Wohlanständigkeit den Geschwistern gegenüber.

[28] Ein Bruder und eine Schwester,

Nichts Treueres kennt die Welt,

Kein Goldkettlein hält fester,

Als eins am andern hält.


Zwei Liebste so oft sich scheiden,

Denn Minne, die ist voll Wank,

Geschwister in Lust und Leiden,

Sich lieben ihr lebenlang.


So treulich als wir beisammen

Der Mond und die Erde gehn,

Als wie der Sternelein Flammen

Alle Nacht bei einander stehn.
[28]

Die Engel im Himmel sich's zeigen

Entzückt bis in Herzensgrund,

Wenn Bruder und Schwester sich neigen

Und küssen sich auf den Mund.

Paul Heyse.


Die erwachsene Schwester tritt zwar in eine andere Stellung den jüngeren Geschwistern gegenüber, doch soll sie dieselbe nicht plötzlich einnehmen wollen. Es bewiese nicht den richtigen Takt, wenn sie, die kürzlich noch im kurzen Kleide mit ihnen Ball und Reisen gespielt hat, nun, da sie ein Schleppkleid trägt, auch sogleich verlangt, von ihnen respektiert zu werden. Sie darf keinen schulmeisterlichen Ton gegen sie annehmen, dadurch erweckt sie nur ihren Widerspruch, und muß es sich dadurch gefallen lassen, gelegentlich von ihnen ausgelacht zu werden. Erst allmählich gewöhne sie sie daran, nun auch ihr, wie allen alteren Personen, zu gehorchen, und niemals verspotte sie ihre kleinen, kindischen Freuden und Beschäftigungen, sondern lasse sich dieselben gern von ihnen erzählen. Den älteren Geschwistern gegenüber wird sie aber wieder die Jüngsterwachsene sein, und von ihnen verlange sie wieder nicht plötzlich, die ihnen Gleichberechtigte zu sein. Sie zeige sich weder empfindlich, noch schmolle sie unfreundlich, wenn die Aeltesten sie noch nicht in ihre kleinen Geheimnisse einweihen, und beweise ihnen erst durch die That, daß sie jetzt das reifere Urteil der Erwachsenen sich aneignet.

Mit älteren Brüdern falle sie nicht in einen burschikosen Ton, er steht niemals einem jungen Mädchen wohl an.

Geschwisterliebe ist ein heiliges Band, im geschwisterlichen Verhältnis kann eine Jungfrau ihre schönsten Eigenschaften entfalten. Den Brüdern sei sie die Dienstfertige und Hilfbereite, die mit Strickzeug und Nähnadel nicht müde wird, für ihre wohlanständige Kleidung zu sorgen, den Kleinen widme sie schon früh in mütterlicher Treue und Aufmerksamkeit ihre thätige Liebe.[29]

Quelle:
Ernst, Clara: Der Jungfrau feines und taktvolles Benehmen im häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Mülheim 3[o.J.]., S. 28-30.
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