Die Ermordung der achtjährigen Lucie Berlin
Ein Beitrag zum Zuhälter- und Dirnenwesen in Berlin

Ende September 1891 gelangte vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I ein Prozeß wegen Ermordung eines Nachtwächters zur Verhandlung, der ein geradezu grauenhaftes Bild von dem Treiben der Zuhälter und Dirnen in Berlin entwarf. Wenn sich die Schatten der Nacht über die Riesenstadt senken und das Geräusch der Weltstadt, das von gewisser Ferne dem Rauschen der Meereswellen gleicht, verstummt ist, dann tobt das Leben und Treiben in den Hauptstraßen unvermindert weiter. Es tauchen alsdann Gestalten auf, die bei Tag zumeist der Ruhe pflegen, weil ihre Beschäftigung in die Nachtstunden fällt und weil sie auch vielfach Ursache haben, das Tageslicht zu scheuen. Wer in der Nacht die Hauptstraßen Berlins, insbesondere die Leipziger- und Friedrichstraße passiert, wird ein Treiben beobachten können, das den Menschenfreund geradezu mit Ekel und Abscheu erfüllt. Scharenweise begegnet man Prostituierten, denen fast immer in einiger Entfernung junge Leute folgen. Es sind das vielfach blutjunge Menschen, oftmals Söhne. achtbarer Eltern, die der Arbeit grundsätzlich sätzlich aus dem Wege gehen und sich von Prostituierten ernähren lassen. Diese Menschen, in denen zumeist jedes Ehrgefühl erstorben ist, die auf der letzten internationalen kriminalistischen Vereinigung von dem Dezernenten für das Gefängniswesen im preußischen Ministerium des Innern, dem Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat Dr. Krohne als der »Abschaum der Menschheit« bezeichnet wurden, bilden eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Sittlichkeit. Oftmals halten die Zuhälter anständige junge Mädchen durch Drohungen und Schläge zur Straßenprostitution an,[7] es kommt aber auch nicht selten vor, daß Prostituierte anständige junge Männer, die ihr Gefallen erregen, zu überreden wissen, die Arbeit niederzulegen, ihre Familie zu verlassen und ihnen als Zuhälter zu dienen. Wenn nach einiger Zeit in solch unerfahrenen, leichtsinnigen Menschen das Bewußtsein dämmert, daß sie Ehre, Glück, Familie und Existenz preisgegeben und ein schimpfliches Gewerbe betreiben, dann ist es zumeist zu spät. Einem solch jungen Mann, der die Dirne verlassen und wieder ein anständiges Leben beginnen will, wird fast immer von der Dirne gedroht, ihn wegen Zuhälterei »alle« werden zu lassen, d.h. ihn bei der Polizei anzuzeigen, wenn er seine Absicht ausführen sollte. Vor einigen Jahren haben hochachtbare Leute, Vater und Mutter, einer Dirne dreihundert Mark in Gold auf den Tisch gelegt mit der flehentlichen Bitte, ihren neunzehnjährigen Sohn, der der Dirne eine Zeitlang Zuhälterdienste geleistet hatte, freizugeben. Die Dirne, eine schon ältere Person, warf die Goldstücke den Leuten verächtlich vor die Füße mit den Worten: »Ick bin een anständijet Mächen, mir kann Ihr Sohn heiraten. Wenn er nich mehr mein Liebster sein will, dann laß ick ihn sofort ?alle? werden.« Derartige Zustände beschränken sich keineswegs auf Berlin, sie sind in allen Großstädten zu finden. In der Hohen Straße in Köln, bekanntlich die Hauptverkehrsstraße der rheinischen Metropole, wimmelt es in den Nachtstunden geradezu von Zuhältern und Dirnen. Selbstverständlich sind die Zuhälter mehr zu verachten als die weibliche Halbwelt; die Frauenarbeit wird zumeist so gering bezahlt, daß eine große Anzahl Mädchen gezwungen ist, sich aus Not der Prostitution in die Arme zu werfen. Der eingangs erwähnte Prozeß gegen das Ehepaar Heinze wegen Ermordung des Nachtwächters Braun war die Veranlassung zu der bekannten lex Heinze. Dies Gesetz wurde vom Reichstag nicht in allen Teilen angenommen, es wurden aber scharfe Bestimmungen des Zuhälterwesens in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Die Gerichte pflegen auch die Zuhälter recht scharf zu verurteilen, insbesondere wenn der Nachweis geführt ist, daß die Zuhälter anständige junge Mädchen auf die Bahn des Lasters geführt haben, um sich[8] von dem Sündengeld ernähren zu lassen, und wenn außerdem nachgewiesen ist, daß die Zuhälter die Mädchen geschlagen haben, wenn sie nicht genügend Geld nach Hause brachten. Vielfach wird gegen die Zuhälter auch auf Überweisung an die Landespolizei erkannt, d.h. sie werden nach Verbüßung ihrer Strafe auf längere Zeit ins Arbeitshaus gesteckt. So sehr diese harten Bestrafungen auch zu billigen sind, so sollte man doch bei den Zuhältern eine Ausnahme machen, die infolge jugendlichen Leichtsinns und Verführung sich dem schimpflichen Gewerbe hingegeben haben und den festen Willen, zeigen, wieder ein ordentliches Leben zu beginnen. Ähnlich sollte auch bei den jungen Mädchen verfahren werden, die durch Verführung, Leichtsinn oder Not auf die schiefe Ebene gelangt sind und wieder ordentlich werden wollen. Die Polizeibehörden sollten ihren Beamten einschärfen, bei etwa notwendig werdenden Nachspürungen taktvoll zu Werke zu gehen, damit die jungen Mädchen und jungen Männer in ihren Bestrebungen, ein besseres Leben zu beginnen, nicht gehindert werden.

Das forensische Drama, das sich im Dezember 1904 aus Anlaß der Schändung und Ermordung der kleinen Lucie Berlin vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I unter größter Spannung der Bewohner der Reichshauptstadt entrollte, warf nicht minder als der Heinzeprozeß ein grelles Schlaglicht auf das Treiben der Zuhälter und Dirnen in der deutschen Reichshauptstadt. Auf die Anklagebank wurde der Händler Theodor Berger unter der Beschuldigung geführt, die am 8. Juli 1895 geborene Lucie, Berlin, Tochter des in der Ackerstraße 130 wohnenden Zigarrenmachers Berlin geschändet, alsdann ermordet, den Leichnam zerstückelt und die einzelnen Teile in die Spree geworfen zu haben. Die Ackerstraße, im Norden Berlins, mitten im Arbeiterviertel belegen, ist eine unendlich lange, dicht bevölkerte Straße, in der fast nur Arbeiter wohnen, in der aber auch vielfach das Verbrecher-, Zuhälter- und Dirnentum seine Wohnstätte aufgeschlagen hat. Eine große Anzahl »Kaschemmen«, das heißt Restaurationslokale niedersten Ranges, in denen fast ausschließlich Verbrecher, Zuhälter und Dirnen verkehren, gibt es in jener Gegend; sie erfreut[9] sich deshalb nicht des besten Rufes. Der bessere Bürger meidet, soviel als möglich, des Nachts die Ackerstraße zu passieren, da es dort nicht ganz geheuer sein soll. Berüchtigt sind in der Ackerstraße die sogenannten Mietskasernen, in denen viele Hunderte von Menschen der verschiedensten Berufe wohnen. Ein solches Haus war auch das Ackerstraße 130, in dem der Zigarrenmacher Berlin, ein sehr anständiger; Mann, wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein sehr glückliches Familienleben geführt. Er hatte einen Sohn von 21 und einen von 15 Jahren, beide sehr nette, anständige Menschen. Die Freude der ganzen Familie war das achtjährige Töchterchen Lucie, ein hübsches, munteres Kind, das gewöhnlich dem Vater schon von weitem entgegeneilte, wenn er mittags und abends von der Arbeit kam. Am 9. Juni 1904, gegen 1 Uhr, saß die kleine Lucie neben ihrer Mutter am Mittagstisch. Plötzlich bat sie um den Klosettschlüssel. »Bleibe aber nicht lange,« sagte die besorgte Mutter. Lucie entfernte sich mit dem Schlüssel, sie ist aber lebend nicht mehr zum Vorschein gekommen. Alles Suchen nach dem Kinde war vergeblich. Am 11. Juni wurde in der Spree am Reichstagsufer ein menschlicher Rumpf gefunden. Es wurde sehr bald festgestellt, daß es der Rumpf eines etwa achtjährigen Mädchens war. Zwei Tage später wurde in der Spree der zu dem Rumpf gehörende Kopf und die Arme, am 17. Juni das rechte Bein, einige Stunden später das linke Bein gefunden. Die Gerichtsärzte stellten die Leichenteile zusammen. Daraus ergab sich, daß das Ganze der Leichnam der kleinen Lucie Berlin war. Die Gerichtsärzte stellten ferner fest, daß das Kind zunächst gemißbraucht und alsdann getötet worden sei. Nach geschehener Tötung hatte der Mörder sein Opfer augenscheinlich zerstückelt und die Leichenteile an verschiedene Stellen geschafft, in der Annahme, dadurch die Spuren des Verbrechens am besten beseitigen tigen zu können. Der Verdacht der Täterschaft fiel sehr bald auf den Händler Theodor Berger, einen unverheirateten 35jährigen Mann, einen Zuhälter, der mit seiner Dirne, der unverehelichten Johanna Liebetruth, Tür an Tür mit der Familie Berlin wohnte. Außer verschiedenen anderen Umständen verdächtigte diesen Mann ein[10] Korb, der am 11. Juni oberhalb der Kronprinzenbrücke mit geöffnetem Deckel in der Spree gefunden wurde. In diesem Korb wurden Spuren von Menschenblut und Wollhärchen von dem Unterrock des ermordeten Kindes entdeckt. Der Mörder hatte den Korb wahrscheinlich zur Wegschaffung der Leichenteile, benutzt und ihn alsdann in die Spree geworfen. Es wurde festgestellt, daß der Korb der Liebetruth gehörte. Letztere war zur Zeit im Gefängnis, so daß Berger allein in der Liebetruthschen Wohnung schaltete. Auch mehrere andere Dinge deuteten darauf hin, daß der Mord in der Liebetruthschen Wohnung begangen worden sei. Berger wurde deshalb in Haft genommen, und obwohl er beharrlich die Tat in Abrede stellte, wurde die Anklage wegen Mordes und Sittlichkeitsverbrechens gegen ihn erhoben. Der Andrang des Publikums zu dieser Verhandlung, die im Dezember 1904 volle zehn Tage im großen Schwurgerichtssaale des alten Moabiter Gerichtsgebäudes stattfand, war geradezu beängstigend.

Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsrat rat v. Pochhammer. Die Königliche Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Lindow, die Verteidigung führte Rechtsanwalt Walter Bahn.

Berger, ein mittelgroßer, etwas untersetzter Mann mit einem dicken, dunkelblonden Schnurrbart und ebensolchem kurzgeschnittenem Haupthaar, war am 26. Mai 1869 in Quedlinburg geboren, evangelischer Konfession. Er war wegen Sachbeschädigung, groben Unfugs, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Vergehens gegen die Sittlichkeit, Kuppelei, Widerstands gegen die Staatsgewalt, gefährlicher Körperverletzung, Diebstahls, Unterschlagung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung bestraft. Acht Tage vor dem Mordprozeß wurde er wegen Zuhälterei zu sechs Monaten Gefängnis, Ehrverlust, Stellung unter Polizeiaufsicht und Überweisung an die Landespolizei verurteilt. Als Berger noch nicht achtzehn Jahre alt war, hatte er ein nicht näher zu bezeichnendes Sittlichkeitsattentat auf eine Dame begangen. Er soll zu einer Bande halbwüchsiger Bengels gehört haben, die für Frauen und Kinder eine geradezu öffentliche sittliche Gefahr bildeten. Auch gegen die Liebetruth soll er sich, als diese 15 Jahre alt war, in ähnlicher Weise sittlich vergangen[11] haben. Er wurde deshalb vom Vater der Liebetruth energisch zur Rede gestellt. Er trat aber sehr bald zu dem Mädchen in nähere Beziehungen und soll seit 1887 dessen Zuhälter gewesen sein. Letzteres stellte der Angeklagte in Abrede; er habe wohl zu der Liebetruth intime Beziehungen unterhalten, aber fast immer gearbeitet und sich von der Liebetruth nicht ernähren lassen.

Der Staatsanwalt teilte mit, der Angeklagte sei auch in Hamburg wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt mit 1 Jahre 3 Monaten Gefängnis bestraft worden. Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Angeklagte: Sein Vater sei Bürstenbinder gewesen. Er habe bei dem Vater das Bürstenbinderhandwerk gelernt. 1886 sei er mit seinen Eltern dauernd nach Berlin übergesiedelt. 1887 habe er die Liebetruth kennengelernt und mit dieser ein intimes Liebesverhältnis unterhalten. Er sei aber keineswegs deren Zuhälter gewesen. Er habe als Maler bzw. Anstreicher in der Brunnenstraße gearbeitet und bei seinen Eltern gewohnt.

Vors.: Sie haben selbst zugegeben, daß die Liebetruth einen unheilvollen Einfluß auf Sie ausgeübt hat.

Angekl.: Jawohl, die Liebetruth konnte sich schwer von mir und ich auch schwer von ihr trennen, deshalb zog ich schließlich mit ihr zusammen und arbeitete nicht mehr. Das war aber nur etwa 9 Monate. Dann begann ich einen Handel.

Vors.: Womit handelten Sie?

Angekl.: Ich handelte mit allen möglichen alten Sachen. Ich kaufte die Sachen billig ein und verkaufte sie in den Kneipen.

Vors.: Wieviel verdienten Sie?

Angekl.: Ich verdiente täglich 5-6 Mark.

Vors.: Reinen Verdienst?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie unterhielten aber weiter Ihre Beziehungen zu der Liebetruth?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wie lange dauerten diese Beziehungen?

Angekl.: Bis ich verhaftet wurde.

Vors.: Sie erhielten von der Liebetruth auch Geld?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Liebetruth gab Ihnen Geld, damit Sie sie auf ihren Gängen begleiten sollten?

Angekl.: Deshalb nicht.

Vors.: Wofür gab Ihnen die Liebetruth Geld?

Angekl.: Damit ich ihr Liebhaber bleiben und sie heiraten sollte.

Vors.: Nun, Angeklagter, es ist Ihnen bekannt, daß Sie beschuldigt werden, die achtjährige Lucie Berlin mißbraucht[12] und alsdann getötet zu haben.

Angekl.: Herr Vorsitzender, das bestreite ich ganz entschieden!

Vors.: Sie kannten die kleine Lucie?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Wohnung der Liebetruth und die Wohnung der Familie Berlin stoßen dicht aneinander?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Lucie ist einige Male in der Wohnung der Liebetruth gewesen?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die Lucie soll auch bisweilen mit dem Hund der Liebetruth gespielt haben?

Angekl.: Der Hund gehört mir. (Der Hund, ein hübscher, großer, schwarzer Pudel, war beim Zeugenaufruf von der Liebetruth in den Saal mitgebracht worden.)

Vors.: Vom 8.-12. Juni war die Liebetruth in Haft, und Sie befanden sich allein in der Liebetruthschen Wohnung?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie bestreiten, den Mord begangen zu haben, und behaupten, ein Mann, namens Lenz, habe die Tat begangen?

Angekl.: Das kann ich nicht direkt behaupten. Jedenfalls habe ich das Mädchen nicht getötet, ich bin kein Mörder.

Vors.: Sie behaupten aber, Lenz war Zuhälter der Prostituierten Seiler, die in demselben Hause wohnte, und die kleine Lucie hat auch in der Wohnung der Seiler verkehrt?

Angekl.: Die kleine Lucie verkehrte vorwiegend in der Wohnung der Seiler. Außerdem ist Lenz mit der Lucie am fraglichen Nachmittag am Gartenplatz und anderen Orten vielfach gesehen worden.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte der Angeklagte: Er sei am 6. Juni abends in dem in der Elsässer Straße belegenen Lokal »Zur schwarzen Kugel«, in dem zumeist Zuhälter verkehren, gewesen. Er habe alsdann noch mehrere andere Kneipen besucht und sei schließlich in eine Schlägerei geraten. Am 9. Juni, vormittags gegen 11 Uhr, sei er nach Hause gekommen. Er habe mit seiner Schwester und mit mehreren anderen Leuten gesprochen und sich alsdann schlafen gelegt. Gegen 4 Uhr nachmittags sei er aufgewacht. Als er die Tür öffnete, sah er mehrere Frauen, die sich über das Verschwinden der kleinen Lucie unterhielten. »Ich kochte mir etwas zu essen und legte mich dann wieder schlafen. Abends gegen acht Uhr ging ich aus, um frische Luft zu schöpfen. Eine Kneipe besuchte ich nicht, da ich keinen Pfennig Geld bei mir hatte. In der Brunnenstraße traf ich[13] ein Mädchen, dies forderte ich auf, zu mir zu kommen. Ich traf mit dem Mädchen gegen neun Uhr abends in der Liebetruthschen Wohnung ein. Das Mädchen blieb die ganze Nacht bei mir. Es wollte von mir Geld haben; es klagte, daß es in großer Not sei. Da ich aber keinen Pfennig Geld besaß, schenkte ich dem Mädchen einen kleinen, der Liebetruth gehörigen Korb.

Vors.: Kannten Sie das Mädchen?

Angekl.: Nein.

Vors.: Wissen Sie nichts von dem Verbleib des Mädchens?

Angekl.: Nein.

Vors.: Es würde vielleicht sehr wesentlich zu Ihrer Entlastung beitragen, wenn Sie das Mädchen namhaft machen könnten, Sie wissen« der Herr Staatsanwalt legt einen sehr großen Wert auf den Korb?

Angekl.: Ich kannte das Mädchen nicht.

Der Angeklagte erzählte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Am Freitag, den 10. Juni, sei ihm mitgeteilt worden, daß die Lucie Berlin verschwunden sei. Er habe seine verheiratete Schwester, alsdann mehrere Kneipen besucht. Er sei abends zeitig nach Hause gekommen und habe die ganze Nacht geschlafen. Am folgenden Morgen, Sonnabend, den 11. Juni, sei die Liebetruth aus dem Gefängnis nach Hause gekommen. Sehr bald darauf kam die Prostituierte Seiler weinend in das Zimmer der Liebetruth und erzählte, die Lucie Berlin sei ermordet im Wasser aufgefunden worden. Alsdann kam auch Frau Berlin und noch mehrere andere Frauen in die Liebetruthsche Wohnung.

Vors.: Wie kam es, daß all die Frauen gerade in die Liebetruthsche Wohnung kamen?

Angekl.: Weil die Liebetruthsche Wohnung dicht neben der von der Familie Berlin liegt.

Vors.: Das war doch aber kein Grund?

Angekl.: Die Liebetruth war mit allen Leuten im Hause befreundet.

Vors.: Nun, was sagte die Liebetruth, als sie ihren Korb vermißte?

Angekl.: Ich sagte, ich hätte ein Mädchen in der Wohnung gehabt, und dies habe den Korb gestohlen. Die Liebetruth schrie aber sofort, das ist eine Lüge, du hast dir den Korb nicht stehlen lassen, sondern ihn einem Mädchen, mit dem du Verkehr unterhalten, geschenkt. Die Liebetruth machte solch' furchtbaren Skandal, daß ich die Fenster schloß, damit die Leute nicht alles hörten. Ich suchte die Liebetruth zu beruhigen, indem ich ihr[14] versprach, sie zu heiraten. Die Liebetruth versetzte: Dann kommst du Montag mit mir zum Standesbeamten. Tust du das nicht, dann sollst du sehen, was ich machen werde.

Vors.: Was wollte die Liebetruth machen?

Angekl.: Ich glaube, sie wollte mich wegen Zuhälterei denunzieren.

Vors.: Es ist jedenfalls sehr auffallend, Sie waren seit 1887 Zuhälter bei der Liebetruth oder haben zum mindesten ein Liebesverhältnis mit der Liebetruth unterhalten und plötzlich nach vollen 17 Jahren entschließen Sie sich, die Liebetruth zu heiraten.

Angekl.: Die Liebetruth wollte schon seit 17 Jahren haben, daß ich sie heiraten solle.

Vors.: Aber Sie hatten eine solche Absicht nicht.

Angekl.: Ich konnte die Liebetruth nicht heiraten.

Vors.: Weshalb nicht?

Angekl.: Weil es alsdann herausgekommen wäre, daß ich Zuhälter bei der Liebetruth war, ich hätte also zunächst ins Gefängnis gehen müssen. Ich wollte auch mehrere Male mit der Liebetruth brechen, ich habe mich aber auf ihr Bitten immer wieder mit ihr vertragen.

Vors.: Nun, Angeklagter, es ist Ihnen bekannt, daß am 11. Juni vormittags ein Korb in der Spree oberhalb der Kronprinzenbrücke gefunden wurde. In diesem Korbe, der allerdings erst später zum Vorschein kam, sind Spuren von menschlichem Blut und Wollhärchen, die zu dem Unterrock der Lucie Berlin passen, gefunden worden; dieser Korb, ist als derjenige erkannt worden, den die Liebetruth vermißt hat.

Angekl.: Das kann der Korb der Liebetruth nicht sein, jedenfalls bin ich kein Mörder, ich habe die Lucie Berlin nicht ermordet.

Vors.: Am Morgen des 11. Juni will eine Frau einen Mann mit einem Paket in der Nähe der Spree am Reichstagsufer gesehen und in diesem Mann mit Bestimmtheit Sie wiedererkannt haben.

Angekl.: Ich bin es jedenfalls nicht gewesen.

Staatsanwalt: Der Angeklagte hat angegeben, er habe mit der Liebetruth verschiedene Großstädte, wie Breslau, Hamburg, Magdeburg, Dresden, Hannover, Köln usw., besucht, hat er in diesen Städten auch Handel getrieben oder hat ihm die Liebetruth den Unterhalt gewährt?

Angekl.: Ich habe Handel getrieben, aber auch von der Liebetruth Geld erhalten.

Vors.: Es ist ferner festgestellt, daß am 9. Juni gegen 1 Uhr mittags,[15] als die kleine Lucie verschwand, Sie der einzige Mann waren, der sich in dem Hause Ackerstraße 130 befunden habe?

Angekl.: Darüber kann ich nichts sagen, ich bin es jedenfalls nicht gewesen.

Auf Befragen des Med.-Rats Dr. Leppmann bemerkte der Angeklagte: Er habe als Kind die englische Krankheit gehabt und leide jetzt etwas an Schlaflosigkeit. Vier Wochen vor seiner Verhaftung habe er befürchtet, schwermütig zu werden.

Vors.: Wie kam das?

Angekl.: Weil ich die Liebetruth nicht heiraten, überhaupt von ihr loskommen wollte. Die Liebetruth drohte mir aber, mich zu erschießen, wenn ich sie nicht heiraten wolle. Auf Befragen des Verteidigers äußerte der Angeklagte: er habe sich trotzdem weiterzubilden gesucht und sich u.a. Kürschners Bücherschatz angeschafft.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde auf Antrag des Staatsanwalts die Öffentlichkeit, einschließlich der Vertreter der Presse, ausgeschlossen, weil eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu besorgen war.

Auch am folgenden Morgen wurde eine Zeitlang unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt.

Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit sagte der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe sich dem Mädchen, das er in der Nacht vom 9. zum 10. Juni bei sich hatte, als Inhaber der Wohnung ausgegeben. Das Haus Ackerstraße 130 sei, wie stets, auch in dieser Nacht aufgewesen. Es wohnen in diesem Hause sehr viel Prostituierte und junge Leute, die die ganze Nacht fast unaufhörlich aus- und eingehen.

Vert. Rechtsanwalt Bahn: In Zeitungen wird mitgeteilt, daß der Zuhälter Lenz, der ebenfalls in dem Hause Ackerstraße 130 wohnte, der Tat verdächtig gewesen sei. Ich erlaube mir die Frage, ob Lenz als Zeuge geladen ist.

Vors.: Soviel ich weiß, ist Lenz als Zeuge geladen worden; sein Aufenthalt ist aber nicht zu ermitteln.

Staatsanw. Dr. Lindow: Lenz, der im Hause Ackerstraße 130 mit der Prostituierten Seiler zusammenwohnte und dieser Zuhälterdienste leistete, wurde im Juni unter dem Verdacht des Mordes verhaftet. Er wurde nach einiger Zeit entlassen und ist jetzt spurlos verschwunden.

Es wird alsdann der älteste Bruder der ermordeten Lucie, der 21jährige Tischlergeselle [16] Carl Berlin als Zeuge vernommen! Er bekundete: Lenz sei ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzem aufgewirbeltem Schnurrbart und kleinem Spitzbart gewesen. Die Lucie habe vielfach sowohl in der Wohnung der Liebetruth als auch in der der Seiler verkehrt. Sie nannte Berger »Onkel«, zu Lenz dagegen sagte sie »Herr Lenz«.

Vors.: Wie kam es, daß das Kind so häufig in den Wohnungen von Prostituierten verkehrte?

Zeuge: Ich war stets dagegen und habe auch meiner Mutter gegenüber Bedenken geäußert, die Mutter sagte aber: das Kind versteht das ja noch nicht.

Der Zeuge bekundete im weiteren: Seine Schwester Lucie hatte mit Lenz oftmals nach den Klängen eines Leierkastens getanzt. Lenz habe vielfach in einem in der Turmstraße belegenen »Nuttenkeller« verkehrt. Es sei das ein Keller, in dem Männer und halbwüchsige 13- bis 16jährige Prostituierte verkehren.

Bei der hierauf erfolgten Vernehmung der Prostituierten Seiler wurde auf Antrag des Staatsanwalts wiederum die Öffentlichkeit, einschließlich der Vertreter der Presse, ausgeschlossen. Die Seiler soll bekundet haben: Sie habe seit vielen Jahren mit Lenz ein intimes Liebesverhältnis unterhalten. Lenz habe bei ihr gewohnt. Sie stehe unter sittenpolizeilicher Kontrolle und habe dem Lenz, der ihr Zuhälterdienste leistete, den Lebensunterhalt gewährt. Der Aufenthalt des Lenz sei ihr unbekannt. Die kleine Lucie sei vielfach in ihre Wohnung gekommen, da sie ihr Gänge besorgt habe. Ob Lenz mit dem Kinde getanzt habe, wisse sie nicht.

Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit wurden einige Leute, auch Kinder vernommen, die am 9. Juni mittags die kleine Lucie in Gesellschaft eines Mannes gesehen haben wollen.

Kriminalkommissar Wannowski bekundete: Die von ihm vernommenen Kinder haben sämtlich auf ihn einen unglaubwürdigen Eindruck gemacht, dagegen sei Frau Nehrkorn sehr bestimmt in ihren Aussagen gewesen. Teschkowski habe Lenz mit voller Bestimmtheit als den Mann bezeichnet, der am 9. Juni mittags mit der kleinen Lucie am Torweg des Hauses Ackerstraße 130 gestanden habe. Es sei festgestellt, daß, als die Kinder im Hause Ackerstraße 130 nach den Klängen eines Leierkastens[17] tanzten, die kleine Lucie bereits vermißt wurde.

Staatsanwalt: Haben sich nicht, als der Mord durch die öffentlichen Anschlagsäulen bekannt wurde, eine Anzahl Leute gemeldet?

Zeuge: Jawohl, es wurde eine Belohnung ausgesetzt. Dies hatte, wie immer, zur Folge, daß sich eine große Anzahl Leute meldeten, die von der Sache absolut nichts wußten. Die Ermittelungen machten auch um so größere Schwierigkeiten, da in dem Hause Ackerstraße kerstraße 130 viele Prostituierte mit ihren Zuhältern wohnten.

Ein weiterer Zeuge war Versicherungsinspektor Bratengeyer: Am 9. Juni habe er Lenz als Versicherungsagent engagiert und ihm auch einen Vorschuß von 30 Mark gegeben. An diesem Tage, dem 9. Juni, sei er bestimmt mit Lenz von etwa 9 Uhr vormittags bis 1 3/4 nachmittags zusammen gewesen. Er erinnere sich des Tages ganz genau. Auch die Quittung trage das Datum vom 9. Juni. Am folgenden Tage, Freitag, den 10. Juni, habe Lenz über das Engagement eine so kindliche Freude an den Tag gelegt, daß er nun und nimmermehr glauben könne: Lenz habe den Mord begangen. Sonnabend, den 11. Juni, sei er gegen Mittag wiederum mit Lenz zusammen gewesen. Lenz sagte: Ich habe gestern eine Versicherung abgeschlossen, aber ich zittere am ganzen Leibe. Erschrecken Sie nicht, es könnte vorkommen, daß ich von Ihrer Seite weg verhaftet werde. Ich erschrak und fragte Lenz: was geschehen sei. Lenz versetzte: Ich werde beschuldigt, die Lucie Berlin ermordet zu haben. Ich erwiderte: Wenn es sich nur darum handelt, dann bin ich beruhigt. Daß Sie die Lucie Berlin ermordet haben, halte ich für ausgeschlossen. Ich war nur erschrocken, weil ich etwas anderes vermutete.

Der Verteidiger hielt dem Zeugen vor, daß seine Angaben mit denen des Lenz nicht ganz übereinstimmen. men. Der Zeuge blieb aber bei seiner Aussage.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Lenz müsse sich behufs Abschlusses von Versicherungsgeschäften schon Donnerstag, den 9. Juni, nachmittags bemüht haben.

Vert.: Sie sagen, Sie trauten dem Lenz keinen Mord zu und hielten ihn für einen anständigen Menschen. Wenn Sie gewußt hätten, daß Lenz seit vielen Jahren Zuhälter war und sich von einer Prostituierten[18] ernähren lasse, hätten Sie alsdann dieselbe Meinung gehabt?

Zeuge: Es war mir allerdings nicht bekannt, daß Lenz Zuhälter war. Wir können nur im allgemeinen ein Urteil über einen Menschen abgeben. Wenn wir nach dem gehen wollten, was einem Menschen nachgesagt wird, dann würden nicht viele Versicherungsagenten übrigbleiben.

Frau Kube: Lenz habe zwei Monate bei ihr in der Bergstraße 70 gewohnt. Am 9. Juni. habe er ihr mittags gegen l Uhr 2 Mark bezahlt.

Der folgende Zeuge, Arbeiter Hermann Kube, bekundete: Lenz habe die 2 Mark seiner Mutter am 9. Juni gegen 11 Uhr vormittags bezahlt. Seine Mutter habe ein etwas schwaches Gedächtnis.

Frau Balcke: Lenz sei ein alter Bekannter von ihr gewesen. Am 9. Juni kurz vor 2 3/4 Uhr nachmittags sei er zu ihr gekommen. Sie haben sich längere Zeit über frühere Zeiten unterhalten. Bei dieser Gelegenheit habe ihr Lenz erzählt: er sei früher bei der »Wilhelma« gewesen, sei aber soeben als Agent der »Iduna« engagiert worden.

Abfischer Teske: Am 11. Juni vormittags gegen 7 3/4 Uhr sah er am Reichstagsufer in der Spree hinter einem Kahn einen Haufen Unrat. Sogleich darauf kam ein Paket in braunem Packpapier dahergeschwommen. Er sah eine blutige Masse, so daß er sofort den Eindruck gewann: es sei wieder etwas ins Wasser geworfen worden, was jemand von der Welt haben wollte. Er habe das Paket sofort herausgefischt. In diesem befand sich der Rumpf eines kleinen Mädchens. Kopf, Arme und Beine fehlten. Das Paket müsse, der ganzen Sachlage nach, zwischen der Marschallsbrücke und dem Reichstagsufer in die Spree geworfen worden sein.

Schutzmann Püschel schilderte, wie ihm Teske den Rumpf übergeben habe. Er habe den Rumpf sogleich nach dem Leichenschauhause bringen lassen und ihn dort dem Kriminalinspektor übergeben.

Unter großer Spannung machte ein Fräulein Römer folgende Bekundung: Am Morgen des 11. Juni, gegen 5 1/2 Uhr, der Tag begann gerade zu dämmern, sei sie das Reichstagsufer entlang nach dem Kriminalgericht zu gegangen. Da sah sie einen Mann, der ein großes, breites Paket, in braunem Packpapier eingewickelt, trug. Das Paket war verschnürt; es hatte den Anschein,[19] als ob in dem Paket ein großer, weicher Gegenstand, etwa eine Steppdecke, enthalten war. Der Mann war stehengeblieben und habe ins Wasser hineingesehen. In seiner Begleitung war ein kleiner schwarzer, reich behaarter Hund; sie habe den Hund für einen Pudel gehalten. Der Hund habe sich auf der Erde gewälzt.

Vors.: Haben Sie sich den Mann angesehen?

Zeugin: Das Gesicht konnte ich nicht genau sehen, da der Mann nach dem Wasser zu sah.

Vors.: Wie war der Mann gekleidet?

Zeugin: Er trug einen weißen Strohhut.

Vors.: Der Angeklagte ist Ihnen schon einmal vorgestellt worden, Sie haben ihn nicht wiedererkannt?

Zeugin: Der Mann war von der Größe des Angeklagten, ich kann aber nicht sagen, ob es der Angeklagte war.

Der Vorsitzende befahl darauf, den Hund des Angeklagten in den Saal zu führen. Es war dies ein kleiner, langhaariger, schwarzer Pudel. Die Zeugin bemerkte: Es sei möglich, daß dies der Hund gewesen sei, den sie in Begleitung des Mannes gesehen habe, mit Bestimmtheit könne sie den Hund nicht wiedererkennen.

Auf Befragen des Verteidigers gab die Zeugin zu, daß sie vor vielen Jahren wegen Sittenpolizei-Kontravention vention bestraft worden sei.

Vert.: Sie sagten, der Mann war korpulenter wie der Angeklagte, wie kommen Sie dazu, trotzdem zu behaupten, der Mann habe mit dem Angeklagten eine gewisse Ähnlichkeit?

Zeugin: Als mir der Angeklagte bei dem Untersuchungsrichter vorgestellt wurde, war er noch etwas korpulenter.

Vert.: Sie sagten, es war »schummerich«, als Sie am 11. Juni früh 5 1/2 Uhr den Mann mit dem Paket am Reichstagsufer stehen sahen. Am 11. Juni um diese Zeit ist doch aber heller Tag?

Zeugin: Es war aber 5 1/2 Uhr früh.

Vors.: Haben Sie irgendeine Veranlassung, betreffs des Mordes etwas Falsches zu bekunden?

Zeugin: Keineswegs.

Schiffer Tornow: Am Morgen des 11. Juni habe er oberhalb der Kronprinzenbrücke in der Spree einen kleinen Korb mit geöffnetem Deckel schwimmen sehen. Er habe den Korb herausgefischt. In diesem lag nur eine Haarnadel. Er hatte keine Ahnung, daß der Korb mit einem Morde zusammenhänge; er habe deshalb den Korb mit nach Hause genommen.[20] Einige Tage später habe ihm sein Bootsmann mitgeteilt: In Berlin sei ein kleines Mädchen ermordet worden, in diesem Morde spiele ein Korb eine Rolle. Er habe deshalb den Korb sogleich der Berliner Kriminalpolizei zei ausgehändigt.

Bootsmann Klunder schloß sich der Bekundung des Vorzeugen, vollständig an.

Bäckergeselle Athus und Straßenreiniger Schmidt hatten ebenfalls den Korb in der Spree schwimmen sehen.

Am folgenden Tage teilte der Staatsanwalt mit, daß sich aus Anlaß der Zeitungsberichte Lenz gemeldet habe. Unter großer, allgemeiner Spannung betrat Lenz, ein mittelgroßer, etwas korpulenter Mann mit schwarzem, dünnem Haupthaar, aufgewirbeltem schwarzem Schnurrbart und kurzem Spitzbart, den Sitzungssaal. Er machte äußerlich einen wohlhabenden, behäbigen Eindruck. Der Vorsitzende ermahnte den Zeugen in eindringlichster Weise, die Wahrheit zu sagen. »Sie wissen, daß Sie verdächtig waren, die kleine Lucie Berlin, ermordet zu haben. Sie sind sogar deshalb verhaftet gewesen. Ich werde Sie zunächst uneidlich vernehmen, es wird später Beschluß gefaßt werden, ob Sie zu vereidigen sind. Sie müssen also die volle Wahrheit sagen, da Sie höchstwahrscheinlich Ihre Aussage werden beeiden müssen. Sie haben aber nicht nötig« sich selbst zu belasten. Sollte Ihnen eine Frage vorgelegt werden, durch deren Beantwortung Sie befürchten, sich selbst zu belasten, so haben Sie das Recht, die Antwort zu verweigern.

Lenz gab alsdann auf Befragen des Vorsitzenden an: Er heiße mit Vornamen Otto und sei am 8. April 1873 geboren. Er müsse erst sein Gedächtnis anstrengen, um sich zu erinnern, wo er am 9. Juni d.J. gewesen sei. Er habe am 9. Juni in der Bergstraße 70 bei der Witwe Kube gewohnt. Er sei an diesem Tage von dem Versicherungsinspektor Bratengeyer als Agent für die Versicherungs-Gesellschaft »Iduna« in Halle engagiert worden. An jenem Vormittag gegen 9 Uhr war er zunächst im hiesigen, in der Invalidenstraße belegenen Bureau der »Iduna«. Alsdann sei er mit Bratengeyer in das in der Friedrichstraße belegene »Norddeutsche Wirtshaus«, von da zu einer Familie Bönisch in der Ackerstraße, alsdann zu einer Familie, Bergstraße 27, und von dort zu einer in der Chausseestraße[21] wohnenden Familie gegangen. Er habe überall mitteilen wollen, daß er als Agent der »Iduna« engagiert sei und daß ihm Aufträge gegeben werden mögen. Zuletzt sei er in das in der Invalidenstraße belegene Restaurant von Kaiser gegangen.

Der Vert. hielt dem Zeugen vor, daß er bei seiner Vernehmung am 13. Juni und auch am 15. Juni andere Angaben gemacht habe.

Lenz (sehr erregt): Ich kann mich heute nicht mehr auf alles erinnern. Ich leide infolge dieser Sache an Halluzinationen, ja geradezu an Verfolgungswahn. Mein Name wird in allen Zeitungen herumgezogen, meine ganze Existenz ist vernichtet.

Vert.: Herr Lenz, ich bin weit entfernt, Sie reinlegen zu wollen, es ist aber meine Pflicht als Verteidiger, Sie auf Widersprüche in Ihren Aussagen aufmerksam zu machen.

Lenz (sehr erregt): Die Hauptsache ist doch mein Unschuldsbewußtsein, Herr Verteidiger. Es ist doch unmöglich, daß ich mich auf alle Einzelheiten vom 9. Juni noch erinnern kann.

Vert.: Sie geben aber zu, daß das, was Sie am 13. und 15. Juni bei Ihren Vernehmungen gesagt haben, wahr ist?

Lenz: Ich war auch damals so aufgeregt, daß ich vielleicht mich einzelner Irrtümer schuldig gemacht habe.

Vors.: Jedenfalls können wir feststellen, daß der Angeklagte Berger ganz anders aussieht als der Zeuge Lenz, eine Verwechselung des Berger mit Lenz ist ausgeschlossen.

Vert.: Sie haben mit der Seiler ein Liebesverhältnis unterhalten?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Haben Sie von der Seiler Geld erhalten? Sie sind deshalb wegen Zuhälterei angeklagt, Sie haben mithin das Recht, die Antwort hierauf zu verweigern.

Vorsitzender: Sie sind berechtigt, alle Fragen, die sich auf Ihre Zuhälterei beziehen, zu verweigern.

Lenz: Ich verweigere also darauf die Antwort.

Vert.: Sie kannten die kleine Lucie Berlin?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Die Lucie soll in der Wohnung der Seiler vielfach verkehrt, dieser Gänge besorgt und Ihnen auch oftmals Schnaps geholt haben?

Zeuge: Das ist richtig.

Vert.: Die Lucie soll Ihnen einmal nicht den richtigen Schnaps gebracht haben, Sie sollen das Kind deshalb an der Hand genommen und mit ihm zwecks Umtausches des Schnapses den Schnapsladen betreten haben?

[22] Zeuge: Das ist möglich.

Vert.: Am Geburtstage der Seiler sollen Sie in der Kellerwohnung der letzteren mit der Lucie nach den Klängen eines Leierkastens getanzt und Ihrer Freude Ausdruck gegeben haben, daß das Kind so schön tanzt?

Zeuge: Auch das ist möglich.

Vert.: Sie sollen eine ganz besondere Vorliebe für Kinder gehabt haben?

Zeuge: Ich gebe zu, ich bin ein großer Kinderfreund.

Hierauf wurde Frau Meißner als Zeugin vernommen: Die gestern vernommene Zeugin Römer habe bei ihr gedient, sie habe sie nicht wegen Diebstahls entlassen. Die Römer habe damals ihr den am Reichstagsufer beobachteten Vorgang erzählt, sie habe aber der Erzählung erst Bedeutung beigelegt, als sie den Vorgang in Zeitungen gelesen hatte.

Kriminalschutzmann Blume, der die Römer zuerst vernommen hatte, bekundete: Die Römer habe auf ihn einen wenig glaubwürdigen Eindruck gemacht.

Es wurde darauf noch einmal die gestern vernommene Zeugin Römer hervorgerufen. Diese blieb trotz aller Ermahnungen bei ihrer Aussage.

Vert.: Haben Sie etwa den Vorgang deshalb gemeldet, damit Sie die ausgesetzte Belohnung erhalten?

Zeugin: Ich habe an die Belohnung nicht gedacht.

Vert.: Es war Ihnen aber bekannt, daß eine Belohnung für Entdeckung des Mörders ausgesetzt war?

Zeugin: Ich habe das wohl gelesen, aber nicht daran gedacht.

Untersuchungsrichter Landrichter Maßmann: Die Zeugin Römer hat einen vollständig sicheren Eindruck gemacht.

Im weiteren Verlauf der Vernehmung des Landrichters Maßmann befahl der Vorsitzende, den Hund in den Saal zu führen.

Ein Gerichtsdiener meldete: Der Hund ist nicht da.

Vors.: Der Hund soll doch aber heute vernommen werden. (Allgemeine Heiterkeit!)

Gutsvorsteher Siepel: Am 15. Juni sei ihm gemeldet worden, im Charlottenburger Verbindungskanal gegenüber dem Johannisstift sei ein menschlicher Kopf nebst zwei Armen, in braunem Packpapier verschnürt, aufgefunden worden. Zunächst seien die Leichenteile in der »Berliner Morgenpost« eingewickelt gewesen.

Laufbursche Hermann Müller, Schüler Fritz Krause und Bureauschreiber Walter Poeppel erzählten: Sie haben am 15. Juni[23] vormittags ein Paket im Charlottenburger Verbindungskanal schwimmen sehen. Da sie ein menschliches Gesicht sahen, haben sie einen Schiffer auf das Paket aufmerksam gemacht. Der Schiffer habe das Paket ans Ufer gestoßen. Sie seien alsdann ans Ufer gelaufen, haben das in Pack- und Zeitungspapier eingeschnürte Paket geöffnet und einen Kinderkopf und zwei Arme darin gefunden.

Arbeiter Stübler: Am 17. Juni des Morgens habe er im Wasser an der Sandkrugbrücke ein menschliches rechtes Bein schwimmen sehen. Ober- und Unterschenkel waren zusammen. Er habe das Bein herausgefischt und es einem Schutzmann übergeben.

Polizei-Wachtmeister Kroll: Am 17. Juni vormittags sei am Schiffbauerdamm das linke Bein der Lucie (Ober- und Unterschenkel zusammenhängend) aufgefunden worden.

Fräulein Berta Berlin: Sie habe bei der Liebetruth verkehrt, letztere sei mit der Lucie Berlin nicht verwandt gewesen. Den auf dem Zeugentisch stehenden Korb kenne sie nicht; es sei möglich, daß es der Korb der Liebetruth sei. Die Liebetruth sei auf Berger sehr eifersüchtig gewesen. Im vorigen Sommer, als die kleine Lucie schon verschwunden war, habe die Liebetruth ihr erzählt, daß Berger sie nunmehr heiraten wolle.

Vors.: Arbeitete Berger?

Zeugin: In der letzten Zeit jedenfalls nicht.

Vors.: Berger will doch mit allen möglichen alten Sachen gehandelt haben?

Zeugin: In der letzten Zeit hat er meiner Meinung nach gar nichts getan.

Vors.: War Berger besonders brutal?

Zeugin: Zu der Liebetruth jedenfalls nicht.

Frau Buchholz: Sie sei die Schwester der Liebetruth. Es sei möglich, daß der Korb ihrer Schwester gehöre, genau könne sie das aber nicht sagen.

Vors.: In welchem Verhältnis stand Berger zu Ihrer Schwester?

Zeugin: Sie verkehrten zusammen.

Vors.: In welcher Weise?

Zeugin: Na, wie Braut und Bräutigam zusammen verkehren. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: War Berger der Zuhälter Ihrer Schwester?

Zeugin: Das glaube ich nicht, ich kann es aber nicht genau sagen.

Vors.: Die Verhältnisse Ihrer Schwester werden Ihnen wohl bekannt gewesen sein?

Zeugin: Ich kann darüber nichts sagen.

Vors.: Hat Berger gearbeitet?

Zeugin: Das weiß ich nicht, er hatte jedenfalls immer[24] Geld.

Staatsanw.: Sind Sie der Meinung, daß Berger sich unterstanden hätte, einen Ihrer Schwester gehörenden Korb zu verschenken?

Zeugin: Das ist schon möglich, Borger verschenkte alle Sachen, die ihm entbehrlich schienen.

Vors.: Aber der Korb gehörte nicht ihm, sondern Ihrer Schwester?

Zeugin: Deshalb ist es doch möglich, daß Berger den Korb verschenkt hat.

Gürtler Emil Kühr: Er sei vor etwa 12 Jahren der Bräutigam der Liebetruth gewesen, den Korb könne er nicht wiedererkennen.

Fräulein Flora Goldstein: Der der Liebetruth gehörige Korb sei ursprünglich ihr, der Zeugin, Eigentum gewesen. Sie habe einmal diesen Korb gegen einen anderen eingetauscht. Dieser Korb sehe dem, den sie der Liebetruth gegeben, sehr ähnlich, sie könne aber nicht genau sagen, daß es derselbe Korb sei.

Fräulein Piatkowski: Sie habe vor langer Zeit bei Fräulein Goldstein gewohnt und kenne den Korb mit ziemlicher Bestimmtheit wieder.

Fräulein Koperska: Sie habe vor einigen Jahren bei der Seiler gewohnt. Als sie umgezogen sei, habe sie sich von der Liebrtruth den Korb geliehen, sie glaube mit Bestimmtheit, daß dies der Korb sei.

Fräulein Fuhrmann: Sie sei im vergangenen Jahre acht Tage Aufwärterin bei der Liebetruth gewesen. Sie kenne den Korb mit voller Bestimmtheit wieder.

Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf Johanna Liebetruth als Zeugin in den Saal gerufen. Sie erschien in sehr eleganter Toilette. Sie hatte eine pompöse Figur und ein hübsches Gesicht. Nur ihre Nase wies, dem Vernehmen nach infolge einer häßlichen Krankheit eine kleine Verunstaltung auf.

Vors.: Fräulein Liebetruth, Sie hatten ein Liebesverhältnis mit dem Angeklagten, verlobt sind Sie aber nicht mit ihm?

Zeugin: Doch, wir sind verlobt.

Vors.: Das ist ja ganz neu, seit wann sind Sie mit Berger verlobt?

Zeugin: Ich glaube, 1901 haben wir uns in Breslau verlobt. Wir haben die Verlobung auch in Zeitungen einrücken lassen.

Vors.: Haben Sie sich denn seit dieser Zeit als Verlobte betrachtet?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Betrachten Sie sich auch jetzt noch als die Verlobte des Angeklagten Berger?

Zeugin: Jetzt nicht mehr.

Vors.: Seit wann betrachten Sie sich nicht mehr als verlobt?

Zeugin: Seitdem Berger[25] wegen des Mordes in Untersuchungshaft sitzt, habe ich die Verlobung für aufgehoben betrachtet.

Vors.: Nun, Angeklagter, ist das richtig, daß Ihre Verlobung mit der Liebetruth aufgehoben ist?

Angekl.: Wenn es die Liebetruth sagt, dann muß es ja wahr sein.

Vors.: Haben Sie das dem Angeklagten geschrieben?

Zeugin: Jawohl, ich habe dem Berger geschrieben, daß es jetzt keinen Zweck mehr habe, ich betrachte die Verlobung für aufgehoben.

Vors.: Da Sie sich jetzt nicht mehr für verlobt betrachten, so haben Sie kein Zeugnisverweigerungsrecht. Sie sind also verpflichtet, die volle Wahrheit zu sagen, da Sie wahrscheinlich vereidigt werden. Die Zeugin bemerkte darauf auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie 1872 geboren und evangelischer Konfession sei. Der Vorsitzende ließ darauf der Zeugin den Korb zeigen. Diese äußerte: So ganz genau hat mein Korb ausgesehen, nur war mein Korb wackeliger.

Vors.: Auf der Polizei haben Sie aber sofort den Korb wiedererkannt?

Zeugin: Als ich zum Kriminalkommissar am Alexanderplatz kam, sagte ich sofort: Da ist ja mein Korb. So, sagte der Kommissar, das ist Ihr Korb. Ja, sagte ich, ich stehe wie vor einem Rätsel. Kennen Sie denn den Korb mit Bestimmtheit wieder, fragte der Kommissar: Genau kenne ich ihn nicht wieder, antwortete ich, mein Korb war wackeliger, sonst sieht er genau so aus wie der meinige.

Restaurateur Gottlieb Hentschel (Breslau): Er habe in der Breiten Straße in Breslau ein Restaurant. Der Angeklagte habe während seines Aufenthalts in Breslau vielfach bei ihm verkehrt. Er habe sich sehr anständig benommen und wenig getrunken. Auch wenn er einmal betrunken war, habe er sich sehr anständig benommen. Soweit ihm bekannt, habe der Angeklagte einen Handel getrieben.

Gasthofsbesitzer Rudolf Paul (Schimpke bei Dresden): Der Angeklagte habe mehrfach bei ihm gewohnt und sich stets anständig benommen. Er habe sich als Händler ins Fremdenbuch eingetragen, er wisse aber nicht, ob er einen Handel getrieben habe.

Angekl.: Ich habe in Schimpke auch als Sommergast gewohnt und während dieser Zeit allerdings keinen Handel getrieben.

Restaurateur Kirchner (Berlin): Der Angeklagte habe oftmals bei ihm verkehrt und sich stets[26] anständig benommen.

Frau Sander: Der Angeklagte habe 1903 vier Wochen bei ihr gewohnt. Er habe bei Tag geschlafen und sei abends ausgegangen.

Kriminalkommissar Wehn: Die Liebetruth habe sogleich, als ihr der Korb gezeigt wurde, ihn als den ihrigen wiedererkannt, allerdings hinzugefügt: mein Korb war etwas wackeliger. Er (Wehn) habe festgestellt, daß Körbe im Wasser sich zusammenziehen.

Der Verteidiger bemerkte: Es sei das ein Gutachten, er behalte sich vor, einen Sachverständigen für Körbe vorzuschlagen.

Ein weiterer Zeuge war Barbiergehilfe Hegewald: Er habe am 9. Juni gegen 6 1/2 Uhr abends Lenz barbiert, dieser habe von dem Mord nicht gesprochen.

Leierkastenmann Czichon: Es sei ihm erinnerlich, daß er aus Anlaß eines Geburtstages in der Seilerschen Wohnung gespielt und mehrere Leute dabei getanzt haben. Ob Lenz mit der kleinen Lucie getanzt habe, wisse er nicht mehr.

Hierauf wurde die zehnjährige Schülerin Frieda Haak als Zeugin in den Saal geführt. Am 9. Juni habe sich ein Mann mit rötlichem Schnurrbart an ein kleines Mädchen herangedrängt. Der Mann habe dem Mädchen Bonbons gegeben und sei mit ihm in die Büsche gegangen. Der Zeugin wurde der Angeklagte vorgestellt; diese bemerkte jedoch, daß dies nicht der Mann war.

Frau Bönich: Lenz sei mit ihrem Bräutigam befreundet gewesen. Am Nachmittag des 9. Juni sei Lenz in ihrer Wohnung gewesen und habe etwas zum besten gegeben, da er eine Anstellung bei der Versicherungsgesellschaft »Iduna« gefunden habe. Von dem Morde habe Lenz nicht gesprochen.

Frau Grimm machte eine ähnliche Aussage.

Schuldiener Friedrich Schmidt: Er sei Schuldiener, in der in der Ackerstraße belegenen Mädchenschule. Dort treiben sich, sobald die Mädchen die Schule verlassen, oftmals junge Leute umher. Eines Tages im Juni d.J. habe er auf dem Hofe des Schulgebäudes einen jungen Mann ohne Schnurrbart in auffälliger Weise stehen sehen. Dieser Mann habe dem Angeklagten nicht ähnlich gesehen.

Fräulein Schade: Sie habe früher mit der Liebetruth und Berger in einem Hause gewohnt. Berger sei zu der Liebetruth sehr gut gewesen. Einmal habe die Liebetruth von Berger 10 Mark gefordert. Berger habe gesagt,[27] er habe selbst nichts, er werde ihr aber die 10 Mark geben.

Vors.: Wie kam die Liebetruth dazu, von Berger 10 Mark zu fordern?

Zeugin: Die Liebetruth sagte zu Berger, wenn du mir die 10 Mark nicht gibst, dann laß ich dich »alle« werden.

Vors.: Was meinte die Liebetruth damit?

Zeugin: Sie meinte, sie wolle ihn ins Gefängnis bringen. Berger schimpfte auf »das Weib«, gab ihr aber die zehn Mark.

Vors.: Wissen Sie, wegen welchen Verbrechens die Liebetruth den Berger anzeigen wollte?

Zeugin: Nein.

Verteidiger: Ist es nicht üblich unter den Prostituierten, sich gegenseitig »Weib« zu nennen?

Zeugin: Allerdings.

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß sich Berger an kleine Mädchen herangedrängt hat?

Zeugin: Nein.

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß Berger ganze Anzüge verschenkt hat?

Zeugin: Das weiß ich nicht.

Schneider Röhricht: Berger hatte bei ihm ein Zimmer gemietet und monatlich 3 Mark bezahlt, obwohl er niemals bei ihm gewohnt habe. Er sagte: er schlafe bei seiner Braut, er müsse aber anderswo gemeldet sein.

Vors.: Er zahlte Ihnen also für das bloße Melden monatlich 3 Mark.

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Konnten Sie das Zimmer anderweitig vermieten?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Was hätten Sie für das Zimmer gefordert, wenn Berger darin gewohnt hätte?

Zeuge: 10 Mark.

Die Gattin des Vorzeugen schloß sich dieser Bekundung kundung an. Sie bemerkte auf Befragen des Verteidigers: Berger sei stets sehr anständig, gekleidet gewesen; einmal habe Berger ihrem Mann ein Paar noch gut erhaltene Hosen geschenkt.

Verteidiger: Hat nicht Borger kurz nach dem Morde geäußert, ich bin unschuldig, die Polizei kann mir gar nichts?

Zeugin: Das ist richtig.

Verteidiger: Hielten Sie ihn auch für unschuldig?

Zeugin: Gewiß, ich hielt Berger überhaupt für einen anständigen Menschen.

Vors.: Wenn Sie die erheblichen Vorstrafen des Angeklagten gekannt hätten, würden Sie alsdann derselben Meinung gewesen sein?

Zeugin: Nein, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich anderer Meinung gewesen.

Auf Befragen des Angeklagten gab die Zeugin als richtig zu, daß er oftmals zu ihr Pakete gebracht habe.

Der folgende Zeuge war der Drehorgelspieler Schöneberg.

[28] Vors.: Sind Sie verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten?

Zeuge: Nich in die Hand! (Allgemeine Heiterkeit) Der Zeuge leistete darauf den Zeugeneid und bekundete, er habe im Juni d.J. auf dem Hofe des Hauses Ackerstraße 130 gespielt, eine große Anzahl Kinder haben nach den Klängen seines Leierkastens getanzt. Die kleine Lucie habe er nicht gekannt. Zwei Männer haben sich das Tanzen der Kinder angesehen, er habe sich aber das Aussehen der Männer nicht gemerkt. Er wisse auch nicht, an welchem Tage des Juni er in der Ackerstraße 130 gespielt habe. Der Vorsitzende ließ Lenz hervortreten, Schöneberg vermag ihn aber nicht wiederzuerkennen.

Kriminalkommissar Wehn: Der Zeuge Schöneberg und auch Bewohner des Hauses. Ackerstraße 130 haben ihm zur Zeit mitgeteilt: Das Tanzen der Kinder nach den Klängen des Leierkastens sei am 9. Juni mittags gegen 1 3/4 Uhr gewesen.

Es meldete sich darauf Johanna Liebetruth: Herr Vorsitzender, die Schade, die vorhin vernommen wurde, hat die Unwahrheit gesagt. Ich habe dem Berger niemals gedroht, ich werde ihn »alle« werden lassen. Im vorigen Jahre wohnte ich mit Berger in der Hussitenstraße. Ich schlief mit Berger in der Küche, die Schade im Vorderzimmer. Eines Tages lieh ich dem Berger 8 Mark, sehr bald darauf noch 3 Mark. Ich wollte schließlich das Geld wiederhaben, Berger versicherte aber, daß er kein Geld habe. Ich wußte jedoch, daß Berger in der Matratze Geld verborgen habe. Ich suchte und fand in der Matratze 70 Mark in Gold. Ich wollte mir mein dem Berger geliehenes Geld nehmen, da wurde ich von Berger furchtbar geschlagen. Ich schrie »Hilfe«. Da kam die Schade in die Küche gestürzt und sagte zu mir: »Laß doch den Lude alle werden.«

Vors.: Die Schade hat das aber ganz anders geschildert?

Liebetruth: Die hat die Unwahrheit gesagt.

Die Zeugin bekundete im weiteren auf Befragen: Berger habe sie auch mit einem Messer bedroht.

Verteidiger: Hat Berger nicht das Messer beiseite gebracht, da er befürchtete, Sie könnten es gegen ihn zur Anwendung bringen?

Liebetruth (nach einigem Zögern): Berger wußte allerdings, wie sehr aufgeregt ich bin.

Die Liebetruth bemerkte noch: Es wird sich[29] noch alles anders herausstellen, wie es hier geschildert worden ist.

Verteidiger: Es ist ja sehr interessant, daß alles, was hier verhandelt wird, draußen den Zeugen erzählt wird.

Der folgende Zeuge war Arbeitsbursche Graff: Er habe gehört, daß am 9. Juni am Torweg des Hauses Ackerstraße 130 zwei Männer mit der Lucie in verdächtiger Weise gestanden haben; er habe es für seine Pflicht gehalten, dies anzuzeigen, er habe aber selbst nichts gesehen.

Die zehnjährige Schülerin Martha Liebe bekundete: Am Tage, an dem die kleine Lucie verschwunden sei, habe sie gegen Mittag Berger an der Hand der kleinen Lucie über den Damm der Ackerstraße gehen sehen. Berger habe der Lucie Bonbons gekauft und sei alsdann mit ihr die Bernauer Straße entlang gegangen.

Vors.: Nun, Berger, ist das richtig?

Berger: »Das ist ja eine Lüge von das Kind.«

Der Vorsitzende hielt hierauf der kleinen Zeugin vor, daß sie bei ihrer früheren Vernehmung von Berger gar nichts, sondern gesagt habe, sie habe zwei Männer in der Gartenstraße stehen sehen. Der Vorsitzende fragte das Mädchen wiederholt in eindringlichster Weise: Wie es komme, daß es ihre Aussage derartig ändere. Das Kind gab jedoch keine Antwort.

Staatsanwalt: Er wolle nach diesem Vorgange auf die Vernehmung aller weiteren Kinder verzichten.

Der Verteidiger schloß sich dem Antrage an. Der Gerichtshof beschloß, auf die Vernehmung aller weiteren Kinder zu verzichten.

Inzwischen vernahm man im Saale einen furchtbaren Lärm. Auf dem Korridor, dicht vor dem Eingang zum großen Schwurgerichtssaale, drängte sich ein sehr zahlreiches Publikum, zumeist Typen des nördlichen Berlins. Zwischen zwei Zeugen, dem Vernehmen nach zwischen dem jetzigen Zuhälter der Liebetruth und einem Kellner, namens Alfred Klein, entwickelte sich eine regelrechte Schlägerei. Drei Schutzleute trennten sehr bald die Kämpfenden, und Kellner Klein, ein großer, schlanker, sehr brünetter Mann, wurde von zwei Gerichtsdienern als Zeuge in den Saal geschoben. Der Zeuge trat in großer Erregung vor den Richtertisch und bemerkte: Ich bin soeben draußen von einem Kerl vor den Kopf geschlagen worden.

Vors.: Nun beruhigen Sie sich, Sie sollen jetzt hier als Zeuge[30] vernommen werden.

Klein: Ich kann mir das aber nicht gefallen lassen von dem Luden.

Vors.: Sie sind doch Manns genug, um sich bemeistern zu können. Sie sollen jetzt als Zeuge vernommen werden.

Klein: Ich gehe ja schon, ich will ja gar nicht hierbleiben.

Vors.: Sie sollen aber hierbleiben.

Klein: Ich halt's hier nicht aus, Sie müßten mir denn gerade fesseln.

Vors.: Sie scheinen allerdings so sehr aufgeregt zu sein, daß wir heute Ihre Vernehmung werden aussetzen müssen.

Klein: Ich bin so aufgeregt, daß mir bald der Schädel platzt. Ich kann mir det von dem Luden von de Liebetruth nicht gefallen lassen. Meine Frau hält mir die Zeitung vor, worin steht: ick bin ein Nuttenjäger. Und nu will ick noch wat sagen. Eine Person, eine geborene Täuber, hat in einer Kneipe hier drüben erzählt: Die Liebetruth hat einem Kind gesagt, was sie hier aussagen soll.

Vors.: Ich kann Ihnen mitteilen, daß auf die Vernehmung aller Kinder verzichtet worden ist.

Klein: Det können Se machen, wie Sie wollen, aber sone Person darf doch keen Kind nich beeinflussen.

Der Vorsitzende bemerkte dem Klein, daß er für heute entlassen sei. Der Zeuge verließ in großer Erregung den Saal.

Ein weiterer Zeuge war Handlungslehrling Vogelmann. Am 9. Juni mittags habe er vor dem Hause Ackerstraße 130 einen Mann mit einem kleinen Mädchen stehen sehen, es sei gegen 1 Uhr mittags gewesen. Er glaube aber nicht, daß es der Angeklagte war.

Fräulein Mannigel, Frau Dubinski und Frau Wantke wollen am 9. Juni ähnliche Wahrnehmungen gemacht haben. Alle diese Zeuginnen vermögen aber nicht zu bekunden, wer der Mann oder das Mädchen gewesen sei.

Droschkenkutscher Krüger: Am 9. Juni mittags habe er mit seiner Droschke am Gartenplatz gehalten. Da habe er einen Mann mit einem kleinen Mädchen gehen sehen.

Vors.: Können Sie sagen, wer dieser Mann war?

Zeuge (nach einigem Besinnen): Ich erkenne in diesem Mann mit aller Bestimmtheit den Angeklagten wieder. (Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Wissen Sie, wer das Mädchen war?

Zeuge: Nein.

Vors.: Kannten Sie die ermordete Lucie?

Zeuge: Nein.

Staatsanwalt Dr. Lindow: Ich muß bemerken, daß der Zeuge bei der Polizei mit ebensolcher[31] Bestimmtheit Lenz als den betreffenden Mann bezeichnet hat. Ich ersuche, den Herrn Kriminalkommissar Wanowski zu vernehmen.

Kriminalkommissar Wanowski: Als ich dem Zeugen Lenz vorstellte, sagte er: Das ist er nicht. Ich befahl darauf dem Lenz, den Schnurrbart aufzuwirbeln und seinen Hut aufzusetzen. In diesem Augenblick wollte sich Krüger in voller Erregung auf Lenz stürzen und ihn mißhandeln. Ich mußte ihn mit Gewalt zurückhalten. Krüger rief, das war der Kerl, ich erkenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder. Als er einige Tage darauf von dem Kriminalkommissar Wehn vernommen und ihm Berger gegenübergestellt wurde, bezeichnete er mit ebensolcher Bestimmtheit Berger als den betreffenden Mann.

Kriminalkommissar Wehn und Landrichter Maßmann bestätigten dies.

Ein Geschworener: Hat vielleicht der Angeklagte früher den Schnurrbart aufgewirbelt getragen?

Angekl.: Hier sitzen 10 Zeugen, die beschwören können, daß ich den Schnurrbart niemals aufgewirbelt getragen habe.

Es wurden darauf einige Frauen und Kinder vernommen, die am 9. Juni in der Ackerstraße Männer mit kleinen Mädchen gesehen haben.

Eine Frau wollte die Lucie am 10. Juni mit einem Manne auf dem Gartenplatz gesehen haben.

Am folgenden Tage wurde der Kellner Alfred Klein, der den Spitznamen »Mulattenalfred« hatte, als Zeuge aufgerufen. Der Gerichtshof beschloß, die Liebetruth während der Vernehmung des Klein aus dem Saale zu entfernen. Klein bekundete, er kenne den Angeklagten Berger schon seit mehreren Jahren. Berger sei ein gutmütiger, keineswegs zanksüchtiger Mensch. Am Abend des 8. Juni sei er mit Berger zusammengewesen. Er (Zeuge) habe ein Mädchen, eine Artistin, auf der Straße angesprochen und sei mit diesem in der Wohnung der Liebetruth zusammengewesen; Berger hatte ihm die Schlüssel gegeben. Die Liebetruth war im Gefängnis. Am Morgen des 9. Juni gegen 9 1/2 Uhr begab er sich in das in der Elsässer Straße belegene Restaurationslokal »Zur goldenen Kugel«. Dort traf er Berger und Sander. Beide waren angetrunken und zankten sich. Sehr bald kam es zu einer heftigen Balgerei zwischen den beiden. Bald lag Berger unten, bald Sander oben, bald[32] wieder umgekehrt. Die Hauerei dauerte ziemlich lange. Berger war bis gegen 11 Uhr vormittags in der »Goldenen Kugel«.

Vors.: Berger will in der Nacht vom 8. zum 9. Juni nicht zu Hause gewesen sein?

Klein: Das kann ich nicht sagen, übernächtigt sah er ja aus. Auf weiteres Befragen bemerkte der Zeuge: Er hatte Berger vom Donnerstag bis Sonnabend nicht gesehen.

Vors.: Trauen Sie dem Berger ein Verbrechen zu, wie es ihm hier zur Last gelegt wird?

Zeuge: Durchaus nicht.

Staatsanwalt: War Ihnen bekannt, daß Berger ein Zuhälter ist?

Zeuge: Gewiß.

Staatsanwalt: Sie haben früher gesagt: Wenn Berger angetrunken ist, dann ist er furchtbar aufgeregt?

Zeuge: »Das mag ja sind, wenn ich besoffen bin, denn bin ick so aufgeregt, daß ich mir nicht kenne.«

Staatsanwalt: Berger soll, wenn er betrunken ist, gewalttätig, ja sogar gefürchtet sein?

Zeuge: »Det kann ich nich sagen, mir ist nicht bekannt, daß sich vor Bergern jemand hätte fürchten gedäht. Er hat allerdings einmal einen gewissen Hase ?verbimst?, weil dieser mit der Liebetruth poussiert haben soll.«

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß Berger dieser Schlägerei wegen freigesprochen wurde, weil sich ergeben hatte, daß Berger von Hase angegriffen worden sei?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Ich will bemerken, daß Berger wegen Gewalttätigkeiten mehrfach bestraft worden ist.

Verteidiger: Herr Klein, ist Ihnen bekannt, daß die Liebetruth, während sie mit Berger verkehrte, 8 Jahre einen Zuhälter hatte, der »Schlächter-Emil« genannt wurde und im Verdacht stand, den Günzelschen Mord begangen zu haben, und daß sie 6 Jahre lang noch einen anderen Zuhälter hatte?

Zeuge: Das habe ich gehört.

Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, daß der jetzige Zuhälter der Liebetruth diese zu einem falschen Zeugnis verleiten wollte?

Zeuge: Die Liebetruth nicht, aber zur Schade hat er gesagt: Du mußt sagen: Berger wollte die Liebetruth mit einem Messer erstechen.

Verteidiger: Hat Berger Neigung für unerwachsene Mädchen gehabt?

Zeuge: Nein, im Gegenteil, wir haben uns einmal über »Nutten« (unerwachsene Mädchen) unterhalten. Da sagte Berger: Ich könnte dabei kein Vergnügen finden.

Verteidiger: War die Liebetruth gewalttätig?

Zeuge:[33] Das kann ich nicht sagen.

Vors.: Sie haben früher gesagt, Sie hatten in Ihren Kreisen gesammelt, um Berger einen Verteidiger zu beschaffen. Als aber der Korb gefunden wurde, sagten Sie: Nun rühre ich für Berger keinen Finger mehr, nun glaube ich, er ist der Mörder?

Zeuge: Das ist richtig, als der Korb gefunden wurde, waren wir allgemein der Meinung, daß Berger der Mörder ist.

Vors.: Glaubt man noch heute in Ihren Kreisen, daß Berger der Mörder ist?

Zeuge: Die Meinung ist so.

Verteidiger: Herr Vorsitzender, ich muß gegen diese Fragestellung Protest erheben, das ist ein Gutachten.

Vors.: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß sich diese Frage mit dem Zeugeneid deckt.

Vors.: Halten Sie Berger heute noch für den Mörder?

Zeuge: Ich habe schon gesagt, ich traue Berger einen Mord nicht zu.

Vors.: Sie sind also heute anderer Meinung?

Zeuge: Jawohl.

Vert.: Sind Sie zu dieser Meinungsänderung vielleicht durch einen Artikel des »Lokal-Anzeigers« gekommen, in dem es hieß: »Die Chancen für Berger haben sich günstiger gestaltet«?

Zeuge: Das ist möglich, jedenfalls traue ich Berger einen Mord nicht zu.

Darauf wurde der Untersuchungsrichter, Landrichter richter Maßmann, als Zeuge vernommen: Klein sagte, wenn Berger betrunken ist, dann ist er wie ein wilder Stier, er hat einem Mann, mit dem er in Streit geraten war, ohne jede sichtliche Veranlassung mit geballter Faust ins Auge geschlagen. Klein erzählte ferner: »Es wurde in Zuhälterkreisen mittels einer Liste Geld gesammelt, um Berger einen Verteidiger zu beschaffen. Nachdem aber der Korb gefunden war, wurde die Sammlung eingestellt, da wir uns sagten: Berger muß den Mord begangen haben.«

Vors.: Nun Klein, haben Sie das zu dem Herrn Untersuchungsrichter gesagt?

Zeuge: Das mag sein, ich kann mich darauf nicht erinnern.

Vors.: Sie geben aber zu, daß Sie das, was der Herr Landrichter hier bekundet hat, gesagt haben?

Zeuge: Das mag sein.

Der Verteidiger bezeichnete es als falsch, daß eine Liste zur Aufbringung der Verteidigungskosten herumgegangen sei, es liege hierfür bereits eine eidesstattliche Versicherung vor.

Landrichter Maßmann bemerkte noch: Klein habe auf Befragen gesagt: Es sei ihm bekannt,[34] daß Berger ein Zuhälter sei, er sei es aber nicht.

Der folgende Zeuge war Kellner Max Schumann: Er sei Kellner in der »Goldenen Kugel«. Berger habe vielfach in dem Lokal verkehrt, er habe Berger als ruhigen, higen, gutmütigen Menschen kennengelernt.

Vors.: Berger soll aber, wenn er betrunken war, gewalttätig gewesen sein?

Zeuge: Das mag sein.

Vors.: Er soll am Vormittag des 9. Juni in der Goldenen Kugel einen Menschen, mit dem er in Streit geraten, war, sogleich mit einem Daumen ins Auge gestoßen haben?

Zeuge: Das habe ich allerdings gehört. Als ich am 9. Juni ins Geschäft kam, war die Prügelei schon vorüber.

Vors.: Hat Berger Handel getrieben?

Zeuge: Jawohl, er handelte mit Taschentüchern und Wäsche.

Ein weiterer Zeuge, der Reisende Wilhelm Sander schilderte den Angeklagten in derselben Weise wie der Vorzeuge. Er sei mit Berger oftmals in der Goldenen Kugel zusammengetroffen.

Vors.: Wurde in der Goldenen Kugel über den Mord gesprochen?

Zeuge: Allerdings.

Vors.: Wurde nicht, nachdem der Korb aufgefunden wurde, allgemein behauptet: Berger ist der Mörder?

Zeuge: Anfänglich glaubten wir nicht, daß Berger der Mörder sei, als aber der Korb gefunden war, da wurden wir schwankend.

Staatsanwalt: Sie haben bei der Liebetruth gewohnt?

Zeuge: Jawohl, einige Zeit.

Staatsanwalt: Sie sind auch mit Berger zusammen gereist?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanw.: Woher hat Berger das Geld zum Reisen und zum Handeln genommen?

Zeuge: Soweit ich weiß, hat er sich Geld von seinen Verwandten geborgt.

Staatsanw.: Sie sind auf die sogenannte »Wechselfalle« gegangen, d.h. Sie sind in Läden gegangen und haben falsches Geld zu wechseln gesucht, Sie sind deshalb mit drei Wochen Gefängnis bestraft worden?

Zeuge: Jawohl.

Die Liebetruth trat vor: Der Zeuge sagt die Unwahrheit, wenn er behauptet: Berger sei nicht gewalttätig.

Landrichter Maßmann: Der Zeuge hat bekundet: Wenn Berger betrunken war, dann ist er im höchsten Maße gewalttätig.

Zeuge Sander gab zu, eine solche Bekundung bei dem Untersuchungsrichter getan zu haben.

Hierauf wurde der 75jährige Drechslermeister Christian Liebetruth, Vater der[35] Johanna Liebetruth, als Zeuge aufgerufen: Er wohne seit 1886 in Berlin. Eines Abends habe er seine damals 14 1/2 Jahre alte Tochter mit Berger in der Brunnenstraße getroffen. Er habe Borger sofort zur Rede gestellt und ihm gesagt: er warne ihn, seine Tochter zu verführen, da er sich dadurch strafbar machen würde. Es wurde ihm aber berichtet, daß Berger seine Tochter weiter behellige. Er habe auch das Paar einmal in der Stralsunder Straße abgefaßt und von dieser Zeit ab seiner Tochter die Kleider versteckt, damit sie nicht ausgehen konnte.

Vert: Sie sagten zu Berger, er mache sich strafbar, wie kamen Sie dazu, Ihre Tochter stand doch bereits unter sittenpolizeilicher Kontrolle?

Zeuge: Zu der Zeit noch nicht, da war sie noch ein sehr anständiges Mädchen.

Vors.: Weshalb waren Sie gegen den Verkehr des Berger mit Ihrer Tochter?

Zeuge: Weil er arbeitsscheu war. Als ich ihn einmal zur Rede stellte, sagte er: »Ich brauche nicht zu arbeiten; Ihre Tochter ist ja ein sehr hübscher Backfisch, ich will mich von ihr ernähren lassen.« Da ich sah, daß die beiden jungen Leute sich lieben, so sagte ich zu Berger: Wenn er anständig werden will, dann soll er meine Tochter zur Frau bekommen, er solle zu mir kommen und in meiner Werkstätte polieren. Er kam aber nicht.

Vors.: Sie würden also, wenn Berger ein ordentlicher Mensch gewesen wäre, nichts dagegen gehabt haben, wenn er Ihre Tochter geheiratet hätte?

Zeuge: Nein.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Berger Ihre Tochter gemißhandelt hat?

Zeuge: Jawohl, er soll ihr einmal die Nase eingeschlagen haben.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie bis in die letzte Zeit den Angeklagten Berger Theodor und er Sie »Vater« genannt hat?

