Ueber Lebensart im Familienkreise.

[23] »Ehre Vater und Mutter, auf daß es Dir wohl gehe und Du lange lebest auf Erden«, hat vor einigen tausend Jahren der weiseste aller Gesetzgeber gesagt.

Höflichkeit in der Familie zu zeigen, ist mehr als Lebensart: es ist eine Pflicht.

Was giebt es Heiligeres – wir sagten dieß bereits einmal und müssen es hier wiederholen – was giebt es Heiligeres, als eine Mutter; sie, welche Euch das kostbarste der Güter, das Leben, verlieh, und Euch dann von der Wiege an tausendfältige Liebkosungen und Sorgfalt widmete? Euretwegen hat sie viele Nächte schlaflos zugebracht, wachend an Eurem Lager, lauschend auf Eure Athemzüge, sich die Nahrung, jede Zerstreuung, jeden Umgang mit der Welt versagend, um nur Euch zu leben,[23] und dieß selbst da schon, als Ihr diese Liebe und Aufopferung noch nicht begreifen, ihr noch nicht dafür danken konntet.

Liebet Euren Vater, ihn, der so gerecht, so treu, so rechtschaffen ist; der von Euch seit Eurem zartesten Alter die Gefahren der Welt fern hielt, der Euch unterrichtete, Euch mit dem Leben und seinen Anforderungen bekannt machte, als Ihr heranwuchset, dessen reines Leben Euch ein edles Beispiel sein muß, denn ihm verdankt Ihr es, daß Ihr kühn in der Welt einher schreiten, daß Ihr die Stirn hoch tragen dürft, denn er verlieh Euch einen geachteten Namen, den Namen eines Ehrenmannes.

Man muß sich nicht nur achtungsvoll und aufmerksam gegen seine Eltern benehmen, sondern auch aufrichtig, natürlich und vertrauensvoll gegen sie sein. Was sie an ihren Kindern gewöhnlich am Meisten lieben, das ist die kindliche Offenherzigkeit und Zutraulichkeit. Durch Euer Herz mehr, als durch Euren Geist und Euren Verstand, müßt Ihr ihnen zu gefallen suchen.

Lasset nie wegen irgend einer kleinlichen Frage des Interesses Eigennützigkeit in Eurer Familie einreißen. Wie auch der Character Eurer Eltern und Eurer Geschwister sei, solltet Ihr doch nie danach streben, den Sieg über sie zu erringen und es sorgfältig vermeiden, ihnen zu mißfallen. Der gute Sohn, der gute Bruder, ist schon dadurch immer auch ein rechtschaffener Mensch.

Gegen Euren Großvater, diesen Greis, der Euch vergöttert und dessen weißes Haar, gleich dem eines Patriarchen, selbst Fremden Ehrfurcht einflößt, müßt Ihr ganz besonders die unbedingteste Ehrerbietung beweisen. Kränket oder verletzet ihn in Nichts, schonet seine Vorurtheile und Launen, achtet auf seine leisesten Wünsche, erlaubet Euch nie einen Widerspruch gegen das, was er sagt, seid nachsichtig gegen seine Schwächen. Das Alter ist gern geschwätzig, höret daher voll Aufmerksamkeit und Achtung auf das, was er sagt, und hättet Ihr auch schon unzählige Male dasselbe aus seinem Munde vernommen.[24] Spielet auch nie auf sein hohes Alter an, denn Greise lieben die Jugend und wollen nur selten selbst alt sein, weil mit dem Alter oft auch der Gedanke an Schwäche und Gebrechlichkeit verbunden ist. Euer kräftiger Arm diene Dem als Stütze, der Eure ersten Schritte lenkte; erstattet ihm in dieser Beziehung hundertfach die Schuld der Dankbarkeit.

Leben Eure Eltern nicht im Wohlstande, so müßt Ihr um desto rücksichtsvoller gegen sie sein. Wehe dem Kinde, das über seine Eltern, seine Familie, erröthet. Wer seine Geburt verachtet, verdiente, gar nicht geboren zu sein. Von je tiefer Ihr ausginget, um desto größer ist Euer Verdienst, eine gewisse Höhe erreicht zu haben. Durch Eure Rechtschaffenheit zuerst, und später durch Euer Talent oder Eure Verdienst, müßt Ihr trachten, den bis dahin unbekannten Namen Eurer Eltern berühmt zu machen, denn der wahre Adel rührt nicht von der Geburt her, sondern von dem Herzen.

Habet Ihr Kinder, so ahmet gegen diese das Benehmen Eurer Eltern gegen Euch in alle Dem nach, was Euch selbst angenehm berührte oder bei reiferem Verstande als Wohlthat erschien, wenn Ihr auch als Kinder darin vielleicht eine Härte erblicktet. Hatten Eure Eltern Schwächen, so vermeidet es, diese auch an Euch Euren Kindern bemerkbar zu machen, und trachtet danach, ihnen in allen Dingen ein nacheiferungswerthes Beispiel zu sein.

Heget Achtung vor den keuschen Ohren und dem zarten Sinne, der unschuldigen Stirn Eurer Kinder, die instinctmäßig über jedes Unrecht, jedes Böse erröthen. Seied gut, seied sogar nachsichtig gegen Eure Kinder, aber vermeidet es, Eure Nachsichtigkeit zur Schwäche ausarten zu lassen.

Suchet mehr die Liebe Eurer Kinder zu gewinnen, als ihnen Furcht vor Euch zu erwecken, oder wenigstens habe diese Furcht nie einen andern Ursprung, als das Bewußtsein eines begangenen Unrechts oder Fehlers.[25]

Bringet Euren Kindern jede Tugend bei und unterrichtet sie schon früh in Eurer Religion, damit sie gemeinschaftlich mit Euch beten können.

Begehet keine Ungerechtigkeit gegen eines Eurer Kinder und ziehet keines dem andern vor. Die Kindheit leidet gar leicht durch Gleichgültigkeit; ihr Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, oder es öffnet sich der Eifersucht und wird dann neidisch oder boshaft.

Strafet Eure Kinder so wenig als irgend möglich durch körperliche Züchtigung; Mißhandlung aber oder allzu große Strenge sind nur nachtheilig, denn durch sie wird kein Kind gebessert, leicht aber störrisch und verschlossen gemacht.

Wachet beständig mit liebender Sorgsamkeit und Aufmerksamkeit über Eure Kinder, denn sie werden einst erwachsen sein, und die ersten Eindrücke und Neigungen schlagen oft so tiefe Wurzeln, daß die größten Anstrengungen späterer Jahre sie nicht auszurotten vermögen.

Selbstverständlich ist es, daß die Mutter vorzugsweise über die Tochter zu wachen hat. Der Vater dagegen lasse es seine Aufgabe sein, der beste und, wo möglich, der einzige Freund seines Sohnes zu sein.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 23-26.
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