3. In Bezug auf die dritte und siebzehnte Wahrnehmung.

[427] Die allgemeinste Lehre, welche aus diesen Wahrnehmungen fließt, ist folgende:


Erwarte nicht, daß die Menschen sich für dich, es sei für deine Person oder für deine Angelegenheiten, mehr verwenden werden, als deine Person oder deine Angelegenheiten, durch eine oder die andere Beziehung auf sie selbst, etwas Anziehendes für sie haben.
[427]

Man thut nichts ohne Bewegungsgründe; und kein Bewegungsgrund hat für die gewöhnliche menschliche Seele Gewicht oder Kraft, als der, welcher ihr zwischen dem, wozu sie sich bestimmen soll und zwischen ihrem eigenen Wohlsein irgend eine Beziehung darbietet. Was sie also lieben soll, das muß ihr erst gefallen; und was sie freiwillig für Andere thun soll, in dem muß sie erst irgend etwas Angenehmes oder Gutes auch für sich selbst wahrnehme. Hieraus ergeben sich folgende Lebensregeln.


1. Wünschest du die Liebe der Menschen zu erwerben, so bestrebe dich, ihnen zu gefallen. Was dazu er fodert werde, habe ich im Allgemeinen schon oben angedeutet, nämlich: reine Sittlichkeit, wahre Verdienste und große Bescheidenheit. Diese drei Stücke begreifen in der That alles in sich, was die Kunst zu gefallen erfodert: aber einiges von dem, was die allgemeinen Worte Sittlichkeit und Verdienste in sich sassen, verdient hier ganz besonders ausgezeichnet und empfohlen zu werden. Dis sind nämlich folgende gesellige Tugenden, die mehr als alle andere dazu beitragen, einen Menschen angenehm und beliebt zu machen.
[428]

Erstens: der Wunsch und der Trieb zu gefallen. Die Geschlechtsliebe abgerechnet, liebt man Keinen, der uns nicht zu erkennen gibt, daß er von uns geliebt zu werden wünsche, und uns wieder zu lieben geneigt sei. Nur der Antheil, den Andere an uns nehmen oder zu nehmen scheinen, bewegt uns, auch von unserer Seite Antheil an ihnen zu nehmen. Wer also kein Verlangen nach Anderer Wohlwollen äußert, dem gewährt man auch keins. Man will sich niemand aufdringen; man fühlt seine Eitelkeit beleidiget von dem, der es nicht her Mühe werth zu achten scheint, sich um unsere Zuneigung zu bewerben. Man bleibt also nicht bloß gleichgültig gegen ihn, sondern man wird ihm sogar auch abgeneigt. Gib daher gern allen Menschen, versteht sich ohne Zudringlichkeit und ohne die Schranken der anständigen Bescheidenheit zu überschreiten, zu erkennen, daß ihre Achtung und ihr Wohlwollen einen großen Werth für dich haben. Dis wird in den meisten Fällen schon hinreichend sein, sie dir verbindlich zu machen.


Zweitens: äußerliche Annehmlichkeiten. Hiezu gehört, daß man nicht nur nichts Unangenehmes und Widerliches in seiner Person, in seinem Anzuge und in seinem Betragen, sondern vielmehr das Gegentheil davon habe. Daß hiezu nicht gerade körperliche Schönheit, sondern nur die Schönheit der guten und rechtschaffenen Leute, wie ich sie[429] nannte, erfodert werde, habe ich schon oben dargethan.


Drittens: ein großes Maß von Freundlichkeit, Heiterkeit und guter Laune. Es ist unbeschreiblich, wie viel diese köstliche Eigenschaft einer in sich glücklichen Seele dazu beiträgt, uns die Gemüther der Menschen geneigt zu machen. Wer damit ausgerüstet ist, findet überall eine freundliche Aufnahme; wem es daran gebricht, den wird man niemahls lieb gewinnen. Man wird ihm, um seiner anderweitigen Verdienste willen, vielleicht kalte Hochachtung beweisen; aber herzliche Zuneigung gegen ihn empfinden wird man nie.


Viertens: zuvorkommende Dienstfertigkeit und Gefälligkeit. Diese wirken geradezu auf die beiden stärksten Triebfedern in der menschlichen Natur, auf die Eigenliebe und auf die Eitelkeit der Menschen. Auf jene, weil unsere Dienstfertigkeit ihnen Vortheil bringt; auf diese, weil sie daraus schließen, daß man sie schätze und liebe, daß man also irgend etwas Anziehendes, irgend einen Vorzug, irgend ein Verdienst in ihnen bemerkt haben müsse. Dis Gefühl thut so wohl; und um es zu unterhalten, ist man so gern erkenntlich gegen den, der es in uns erweckte! Man erweiset also dem Dienstfertigen wieder Dienste; man bezeigt sich gegen die Gefälligen gleichfalls gefällig;[430] das Band des gegenseitigen Wohlwollens ist geknüpft.


Ich habe diese schönen geselligen Tugenden hier nur berühren dürfen, weil ich theils schon oben davon gehandelt habe, theils weiter unten noch einmahl darauf werde zurückkommen müssen. Jetzt schreite ich zu den übrigen Klugheitsregeln fort, welche sich aus der obigen allgemeinen Hauptregel zunächst ergeben.


2. Wünschest du jemand zu irgend etwas – versteht sich, daß dieses Etwas von der Vernunft und dem Gewissen gebilliget werde – wobei sein eigener Vortheil nicht alsobald in die Augen fällt, zu bewegen: so fange ja jedesmahl damit an, ihm diejenige Seite, von welcher die Sache irgend eine angenehme Beziehung auf ihn selbst hat, oder haben kann, zuvörderst und am nächsten vor die Augen zu rücken; d.i., zeige ihm, daß sein eigener Vortheil dabei obwalte. Dieser Vortheil braucht nicht immer in Geld und Geldes Werth zu bestehen; ungeachtet nicht zu läugnen ist, daß für die allermeisten Menschen dieses bei weiten das größte Gewicht hat. Es kommt dabei auf die herrschende Leidenschaft der Person an, die man nothwendig erst erforscht haben muß.[431] Ist diese Geiz: so muß man ihr freilich nicht mit feinern und edlern Bewegungsgründen kommen. Ist sie Ehrgeiz und Eitelkeit, so muß man sich wohl hüten, die Geldvortheile in der Reihe der Bewegungsgründe, welche auf sie wirken sollen, oben an und in das stärkste Licht zu stellen. Man darf sie in diesem Falle höchstens nur schwach durchschimmern lassen. Ist sie Sinnlichkeit, so muß man ihr irgend ein daraus erwachsendes Vergnügen für sie begreiflich machen können. Und so auch in Ansehung aller übrigen Leidenschaften, je nachdem diese oder jene in Jemandes Seele die herrschende ist.

Man kann hiebei in der Kenntniß jedes einzelnen Menschen und in der Anwendung dieser Kenntniß bei der Wahl der Bewegungsgründe, wodurch man auf ihn wirken will, nicht leicht zu sehr ins Einzelne gehn. Es ist nämlich nicht genug, die herrschende Leidenschaft eines Menschen im Allgemeinen zu wissen; man muß auch die besondern Bestimmungen derselben kennen, die bei verschiedenen Menschen sehr verschieden zu sein pflegen. So ist es, z.B. nicht genug, nur zu wissen, daß jemand ehrgeizig sei; die Frage ist: welche besondere Richtung diese Leidenschaft bei ihm insbesondere genommen habe? Ob er durch Gelehrsamkeit, Witz, Schriftstellergaben, Kriegesthaten, Geschäftsfleiß, Pracht – oder wodurch sonst, sich auszuzeichnen suche? Der Schluß von der gewöhnlichen[432] Beschäftigungsart der Menschen oder ihrem eigentlichen Beruf auf eine demselben antwortende besondere Artung (Modifikation) ihrer Leidenschaften ist nicht immer, sondern nur dann erst sicher, wenn man weiß, daß sie ihren Beruf lieben und ihre gewöhnlichen Geschäfte gern verrichten, welches bekanntlich nicht immer der Fall ist. Sonst ist es gar nichts Ungewöhnliches oder Befremdliches, ihre Lieblingsneigungen und ihre Berufsgeschäfte nach ganz entgegengesetzten Richtungen laufen zu sehen.

Man muß also das, wozu man die Menschen bewegen will, ihnen so vorzulegen wissen, daß nicht nur ihre herrschenden Leidenschaften überhaupt, sondern auch die daraus entsprungenen besondern Schooßneigungen eines Jeden, wenn ich so sagen darf, ihre Rechnung dabei finden. Ich gestehe dir indeß gern, mein Kind, daß die Fälle, wo der brave Mann oder das brave Weib zu solchen Feinheiten ihre Zuflucht zu nehmen, sich um sehr beträchtlicher guter Zwecke willen genöthiget sehen dürften, im gewöhnlichen menschlichen Leben und für Personen, welche keine Staatsleute sind, nicht so häufig vorkommen, daß derjenige, dem diese Art von Weltklugheit mangelt, sich deswegen Sorge zu machen, nöthig hätte. In den allermeisten Fällen ist für Leute unsers Standes die schlichte Klugheit einer gewissenhaften Rechtschaffenheit, verbunden mit der allgemeinen Grundlage von Menschenkenntniß,[433] die ich oben dargelegt habe, hinreichend; und was man damit nicht ablangen kann, das muß man, wenn es uns an tieferer und feinerer Kenntniß der menschlichen Gemüthsarten fehlt, zu entbehren wissen. Da es indeß Leute genug gibt, welche die feinern Triebfedern der Staatsklugheit auf uns spielen zu lassen für gut finden, so ist es nöthig, sie einigermaßen kennen zu lernen, auch wenn man selbst zu brav und edel ist, als daß man sich zur Anwendung derselben herablassen könnte.


Dieses aber kann ich dir, mein liebes Kind, nicht zu oft wiederholen, daß du


3. in der Regel nie etwas von den Menschen, am wenigsten von dem verfeinerten und üppigen Theile derselben, erwarten und verlangen mußt, was ihrem eigenen Vortheile, und zwar nach ihrer eigenen Schätzung desselben, zuwider ist; daß du also auch nichts von ihnen hoffen oder verlangen mußt, als nur das, wobei es ihnen selbst einleuchtet, daß Vortheil und Mühe oder Aufopferung zum mindesten im Gleichgewichte stehen. Ich sagte: nach ihrer eigenen Schätzung; denn auf diese, nicht auf die deinige kommt es dabei an.[434] So verschieden aber die Menschen in ihren Neigungen und Gewohnheiten sind, eben so verschieden sind sie auch in ihrem Urtheile über das, was ihnen gut und nützlich, oder unnütz und entbehrlich ist. Der Eine wird also etwas für einen großen, aller seiner Anstrengung würdigen Gewinn halten, was einem Andern völlig gleichgültig oder wol gar zuwider ist. Hier ist also abermahls Kenntniß des persönlichen Karakters eines Jeden nöthig, wenn man mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussehen will, wie viel oder wie wenig man in dieser oder jener Angelegenheit ihm zumuthen dürfe. Wer sich nicht angelegen sein läßt, dieses Persönliche und Besondere bei Jedem insbesondere zu erforschen, der wird oft in den Fall gerathen, bald Diesem bald Jenem etwas anzusinnen, was Dieser und Jener entweder gar nicht oder schlecht thun werden; und er wird dann jedesmahl den Verdruß haben, sich in seinen Erwartungen getäuscht und die darauf gebauten Entwürfe vereitelt zu sehen. Die meisten Klagen über Undienstfertigkeit, Unfreundlichkeit und Lieblosigkeit der Menschen entstehen aus keiner andern Quelle. Die nämlichen undienstfertigen und lieblosen Menschen, die dir jetzt eine Kleinigkeit abschlagen, weil sie ihrem Vortheile, das heißt, ihren Gewohnheiten, Neigungen und Absichten zuwider ist, werden, wenn du diese zu beobachten und zu benutzen verstehst, sich in weit größern Angelegenheiten zu weit schwerern Diensten bereit und willig finden lassen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 427-435.
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