Zeuge: Das ist richtig, das war von der Zeit ab, wo sich beide verlobt hatten; ich glaubte immer noch, daß Berger sich bessern werde.

Johanna Liebetruth, nochmals vernommen, wurde vom Vorsitzenden in eindringlichster Weise ermahnt, die volle Wahrheit zu sagen. Sie bekundete auf Befragen: Sie habe gegen Berger keinen Haß. Sie habe Berger 1887 auf der Straße kennengelernt und mit ihm sehr bald intim verkehrt. Sie sei damals 14 1/2 Jahre alt gewesen. Anfänglich habe Berger bei seinen und sie bei ihren Eltern[36] gewohnt. Ihr Vater habe es nicht dulden wollen, daß sie mit Berger verkehre, und habe sie deshalb oftmals gezüchtigt. Schließlich habe sie sich nicht mehr nach Hause getraut und sei zu fremden Leuten gezogen. Seit ihrem 16. Lebensjahre stehe sie unter sittenpolizeilicher Kontrolle. Sie sei schließlich mit Berger zusammengezogen, ihr Zuhälter sei aber Berger niemals gewesen. Er habe sie niemals mals angehalten, ihrem unzüchtigen Gewerbe nachzugehen, er habe sie auch auf ihren Gängen niemals begleitet. Berger habe auch niemals von ihr Geld gefordert. Sie habe ihm freiwillig solches gegeben, und wenn sie nichts hatte, habe ihr Berger Geld gegeben.

Vors.: Woher hatte Berger Geld?

Zeugin: Er handelte.

Staatsanw.: Haben Sie nicht mit Berger sogenannte Kunsttouren unternommen?

Zeugin: Ich bin mit Berger in Breslau, Halle, Leipzig, Dresden, Hannover, Köln und Düsseldorf gewesen. Auf solchen Touren machte aber Berger oftmals Abstecher. So z.B. reiste er von Dresden nach Nordhausen.

Staatsanw.: Weshalb tat er das?

Zeugin: Um Geschäfte zu machen.

Vors.: War Berger bisweilen gewalttätig?

Zeugin: Jawohl, ganz besonders wenn er betrunken war, hat er mich bisweilen geschlagen.

Vert.: Sie sollen Berger auch bisweilen geschlagen haben?

Zeugin: Das war ein einziges Mal, weil Berger meine Schwester geschlagen hatte. Einmal hat er mich auf die Nase geschlagen, so daß ich einen Nasenpolyp bekam.

Staatsanw.: Ist es richtig, daß Berger Ihnen einmal mit einem Brotmesser den Hals abschneiden wollte?

Zeugin: Jawohl, das war in der Hussitenstraße, weil ich mir die ihm geliehenen 11 Mark nehmen wollte.

Staatsanw.: War Berger, wenn er angetrunken war, sehr sinnlich?

Zeugin: Bisweilen; er war überhaupt sehr eifersüchtig.

Vert.: Ist es richtig, daß sie mit einem Schlächter, der in Zuhälterkreisen »Schlächter-Emil« genannt wird, ein Verhältnis gehabt haben?

Zeugin: Jawohl, das war im vorigen Jahre.

Angekl.: Die Liebetruth sagte: Sie habe Reisen mit mir unternommen, weil sie glaubte, in anderen Städten mehr zu verdienen. Das ist nicht richtig, wir sind von Berlin abgereist, weil ich dem Gefängnis entgehen wollte.

Vors.: Fräulein Liebetruth,[37] ist das richtig?

Zeugin: Das weiß ich nicht mehr.

Angekl.: Die Liebetruth hat immer betont, sie sage die reine Wahrheit, sie hat aber nicht die Wahrheit gesagt. Die Liebetruth hat gesagt, sie hat mich niemals wegen Zuhälterei angezeigt. Die Liebetruth hat mich aber mindestens 30mal wegen Zuhälterei angezeigt. Ich bin deshalb von 1895 bis 1898 auf Reisen gegangen. Als ich 1898 angeklagt war, da hat die Liebetruth beschworen, daß alle ihre Angaben unwahr seien, ich wurde deshalb freigesprochen.

Vors.: Ist das richtig?

Zeugin: Das weiß ich nicht mehr.

Angekl.: Dann bitte ich die Akten einzusehen.

Vert.: Frl. Liebetruth, ist es richtig, daß Sie Berger mindestens 30mal wegen Zuhälterei angezeigt haben?

Zeugin: Ich bin ja sprachlos, ich habe doch Berger nicht 30mal angezeigt.

Vert.: Sind es 5- oder 3mal gewesen?

Zeugin: Ich weiß es nicht, ich leide bisweilen an schlechtem Gedächtnis.

Vert.: Bisweilen sollen Sie auch ein starkes Gedächtnis gehabt haben?

Zeugin: Das mag sein.

Vert.: Ist es richtig, daß Sie vor Gericht Ihre Angaben widerrufen haben?

Zeugin: Es ist ja möglich, daß ich auf der Polizei gesagt habe, was ich nicht verantworten konnte.

Auf Antrag des Verteidigers wurde Kriminalkommissar Wehn beauftragt, die Polizeiakten des Berger zur Stelle zu schaffen.

Ein Geschw.: Reiste Berger unter seinem Namen?

Angekl.: Bisweilen unter meinem Namen, bisweilen auch unter falschem, wie dies oftmals Reisende in den Hotels tun. Die Liebetruth hat auch heute nicht die Wahrheit gesagt, es ist unwahr, daß ich die Liebetruth mit einem Messer bedroht habe. Die Liebetruth hatte mir 10 Mark genommen. Ich habe ihr deshalb mit Schlägen gedroht. Die Schade war aber nicht dabei.

Die Liebetruth blieb bei ihrer Aussage.

Vert.: Wie kam es, daß Sie früher bekundet haben, Sie wissen nicht, womit Berger Geld verdient hat. Heute sagen Sie, Berger habe mit Taschentüchern gehandelt?

Liebetruth: So genau weiß ich das nicht.

Angekl.: Die Liebetruth hat mir auch mehrfach gedroht, sie wolle mich »alle« werden lassen.

Liebetruth: Das ist nicht wahr, wenn Berger mir kein Geld geben wollte, da sagte er: Dann laß mich doch »alle« werden. Ich habe[38] darauf erwidert: Wenn du mir kein Geld gibst, dann bin ich auch gezwungen, dich »alle« werden zu lassen.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Liebetruth: Sie habe zu einem Mädchen in der Barnimstraße geäußert: Meiner hat gesagt: er macht lieber 10 Jahre Zuchthaus ab, ehe er mich heiratet; da versetzte das Mädchen: Wenn das meiner wäre, dann würde ich ihn entweder reinschieben oder rausschmeißen. Sie habe gesagt, sie werde ihn auch rausschmeißen.

Vert.: Die Wehn soll zu Ihnen gesagt haben: wenn ich rauskomme, dann heirate ich, du bist allerdings schon 17 Jahre mit Berger zusammen, und er heiratet dich noch immer nicht. Da Sie gewissermaßen in dieser Weise verhöhnt wurden, sagten Sie: Wenn ich jetzt rauskomme, dann heirate ich auch?

Zeugin: Das ist nicht richtig, verhöhnt wurde ich nicht.

Auf weiteres Befragen erzählte die Liebetruth in sehr weitschweifiger Weise: Als ich Sonnabend, den 11. Juni, vormittags aus dem Arrest kam, sah ich vor dem Hause Ackerstraße 130 eine große Anzahl Leute stehen. Berger schlief noch. Ich sah mich in meiner Wohnung um und gewann sehr bald die Überzeugung, daß Berger ein Mädchen bei sich gehabt hat. Ich muß ja bekennen, ich war sehr eifersüchtig. Als Berger aufwachte, sagte ich ihm das auf den Kopf zu. Berger bestritt es und sagte, »Mulatten-Albert« ist mit einem Mädchen hier gewesen. Ich schimpfte. Plötzlich vernahmen wir, der Rumpf der Lucie ist aufgefunden. Nachmittags, als Berger wieder schlief, sah ich plötzlich, daß mein kleiner Korb verschwunden war. Ich weckte sofort Berger und fragte ihn, wo der Korb sei. Zunächst sagte er, er habe ihn seiner Schwester geschenkt. Da ich ihm auf den Kopf zusagte, daß das nicht wahr sei, sagte er: ich war besoffen und habe eine »Penne« (obdachloses Mädchen) mitgenommen, die muß den Korb gestohlen haben. Ich versetzte: Das ist nicht wahr, du hast der Penne den Korb geschenkt, du bist ja ein so schlechter Kerl, daß ich dir den Mord an der kleinen Lucie zutraue. Berger sagte: Sei nur still, ich werde dich auch heiraten. Montag gehen wir bestimmt aufs Standesamt. Wenn es heute noch nicht so spät wäre, dann würden wir heute noch gehen. Das Standesamt wird aber um 5 Uhr[39] nachmittags geschlossen.

Vors.: Sie wollten Berger heiraten?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Was mag Berger veranlaßt haben, plötzlich mit Ihnen zum Standesamt zu gehen?

Zeugin: Ich war der Meinung, daß er mich wegen der »Penne« und auch wegen des Korbes heiraten wollte.

Vors.: Sind Sie vielleicht der Meinung, daß Berger Sie habe heiraten wollen, damit Sie wegen des Korbes keinen weiteren Skandal machen?

Zeugin: Das allein war wohl nicht die Ursache. Ich muß offen gestehen, ich traue Berger den Mord nicht zu.

Staatsanw.: Hat nicht Berger gesagt: Sollte ich inzwischen verhaftet werden, so gehst du allein auf Standesamt?

Zeugin: Jawohl. Die Zeugin sagte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Die Lucie sei ein sehr hübsches, munteres Mädchen gewesen, das sie sehr lieb hatte. Das Kind habe ihr oftmals Einkäufe besorgt und sei auch oftmals besuchshalber in ihrer Wohnung gewesen. Das Kind habe zu ihr »Frau Liebetruth«, zu Berger »Onkel« gesagt. Montag früh kamen zwei Sittenbeamte. tenbeamte. Da sie den Beamten sagte: daß sie im Arrest war, seien sie wieder fortgegangen. Einige Tage darauf wurde Berger verhaftet.

Vert.: Hatten Sie nicht auf Lenz Verdacht?

Zeugin: Allerdings.

Vert.: Wie kamen Sie dazu?

Zeugin: Weil gesagt wurde: es sei ein starker Mann mit dickem, schwarzem Schnurrbart in verdächtiger Weise mit der Lucie gesehen worden.

Vert.: Ist es richtig, daß Berger verschiedene ihm gehörige Sachen verschenkt hat?

Zeugin: Allerdings, er hat sogar kurz nach dem Morde ein Paar fast noch neue Stiefel verschenkt.

Auf ferneres Befragen bemerkte die Zeugin: Frau Berlin habe zu ihr gesagt: Sie haben wohl meine kleine Lucie in der Friedrichstraße verkauft?

Angekl.: Die Liebetruth hat nicht die volle Wahrheit gesagt. Die Liebetruth schrie und lärmte wegen des Korbes, ich machte deshalb die Fenster zu und sagte: Hannchen, mache um Gotteswillen nicht so furchtbaren Skandal, es ist doch nicht nötig, daß alle Leute unser Zanken hören. Die Liebetruth sagte: Ich werde ruhig sein, aber du weißt doch, daß du mir versprochen hast, Montag mit mir aufs Standesamt zu gehen. Gewiß, sagte ich, wenn es nicht schon so spät wäre, würden wir heute noch gehen.

Die[40] Liebetruth gab dies als richtig zu.

Angekl.: Ich bin genötigt, noch verschiedenes klarzustellen. Die Liebetruth hat angedeutet, daß ich den Mord begangen haben könnte.

Vors.: Das ist nicht wahr, die Liebetruth hat ausdrücklich und zwar wiederholt gesagt: sie traue Ihnen den Mord nicht zu.

Angekl.: (mit weinender Stimme): Herr Vorsitzender, ich bin hier wegen Mordes angeklagt, ich muß mich doch ganz ausführlich verteidigen können.

Vors.: Selbstverständlich, Sie haben volle Verteidigungsfreiheit, Sie dürfen aber nicht, was längst festgestellt ist, wiederholen.

Angekl.: Jedenfalls hat die Liebetruth angedeutet, daß der Korb mich verdächtig macht und hat mir auch deshalb mit Anzeige gedroht. Ich will darauf bemerken: als wir in Breslau waren, da verkehrten wir mit einer gewissen Weiland. Die Liebetruth erzürnte sich mit ihr, und auch ich hatte mit dem Mädchen Krach. Plötzlich wurde die Weiland ermordet, der Täter ist, soviel ich weiß, noch nicht entdeckt. In der Hand der Ermordeten wurde ein blonder Schnurrbart, den sie offenbar im Todeskampf dem Mörder abgerissen hat, vorgefunden. Die Liebetruth hat mir auch gedroht: wenn du mich nicht heiratest, dann lasse ich dich auch wegen des Breslauer Mordes »alle« werden. Ich weiß, daß du es nicht gewesen bist, ich traue dir so etwas auch nicht zu, aber verschiedenes, insbesondere der blonde Schnurrbart, macht dich verdächtig. Jedenfalls würdest du verhaftet und einige Monate in Untersuchungshaft behalten werden.

Vors.: Liebetruth, ist das richtig?

Zeugin: »Das habe ich nicht gesagt wegen dem Breslauer, sondern wegen dem Charlottenburger Mord.«

Angekl.: Das ist nicht wahr, die Liebetruth hat mir gedroht, mich wegen des Breslauer Mordes anzuzeigen. Ich will weiter bemerken: Ich habe die Liebetruth bisweilen »Tante« genannt. Die Liebetruth war darüber ärgerlich und sagte: ich bin nicht deine alte Tante. Wenn du zu mir Tante sagst, so sage ich zu dir Onkel. Die Liebetruth hat mich deshalb vielfach »Onkel« genannt und dadurch wurde wohl die kleine Lucie veranlaßt, Onkel zu mir zu sagen. Sie hat auch zu der Liebetruth »Tante« gesagt, diese hatte das aber dem Kinde untersagt.

Vors.: Ist das richtig, Liebetruth?

Zeugin:[41] Es ist möglich.

Angekl.: Ich ersuche, der Liebetruth ferner die Frage vorzulegen, ob ihr bekannt war, daß ich sie nicht früher heiraten konnte, weil ich polizeilich gesucht wurde?

Zeugin: Das ist richtig.

Es wurde darauf Frau Wehn, geborene Täubner vernommen: Ich habe im Juni mit der Liebetruth im Polizeigefängnis in der Barnimstraße gesessen. Da sagte ich zu der Liebetruth: Wenn ich jetzt rauskomme, werde ich heiraten, ich habe auch inzwischen geheiratet. Die Liebetruth sagte: »Meiner geht lieber zehn Jahre ins Zuchthaus, als daß er mir heiratet.« Du bist schön dumm, versetzte ich, du bist 17 Jahre mit dem Kerl zusammen, und da will er dich noch immer nicht heiraten. Ich ließ den Kerl entweder alle werden oder schmiß ihn raus. Ich werde ihn auch rausschmeißen, wenn ich rauskomme und er mir nicht heiratet, sagte die Liebetruth. Einige Tage später traf ich die Liebetruth im »Heidelberg«. Da sagte sie zu mir: Meiner wird mir jetzt doch heiraten, wir waren schon aufs Standesamt, hätte er es nicht getan, so würde ich ihn rausgeschmissen haben.

Eine weitere Zeugin war Frau Gottschalk: Sie wohne im Seitenflügel des Hauses Ackerstraße 130. Am 9. Juni vormittags zwischen 9 und 10 Uhr habe sie Berger nach Hause kommen sehen. Sie habe nicht den Eindruck gehabt, daß Berger betrunken war. Schon früher sei Frau Walter, die Schwester des Berger, zu ihr gekommen und habe auf Berger gewartet. Wie lange Berger zu Hause geblieben sei, wisse sie nicht. Mittags seien hintereinander zwei Leierkastenmänner auf den Hof gekommen. Die Kinder im Hause haben nach den Klängen des Leierkastens getanzt. Ob Lucie Berlin sich unter den Kindern befand, könne sie nicht sagen.

Vert.: Sie haben früher eine sehr phantasievolle Geschichte erzählt. Sie haben Lenz als Mörder bezeichnet und dies damit begründet: Lenz verkehre bei einer Frau Feige, die zwei Wohnungen habe, in denen sie Harems unterhalte. Sie habe gesehen, wie am 9. Juni mittags die kleine Lucie an der Hand eines etwa 13jährigen Mädchens nach der Verbindungsbahn gegangen sei. Ist es richtig, daß Sie diese Phantasterei der Polizei mitgeteilt haben?

Zeugin: Ich wurde von einem Kriminalbeamten gefragt, und da habe ich meine[42] Vermutung geäußert.

Vert.: Wie kamen Sie zu dieser Erzählung, ganz besonders, wie kamen Sie dazu, auf bloße Vermutungen hin Lenz des Mordes zu beschuldigen?

Zeugin: Ich wurde gefragt, wen ich als Mörder vermute, da habe ich meiner Vermutung Ausdruck gegeben.

Vors.: Die Hauptsache ist, daß das, was Sie heute unter Ihrem Eide ausgesagt haben, wahr ist?

Zeugin: Das ist wahr.

Vert: In dem Hause Ackerstraße 130 wohnen doch sehr viele Menschen. Wie kommt es, daß Ihnen gerade Berger, als er am Vormittag des 9. Juni nach Hause kam, auffiel?

Zeugin: Weil ich gerade am Fenster saß.

Vert.: Das ist doch kein Grund, es kommen doch unaufhörlich zahlreiche Menschen ins Haus?

Zeugin: Mir fiel Berger auf.

Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß die Familie Berlin furchtbar auf Berger schimpfte und alle Hausbewohner, die als Zeugen in diesem Prozeß in Frage kommen könnten, auf Berger hetzte, mit der Behauptung: Berger sei zweifellos der Mörder?

Zeugin: Geschimpft haben allerdings die Berlins heftig auf Berger, das ist doch sehr natürlich.

Vert.: Die Frage der Täterschaft ist jedenfalls noch nicht entschieden, so sehr natürlich ist also das Schimpfen auf Berger nicht. Ist Ihnen aber bekannt, daß die Familie Berlin eine Belohnung von 100 Mark ausgesetzt hat, wenn Berger verurteilt wird?

Zeugin: Ich habe wohl etwas von einer Belohnung gehört, ich habe mich aber dadurch nicht beeinflussen lassen.

Vert.: Jedenfalls geben Sie wohl aber zu, daß Sie nach dem Morde vielfach mit Frau Berlin über den Mord gesprochen haben?

Zeugin: Jawohl.

Frau Walter, die Schwester des Angeklagten, bekundete: Sie sei am 9. Juni vormittags gegen 11 Uhr bei ihrem Bruder in der Liebetruthschen Wohnung gewesen. Die Liebetruth sei zu jener Zeit im Gefängnis gewesen. Sie hatte den Eindruck, daß ihr Bruder angetrunken war, und zwar um so mehr, da ihr Bruder ihr sagte: er sei die Nacht vorher »durchgegangen«. Ihr Bruder habe ihr gesagt: »Nun werde ich Hannchen heiraten.«

Bereiter Gerlach: Nachdem der Rumpf der kleinen Lucie aufgefunden war, habe er mit Frau Walter, der Schwester des Angeklagten, über den Mord gesprochen. Frau Walter sagte: Meinem Bruder traue ich den Mord nicht[43] zu. Aber selbst wenn er es gewesen wäre, dann würde ich meinen Bruder nicht verraten.

Vorsitzender: Früher lautete Ihre Aussage: Frau Walter habe gesagt: Wenn es mein Bruder gewesen wäre, dann würde ich nicht so dumm sein und meinen Bruder verraten?

Zeuge: Das ist allerdings richtig. Bei meiner ersten Vernehmung wußte ich mich noch besser zu erinnern.

Vors.: Nun, Frau Walter, ist das richtig?

Zeugin: Das ist nicht wahr, das habe ich nicht gesagt.

Vors.: Hören Sie, Frau Walter, der Zeuge hat keinerlei Interesse an diesem Prozeß und macht einen durchaus glaubwürdigen Eindruck. Ihr direktes Ableugnen könnte doch auf die Herren Geschworenen einen unangenehmen Eindruck machen?

Zeugin: Ich kann nicht anders sagen.

Unter allgemeiner Spannung wurde darauf die Mutter der kleinen Lucie, Frau Berlin, eine recht nett aussehende Frau, in tiefe Trauer gekleidet, als Zeugin in den Saal gerufen.

Vors.: Frau Berlin, Ihren tiefen Schmerz, den Sie erlitten haben, wird Ihnen jeder nachfühlen. Sie müssen sich aber zusammennehmen und ohne jede Voreingenommenheit hier Zeugnis ablegen. Die Zeugin wurde vereidigt und bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, bisweilen unter heftigem Schluchzen: Die Lucie war ein munteres, hübsches Mädchen. Sie hatte hellblondes Haar, blaue Augen und rote Wangen. Sie war etwas wild, aber sonst herzensgut und folgsam. Sie besuchte die in der Ackerstraße belegene Mädchen-Gemeindeschule. Das Kind war Bekannten gegenüber sehr zuvorkommend, Fremden gegenüber dagegen sehr zurückhaltend, ja mißtrauisch. Ich sagte zu der Lucie noch am Sonnabend vor dem Morde: Lucie, daß du nicht einmal mit einem fremden Manne mitgehst. Nein, Mutti, versetzte das Kind, mit einem fremden Mann gehe ich nicht mit, da wird einem Kopf und Bein abgeschnitten und dann ins Wasser geworfen (große Bewegung im Zuhörerraum).

Vors.: Wie kam das Kind wohl zu dieser Äußerung?

Zeugin: Es war kurz vorher ein solcher Mord an den öffentlichen Anschlagsäulen bekannt gemacht worden. Zwei Tage später rief plötzlich die Lucie: Mutti, Mutti, ein fremder Mann hat mich aufgefordert, mit ihm zu gehen, ich gehe aber bloß mit Bekannten. Am[44] 9. Juni vormittags gegen 11 Uhr kam Lucie aus der Schule. Sie spielte zunächst mit anderen Kindern auf dem Hofe, alsdann machte sie für Frau Höner einige Besorgungen. Frau Höner gab dafür dem Kinde zwei Pfennige. Lucie fragte mich, ob sie sich dafür Bonbons kaufen dürfe. Ich gab meine Zustimmung. Sehr bald kam Lucie mit den Bonbons zurück und sagte: Mutti, die schönsten Bonbons sollst du bekommen. Ich küßte und herzte das Kind mit dem Bemerken: Iß nur die Bonbons allein, mein herziges Kind (Frau Berlin weinte bei diesen Worten sehr heftig). Nachdem sie ihre Tränen getrocknet, fuhr sie fort: Gegen 12 1/4 Uhr kommt mein Mann gewöhnlich zum Mittagessen nach Hause. Die Lucie lief dem Vater zumeist entgegen, an diesem Tage hatte sich aber mein Mann über eine Wickelmacherin (mein Mann ist Zigarrenmacher) sehr geärgert, er kam infolgedessen einige Minuten früher. Lucie wollte gerade zum Korridor hinausgehen, um dem Vater entgegenzulaufen, da trat mein Mann in den Korridor. Wir aßen Mittagbrot, wir aßen Karbonade, Gurkensalat und Kartoffeln.

Vors.: Hat das auch die Lucie gegessen?

Zeugin: Jawohl. Nachdem mein Mann gegessen hatte, begab er sich sogleich wieder zur Arbeit. Da mein Mann sehr ärgerlich war, so befürchtete ich, er könnte nicht wieder zur Arbeit gehen. Ich schickte daher die Lucie nach, um zu sehen, ob der Vater auch zur Arbeit gegangen sei. Sehr bald kam Lucie zurück mit dem Bemerken: Vater ist zur Arbeit gegangen. Gleich darauf sagte Lucie: Mutti, ich muß aufs Klosett. Ich sagte, nimm den Schlüssel, aber bleibe nicht lange, sonst bekommst du Haue.

Vors.: Weshalb sagten Sie das?

Zeugin: Weil die Lucie immer Bälle bei sich hatte, und ich glaubte, sie werde mit anderen Kindern auf dem Hofe Ball spielen. Sie sollte aber bald wiederkommen, da ich gegen 3 Uhr nachmittags etwas vorhatte. Gegen 1 1/4 Uhr nachmittags kam mein Sohn Bruno zu Tisch. Dieser fragte, wo Lucie sei. Da die Lucie selbst nach Verlauf von 20 Minuten nicht wiederkam, ging ich nachsehen. Das Klosett war aber verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Ich begab mich auf den Hof. Auf diesem spielte gerade ein Leierkastenmann, und die Kinder tanzten, meine[45] Lucie war aber nicht unter den Kindern. Es wurden von den Kindern die verschiedensten Angaben über den Verbleib des Kindes gemacht. Ich suchte mit Hilfe meines Sohnes in der ganzen Umgegend, es war jedoch alles vergeblich, mein Kind blieb verschwunden, ich habe es nicht mehr wiedergesehen. (Die Zeugin weinte wiederum heftig.)

Vors.: Wie war die Lucie gekleidet?

Zeugin: Sie trug ein dunkelbraunes Kleid, eine schwarze, mit weißem Band eingefaßte Schürze, rotbraune Knöpfstiefeletten, weiße, baumwollene Strümpfe und einen rotwollenen Unterrock. Außerdem trug sie ein goldenes Medaillon um den Hals.

Staatsanwalt: Sie sagten vorhin, Sie hätten um 3 Uhr nachmittags etwas vorgehabt. Was hatten Sie vor?

Zeugin: Das ist meine Sache.

Vors.: Frau Berlin, Sie sind verpflichtet, diese Frage des Herrn Staatsanwalts zu beantworten.

Zeugin: Ich hatte in der Leipziger Straße etwas zu besorgen.

Vors.: Kannten Sie die Liebetruth?

Zeugin: Jawohl. Einmal kam Lucie sehr spät zu Tisch. Auf meine Frage, wo sie geblieben sei, sagte sie, sie habe für Fräulein Liebetruth Schabefleisch geholt. Alsdann habe sie mit dem Hund gespielt, Onkel sei sehr gut zu ihr.

Vors.: Unter »Onkel« verstand sie Berger?

Zeugin: Das nahm ich an.

Vors.: Kannten Sie die Liebetruth und den Berger?

Zeugin: Nur vom Sehen.

Vors.: Die näheren Verhältnisse waren Ihnen nicht bekannt?

Zeugin: Nein.

Frau Berlin erzählte weiter: Als der Rumpf aufgefunden war, da sagte ich: ich kann mir nicht anders helfen, das muß ein Mord aus Rache sein. Berger versetzte: »Das war kein Mord aus Rache, sondern ein Lustmord. Ich bin der Meinung, den Mord hat der Zigarrenspitzenhändler Kufahl in der Gartenstraße begangen, das ist ein bekannter Nuttenjäger. Ich habe gesehen, wie Fräulein Feige das Kind an der Hand genommen und über die Verbindungsbahn nach der Gartenstraße zugeführt hat.«

Angekl. (sehr erregt): Frau Berlin, wenn Sie so etwas sagen, dann sehen Sie mich wenigstens an. Schämen Sie sich, eine solche Lüge zu sagen.

Vors.: Berger, ich muß Sie dringend zur Ruhe ermahnen. Ich habe Ihnen bisher den weitesten Spielraum gelassen, ich kann aber unmöglich dulden, daß Sie in dieser[46] Weise Zeugen gegenübertreten.

Angeklagter: Herr Vorsitzender, ich kann mir unmöglich solche gemeinen Lügen von der Frau gefallen lassen. Ich habe niemanden verdächtigt, ich habe sogar gesagt, als alle Welt behauptete, Lenz ist es gewesen: Solchen Verdacht darf man nicht aussprechen, wenn man nicht, volle Beweise dafür hat.

Vors.: Nun, Frau Berlin, Sie hören, was der Angeklagte sagt. Sie haben einen Eid geleistet, ich ermahne Sie dringend, nur das zu sagen, was Sie mit gutem Gewissen auf Ihren Eid nehmen können.

Frau Berlin: Herr Vorsitzender, meine gute Lucie ist tot, die kommt nicht wieder; ich will niemanden unschuldig belasten, was ich sage, das ist die Wahrheit.

Vors.: Weshalb nahmen Sie an, daß es ein Mord aus Rache war?

Zeugin: Weil ich hörte, Lenz hätte sich mit der Seiler gezankt, da glaubte ich, Lenz hätte aus Wut darüber mein Kind ermordet.

Vors.: Wenn sich Lenz mit der Seiler zankt, liegt doch noch kein Grund vor, ein Kind zu töten?

Zeugin: Man kommt doch dabei auf alle möglichen Vermutungen.

Verteidiger: Sie haben ja in der Voruntersuchung fast das Gegenteil gesagt, ganz besonders haben Sie Lenz belastet. Aber wie kommt es, Frau Berlin, daß Sie von diesem wichtigen Vorkommnis bei allen Ihren früheren Vernehmungen nichts gesagt haben?

Zeugin: Man denkt nicht immer an alles.

Angekl.: Als die Kriminalbeamten kamen, da wurde ich gefragt, ob ich Lenz ausfindig machen könnte. Ich sagte: Ich glaube, das wird nicht schwer halten, der ist immer mit einem gewissen Fuhrmann zusammen. Soviel ich weiß, wohnt Fuhrmann in der Chausseestraße. Da sagte Herr Kriminalkommissar Wannowski: Hier haben Sie drei Mark, und sehen Sie zu, daß Sie Fuhrmann ausfindig machen. Als ich am Montag aufs Präsidium kam und mitteilen wollte, daß ich Fuhrmann ausfindig gemacht habe, sagte Kriminalkommissar nalkommissar Wannowski: Die Sache ist schon erledigt.

Kriminalkommissar Wannowski: Berger verdächtigte derartig den Lenz, daß, obwohl damals Berger gar nicht in Frage kam, ich gegen ihn Verdacht schöpfte. Er sagte u.a.: »Lenz ist pervers veranlagt, dieser allein ist der Mörder.« Es ist richtig, daß ich Berger drei Mark gezahlt habe, damit er Fuhrmann und Lenz ausfindig[47] machen solle.

