19) Der Freimüthige.

[89] Die Freimüthigkeit besteht darin, immer die Wahrheit zu sagen, aber nicht jede Wahrheit.

Sagt man Jemand eine Wahrheit, die ihn kränken oder seine Eigenliebe verletzen kann, so ist man nicht freimüthig, sondern unbescheiden und grob.

Man verletze nie durch zu große Offenherzigkeit oder Wahrheitsliebe die Eigenliebe eines Menschen; man macht sich sonst denselben zu einem unversöhnlichen und erbitterten Feinde.

Je schärfer man eine verletzbare Stelle trifft, um desto tiefer und schmerzender wird die Wunde sein, um desto unvergänglicher also auch die Erinnerung an den Urheber derselben.

Macht eine Frau die Aeußerung, sie sei offenherzig oder freimüthig, so darf man sicher darauf rechnen, daß sie dadurch eine Ausrede oder Entschuldigung für eine beabsichtigte Derbheit oder Grobheit sucht.

Besser ist es, aus Höflichkeit zu lügen, als eine verletzende Wahrheit zu sagen. Indeß läßt sich mit einiger Umsicht und Gewandtheit Beides vermeiden.

Wird man nach dem Geheimniß eines Andern gefragt, so darf die Freimüthigkeit oder Aufrichtigkeit nicht bis zu der Enthüllung desselben gehen.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 89.
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