Zehnte Wahrnehmung.

[314] Alle Menschen handeln mehr oder weniger nach Vorurtheilen, d.i., nach Meinungen, die man zu untersuchen entweder nicht Zeit und Lust, oder nicht Kraft und Gelegenheit genug gehabt hat, und die man also ohne hinreichenden Grund für wahr annimmt. Ganz frei von diesem Fehler ist Keiner, selbst der Weise nicht. Wie könnte er auch, da die Zahl der Urtheile und Meinungen unendlich, er selbst aber, wie alle Andere, an Zeit und Kraft zum Untersuchen und Ergründen so sehr beschränkt ist? Auch er wird von dem Strome des Lebens fortgerissen;[314] er kann nicht still stehen, so oft er will, um den Satz, nach dem er handeln soll, erst in Ueberlegung zu nehmen; er muß sich daher oft entschließen, den Satz zu bejahen oder zu verneinen, und dieser Bejahung oder Verneinung gemäß zu handeln, bevor er ihn gehörig untersucht hat, d.i., er muß nach einem Vorurtheile handeln. Alles, was den Narren und ihn in diesem Stücke unterscheidet, ist: daß dem Einen gewöhnlich, auch in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens begegnet, was dem Andern nur zuweilen und größtentheils nur in Nebendingen widerfährt.

Am allgemeinsten verbreitet und am schwersten auszurotten sind die Vorurtheile der Völkerschaft, des Standes und der Glaubenszünftelei. Ob es jemahls einen Weltbürger im eigentlichen Sinne des Worts gegeben habe, welcher sich von allen dreien ganz losgemacht hatte, lasse ich dahin gestellt sein; mir ist ein solcher niemals vorgekommen.

Vermöge der genannten Vorurtheile haben wir alle, der Eine mehr, der Andere weniger, eine gewisse, oft schlechtgegründete Vorliebe für das Land unserer Geburt, für unsern Stand und für die Glaubenszunft, zu der wir uns bekennen; und das Merkwürdigste dabei ist, daß uns die Anhänglichkeit daran und die Neigung zur Beförderung des Emporkommens,[315] der Macht und des Glanzes derselben selbst dann nicht ganz verläßt, wann wir höchstunzufrieden damit sind, und alle Bande, die uns an dieselben fesselten, schon völlig zerrissen haben. Dis ist etwas so gewöhnliches, daß es noch gar nicht befremden würde, einen katholischgebornen Gottesleugner die Anrufung der Heiligen gegen einen Protestanten, und einen Glaubensüberläufer (Renegaten) in Constantinopel die alleinseligmachende Kraft des christlichen Glaubens gegen einen Türken vertheidigen zu hören. Der Grund davon ist, daß diese Vorurtheile uns, wo nicht mit der Muttermilch, doch schon in einem Alter eingeflößt werden, in welchem wir noch wenig Fähigkeit zu deutlichen Begriffen, und noch wenig Uebung im Nachdenken haben, und daß dergleichen Meinungen in die Vorstellungen von unserm jetzigen und künftigen Wohlsein nach und nach so innig verwebt werden, daß sie schwerlich ganz wieder davon getrennt werden können.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 314-316.
Lizenz:
Kategorien: