die Bitte um die Wasserflasche, das Salzfaß seitens der Dame an den Herrn, bahnen leicht eine Unterhaltung an, die dann aber mit etwas gedämpfter Stimme zu führen ist. Natürlich[365] sind auch hier alle persönlichen Fragen zu vermeiden, ebenso wie jedes Kritisieren des Gasthofs oder der gebotenen Speisen. Laut ausgesprochene tadelnde Bemerkungen über letztere oder auffallendes Stehenlassen derselben, indem man den Teller mit einer Miene des Widerwillens zurückschiebt, sind Rücksichtslosigkeiten gegen den Wirt, der sich nicht verteidigen darf, wie gegen die übrigen Gäste, denen das Mahl dadurch verleidet wird.

Für einzelne, besonders jüngere Damen ist der Aufenthalt in einem Gasthof nicht angenehm. Es wird stets auffallen, eine Dame allein das Gastzimmer betreten zu sehen; hinsichtlich des Diners thut sie wohl, es auf ihrem Zimmer einzunehmen, oder doch sich beim Wirt zu erkundigen, ob nicht noch andere Damen an der Wirtstafel teilnehmen und zu bitten, ihr einen Platz neben diesen anzuweisen. Aeltere Damen aber und besonders mehrere Damen zusammen können ungeniert im Gastzimmer erscheinen, an der Mittagstafel speisen, sich auch ihr Frühstück im Eßsaal servieren lassen, was immer angenehmer ist, als im Schlafzimmer, das, dunstig und unaufgeräumt, weder geeignet für eine Mahlzeit, noch für den Empfang des bedienenden Kellners ist.

Da die Zimmer in einem Gasthof meist nur durch dünne Wände voneinander geschieden sind, so hat man mit dem Sprechen vorsichtig zu sein. Laut reden sollte man nie; abends spät aber ist es rücksichtslos, auch nur viel zu flüstern, und ein bedeutungsvolles Räuspern im Nebenzimmer erinnert uns dann oft daran, daß man uns hört und wir den Schlaf des Nachbarn stören.

Mit Trinkgeldern sollte man im Gasthof, wie auf Reisen überhaupt, nicht sparen: man erkauft sich Dienstfertigkeit und freundliche Gesichter damit. Freilich ist der »service« auf der Rechnung gewöhnlich besonders berechnet[366] (ich würde lieber für »Bedienung« zahlen!), allein der Kellner, der uns die Quittung überbringt, der Thürsteher (natürlich Portier!), der uns zehnmal des Tags beim Ein- und Ausgehen grüßt, der Hausknecht, der unsere Stiefel reinigt und unseren Koffer besorgt, erwarten doch ein kleines Geldgeschenk und würden uns ohne das bei unserem nächsten Besuch einen schlechten Empfang bereiten. Ja, ich glaube, die Kellner haben Fühlung untereinander oder teilen es einander mit, ob ein Reisender, »nobel« ist oder »schäbig«. Und zu den letzteren möchten wir doch nicht gezählt werden!

Mancher Reisende ärgert sich über die 50 Pfennig, die ihm auf die Rechnung gesetzt sind für zwei Lichter, welche er nie angesteckt hat, und er nimmt sie, als sein teuer erkauftes Eigentum, mit sich fort. Oder er – in diesem Falle wohl eher »sie« – findet es unnötig, daß sie den Zucker stehen lassen soll, den sie doch bezahlt, und verleibt die nicht gebrauchten viereckigen Zuckerstückchen ihrem Proviantkorb ein, nur das letzte als »Respekt« in der Schale zurücklassend. Gegen dies Verfahren ist vom Standpunkt des Rechts aus wohl nichts einzuwenden; von dem der seinen Sitte aus betrachtet aber müssen wir es als kleinlich und unnobel entschieden verwerfen.


Der Zweck unserer Reisen und eines längeren Aufenthalts in einem Gasthofe ist sehr oft ein gesundheitlicher. Zur Heilung einer Krankheit oder zu unserer Erholung verbringen wir einen Teil der guten Jahreszeit in einem


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 364-367.
Lizenz:
Kategorien: