Theateraufführungen, lebende Bilder.

[85] Beides erfordert, wenn es künstlerisch dargestellt werden soll, einen unterrichteten Dirigenten, einen geschickten Künstler, doch kann es in einfacher Ausführung und mit weniger Ansprüchen auch Freude bereiten und zur geselligen Unterhaltung angenehm beitragen.

Wird der Vorschlag gemacht, ein Theaterstück aufzuführen, beobachte die junge Dame dabei ebenfalls den seinen Takt, sie biete sich niemals selbst zum Mitspielen an, sondern warte bescheiden, bis man sie dazu auffordert. Wird ihr eine Rolle angeboten, nehme sie dieselbe nicht unbedingt an, sondern prüfe sich erst, ob sie auch imstande sein wird, dieselbe so auszuführen, daß sie dadurch das Gesamtspiel der anderen nicht stört, und falls sie sich für dieselbe geeignet glaubt, mache sie sich nicht oberflächlich, sondern mit allem Ernst daran, sie auswendig und ohne Anstoß zu können. Es ist nichts störender, als wenn bei einer Aufführung durch mangelhaftes Erlernen Lücken entstehen und so der Eindruck des Ganzen beeinträchtigt wird.

Ebensosehr verletzt es den guten Ton, wenn ihr eine Rolle zuerteilt wird, die nicht nach ihrem Geschmack ist, ihr[85] etwa zu unbedeutend erscheint, und sie ihre Unzufriedenheit und Empfindlichkeit darüber laut werden läßt. Nur, wenn dieselbe ganz und gar ihrer Persönlichkeit widerspricht, erhebe sie höflichen Einwand dagegen und bitte, daß man sie lieber vom Spiel ausschließen möchte, da sie fürchte, das ihr Zuerteilte nicht durchführen zu können.

Hat sie indes eine Rolle übernommen, bestrebe sie sich, diese so darzustellen, wie sie in den Rahmen des Stückes paßt; sie suche ebensowenig durch die eigene Person eine andere Mitspielende in den Schatten zu stellen, wie auch durch ein zerstreutes, nachlässiges Spiel ihre Gleichgiltigkeit an der ganzen Sache zu verraten.

Dieselben Regeln der seinen Bildung gelten bei der Aufführung lebender Bilder. Auch hierbei wird die bescheidene Zurückhaltung den seinen Takt kennzeichnen; kein Haschen nach einer Hauptfigur, kein sich Herandrängen zu einer der eigenen Persönlichkeit ganz entgegengesetzten Darstellung darf sich kundgeben. Die junge Dame vergesse nicht, daß auch andere an diesem Vergnügen teilnehmen wollen und dieselben Ansprüche daran haben, ja noch vielleicht überwiegendere als sie selbst.[86]

Quelle:
Ernst, Clara: Der Jungfrau feines und taktvolles Benehmen im häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Mülheim 3[o.J.]., S. 85-87.
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