Hierauf wurde Frau Müller, eine 85jährige Frau, als Zeugin, in den Saal geführt. Am 9. Juni mittags habe sie sich einen Topf in ihre Wohnung getragen. Da habe sie die Lucie auf der Treppe getroffen. Die Lucie sagte: Großmutter, geben Sie her den Topf, ich werde Ihnen den Topf nach oben tragen. Sie sagte: Laß, mein Kind, den Topf kann ich schon selbst tragen. Die kleine Lucie ging aufs Klosett. Oben auf dem Flur stand Berger und sah mich an. Ich sagte zu Berger: Weshalb sehen Sie mich so an, haben Sie denn noch keine alte Frau gesehen?

Alsdann wurde der Vater der ermordeten Lucie, Zigarrenmacher Friedrich Berlin, ein sehr anständig aussehender mittelgroßer Mann von fünfzig Jahren, als Zeuge aufgerufen. Er bekundete, gleich seiner Gattin: Er sei am 9. Juni mittags gegen 12 1/4 Uhr zum Mittagessen nach Hause gekommen und gegen 1 Uhr wieder zur Arbeit gegangen. Als er gegen 7 Uhr abends nach Hause kam, saß seine Frau auf einem Stuhle und weinte. Er fragte nach der Ursache des Weinens. »Die Lucie ist verschwunden,« sagte seine Frau. Er sei, ohne Abendbrot gegessen zu haben, sofort aus seiner Wohnung geeilt und habe volle zwei Stunden lang sein Kind gesucht.

Vors.: Wo suchten Sie?

Zeuge: Bei allen Verwandten und Bekannten im weiten Umkreise.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge: Die Lucie war ein sehr hübsches, aufgewecktes, munteres Mädchen. Das Kind sei oftmals gewarnt worden, mit Fremden mitzugehen. Er könne es sich daher nicht denken, daß seine Tochter mit einem Fremden mitgegangen sei. Das Kind sei körperlich sehr entwickelt gewesen, es habe das Aussehen eines 11jährigen Mädchens gehabt.

Vors.: Wußten Sie, daß Ihre Tochter für die Liebetruth Einkäufe besorgte?

Zeuge: Jawohl, soviel ich weiß, nannte sie die Liebetruth Tante und Berger Onkel.

Ein weiterer Zeuge war der Bruder der ermordeten Lucie, der 15jährige Laufbursche Bruno Berlin! Er erzählte: Er sei am 9. Juni mittags gegen 1 1/4 Uhr zum Mittagessen nach Hause gekommen. Die Mutter sagte, die Lucie sei verschwunden, er möchte doch nach dem Kinde suchen. Er sagte zur Mutter, sie solle mitkommen, da er bald wieder zur Arbeit müsse. Als er[48] abends gegen 7 Uhr nach Hause kam, habe er sofort seinem Vater suchen helfen. Zunächst sei er mit dem Vater in ein Restaurant gegangen und habe mit ihm ein Glas Bier getrunken. Der Zeuge erzählte im weiteren auf Befragen: Er habe mehrfach vor dem Hause Ackerstraße 131 einen Mann in elegantem Anzug mit einem hellen Strohhut stehen sehen. Dieser Mann sei auch oftmals in das Haus Ackerstraße 130 gegangen und habe zugesehen, wie die Lucie mit einem Hunde auf dem Hofe spielte. Ob dies Berger war, könne er nicht sagen.

Hausverwalter Möbius: Er sei Hausverwalter des Hauses Ackerstraße 130. Das Haus sei nachts stets verschlossen. In dem Hause wohnen 106 Mieter, es sei daher schon möglich, daß hin und wieder die Haustür offengelassen worden sei. Es seien ihm aber Fälle bekannt, in denen Hausbewohner, die keinen Hausschlüssel hatten, lange Zeit auf den Nachtwächter warten mußten.

Instrumentenmacher Bollert: Er kenne Berger seit 16 Jahren. Der Vater der Liebetruth habe ihm einmal geklagt, daß Berger seine Tochter auf die Bahn des Lasters gedrängt habe und sich nun von seiner Tochter ernähren lasse. Er habe deshalb Berger energisch zur Rede gestellt.

Berger bemerkte: Bollert habe ihn damals in sehr heftiger Weise vor die Brust gestoßen.

Bollert bekundete noch auf Befragen: Am Tage vor dem Morde habe er an der Ecke der Bernauer und Ackerstraße Berger mit einem kleinen, etwa 11jährigen Mädchen stehen sehen; wer das Kind war, könne er nicht sagen, die ermordete Lucie habe er nicht gekannt.

Restaurateur Weber: Am Tage nach dem Morde, den 10. Juni, sei Berger in seinem Lokal gewesen und habe sich über das Verschwinden der kleinen Lucie in durchaus unverdächtiger Weise geäußert.

Kriminalschutzmann Siegel: Er sei Sittenpolizeibeamter. Er sei am 11. Juni in der Liebetruthschen Wohnung gewesen. Die Liebetruth habe den Lenz verdächtigt. Letzterer sei ein pervers veranlagter Mann, dem die Tat zuzutrauen sei. Berger unterbrach schließlich die Liebetruth mit dem Bemerken: »Hör' schon einmal auf mit den Verdächtigungen, man macht sich dadurch, bloß Feindschaft.«

Kriminalschutzmann Ball bekundete über die von ihm in der Liebetruthschen Wohnung[49] vorgenommene Haussuchung. Er habe einen Anzug, Wäsche und Bindfaden gefunden, der genau so aussah, wie der, mit dem die aufgefundenen Leichenteile verschnürt waren. Er habe im Seitenflügel des Hauses Ackerstraße 130 Nachforschungen gehalten, wer von den männlichen Bewohnern am 9. Juni zur kritischen Zeit zu Hause war.

Verteidiger: Wenn der Zeuge dies bekunden soll, dann bin ich genötigt, sämtliche Hausbewohner des Hauses Ackerstraße 130 zu laden.

Vors.: Ich lege auf diese Bekundung keinen weiteren Wert.

Kriminalschutzmann Blume: Berger habe anfänglich ein sehr ruhiges Wesen an den Tag gelegt. Als er jedoch Berger aufforderte, zu dem Kriminalkommissar Wannowski zu kommen, sei Berger auffallend blaß und sehr erregt geworden.

Der Verteidiger protestierte gegen derartige Bekundungen. Ob ein Mensch blaß und aufgeregt sei, könne nur ein Arzt beurteilen.

Der Gerichtshof beschloß, da es sich lediglich um die Bekundung einer Tatsache handelt, die Bekundung zuzulassen.

Die folgende Zeugin, Frau Marowski, bekundete: Am 9. Juni mittags gegen 1 1/2 Uhr habe sie einen furchtbaren Schrei gehört. Es war ein dumpfer Schrei, so daß sie der Meinung war, es werde ein Kind heftig geschlagen.

Vors.: Woher mag der Schrei gekommen sein?

Zeugin: Der Schrei kann meiner Meinung nach nur von unten gekommen sein.

Auf weiteres Befragen bemerkte die Zeugin: Am 10. Juni vormittags habe sie Berger auf der Treppe stehen sehen, da sei sie sofort zu der Vermutung gekommen: Berger könnte die Lucie ermordet haben. Als am Sonnabend, den 11. Juni, bekannt wurde, daß der Rumpf der Lucie aufgefunden worden sei, haben fast alle Hausbewohner laut klagend im Hofe gestanden, nur die Liebetruth und Berger haben auf der Treppe gestanden und seien in ihre Wohnung gegangen; dies sei ihr verdächtig vorgekommen. Sie habe deshalb gehorcht und habe gehört, wie Berger zu der Liebetruth sagte: »Auf den Gedanken kommt niemand.«

Vors.: Weiter haben Sie nichts gehört?

Zeugin: Nein.

Frau Schneidermeister Noelte: Ihre Küche liegt direkt unter der Liebetruthschen Wohnung. Am 9. Juni mittags gegen 1 1/2 Uhr hatte sie sich mit ihrem Manne gezankt. Sie hatte[50] sich deshalb ein bißchen aufs Sofa gelegt. Bald darauf sei Frau Tamm gekommen. Ihr Mann sagte zu dieser: »Meine Frau schläft, sie wird bald aus dem Bett fallen.« Sogleich vernahm man zunächst ein Poltern und alsdann zweimal ein dumpfes Fallen. Sie sagte: »Nun fällt Hannchen aus dem Bett.« Später habe sie gehört, daß die Liebetruth nicht aus dem Bett gefallen sein konnte, da sie im Gefängnis war.

Vors.: Wissen Sie genau, daß das Geräusch von oben kam?

Zeugin: Ganz bestimmt.

Frau Tamm bestätigte diese Bekundung. Der Fall habe sich holprig angehört.

Der Verteidiger machte die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie bei dem Untersuchungsrichter gesagt habe, es hörte sich an, wie ein weicher, dumpfer Fall.

Untersuchungsrichter, Landrichter Maßmann: Die Zeugen seien nicht so sprachlich gebildet, als daß sie ihre Wahrnehmungen hierüber genau angeben konnten. Auf nochmaliges eingehendes Befragen bemerkte die Zeugin, sie hatte das Gefühl, als wenn ein menschlicher Körper gefallen wäre.

Schneidermeister Noelte schloß sich im wesentlichen der Bekundung seiner Gattin an. Er habe auch den Eindruck gehabt, als ob ein menschlicher Körper gefallen sei. Der Zeuge bekundete im weiteren: Am 10. Juni früh 3 Uhr habe er über sich Schritte gehört. Er habe zu seiner Frau gesagt, jetzt scheinen die Leute oben nach Hause zu kommen.

Der Vorsitzende ersuchte den Untersuchungsrichter, Landrichter Maßmann, sich über den Eindruck zu äußern, den die verschiedenen Zeugen auf ihn gemacht haben.

Der Verteidiger protestierte gegen diese Fragestellung, da das ein Gutachten sei.

Der Gerichtshof beschloß jedoch, dem Untersuchungsrichter die Frage vorzulegen. Letzterer sagte: Die Zeugen machten im allgemeinen einen glaubwürdigen Eindruck, nur die Kinder haben augenscheinlich Erzähltes mit eigenen Wahrnehmungen verwechselt.

Ein Geschworener fragte, ob bei den Hausbewohnern nach dem Kinde gesucht worden sei.

Frau Berlin verneinte das. Sie habe nicht geglaubt, daß das Kind im Hause sei.

Kriminalkommissar Wannowski: Er sei einige Tage nach Auffindung der Leichenteile mit einer großen Anzahl Beamten im Hause Ackerstraße 130 gewesen, um bei sämtlichen[51] Bewohnern Haussuchung zu halten. Als er in die Liebetruthsche Wohnung kam, sei Berger sehr ruhig gewesen. Einige Tage darauf habe er Berger von dem Kriminalschutzmann Blume nach dem Polizeipräsidium holen lassen. Berger sei auffallend blaß und erregt gewesen. Er habe ihm die kleine Gertrud Hübsch, die Berger mehrfach auf der Straße mit der ermordeten Lucie beobachtet haben soll, gegenübergestellt. In diesem Augenblick sei Berger so erschrocken, daß er am ganzen Leibe gezittert habe und bald umgefallen wäre.

Der Verteidiger stellte den formellen Antrag, von der Vernehmung sämtlicher Polizeibeamten Abstand zu nehmen. Die Polizeibeamten seien Gehilfen der Staatsanwaltschaft, sie seien schon deshalb naturgemäß etwas voreingenommen. Außerdem sei jeder Polizeibeamte in das Ergebnis seiner Recherche gewissermaßen verliebt; er sei daher naturgemäß von der Richtigkeit dieses Ergebnisses überzeugt.

Der Vorsitzende verkündete nach kurzer Beratung des Gerichtshofes: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Antrag des Verteidigers abzulehnen; die Polizeibeamten haben selbstverständlich die Verpflichtung, sich streng an die Tatsachen zu halten.

Kriminalschutzmann Ogotzek: Als er in die Wohnung der Liebetruth kam, habe er Berger gefragt, ob er da wohne. Nein, ich wohne nicht hier, ich wohne in der Bergstraße, erwiderte Berger. Bei diesen Worten holte er eine polizeiliche Anmeldung aus der Tasche. Er (Zeuge) habe darauf in der angeblichen Wohnung des Berger nachgefragt, dort kannte man Berger überhaupt nicht.

Der folgende Zeuge war Kriminalkommissar Wehn: Als der Rumpf aufgefunden wurde, habe der Vater des ermordeten Kindes, Zigarrenmacher Friedrich Berlin, sofort gesagt, der Rumpf ist der meiner Tochter Lucie, ich erkenne ihn ganz besonders an dem roten Unterrock wieder. Der Verdacht lenkte sich bekanntlich zuerst auf Lenz. Dieser wurde zur Sektion im Leichenschauhause hinzugezogen. Er sagte mit großer Ruhe: Meine Herren, ich bin an dem Morde des Kindes ebenso unschuldig, wie Sie alle hier. Er (Wehn) hatte sehr bald die Überzeugung gewonnen, daß Lenz als Täter nicht in Betracht kommt. Nicht bloß die Mutter, auch der Lehrer[52] habe die kleine Lucie gewarnt, etwaigen Lockungen fremder Männer zu folgen. Er habe zunächst auf Berger keinen Verdacht gehabt. Eins machte ihn aber ganz besonders stutzig. Berger sagte zu der Liebetruth: »Sprich bloß nicht von dem Korbe, sonst hält man mich schließlich für den Mörder.« Das war zu einer Zeit, als noch niemand daran dachte, ein Korb könnte mit dem Morde in Verbindung gebracht werden. Als der Korb aufgefunden wurde, habe er Berger gefragt, Sie sollen einen Korb der Liebetruth entwendet haben. Berger habe zunächst die Entwendung des Korbes in Abrede gestellt. Schließlich habe er gesagt, ich habe den Korb verschenkt. Wem, fragte er, haben Sie den Korb verschenkt? Einem Mädchen. Was für einem Mädchen? Auf der Straße, antwortete Berger. Nachdem bekannt wurde, daß ein Korb aufgefunden war, habe er eine Preßnotiz veranlaßt. Daraufhin habe der Schiffer Tornow angezeigt, daß er einen Korb gefunden habe. Er habe sofort einen Schutzmann nach Plaue geschickt, um den Korb zu holen. Es sei ihm außerdem aufgefallen, daß Berger sagte: »Die Aufregung vertrage ich nicht.« Diese Äußerung war um so auffälliger, da damals Berger noch in keiner Weise verdächtigt wurde, es wurde ihm im Gegenteil von dem Kriminalkommissar Wannowski. Geld gegeben, damit er Recherchen nach Lenz und Fuhrmann anstelle.


Das Leben und Treiben
der Zuhälter und Dirnen in Berlin.

Kriminalkommissar Wehn berichtete hierauf über die verschiedenen von ihm vorgenommenen Haussuchungen und äußerte alsdann: Die Zuhälter üben im allgemeinen auf die Dirnen einen geradezu dämonischen Einfluß aus. Es kommt fast täglich vor, daß eine Dirne auf die Polizei kommt und sich beklagt, ihr Zuhälter habe sie braun und blau geschlagen. Die Mädchen sehen gewöhnlich so zerschlagen aus, daß man Mitleid mit ihnen hat. Am folgenden Tage kommen die Dirnen wieder und sagen, sie nehmen die Anzeige zurück, alles, was sie gesagt haben, ist Lüge, ihr Zuhälter ist ein hochanständiger Mensch. (Allgemeine Heiterkeit.) Der Kellner Klein sagte einmal zu der Liebetruth[53] im Café: Es ist eine Dummheit von dir, daß du etwas von dem Korbe gesagt hast, hättest du das nicht gesagt, dann hätten sie Berger gar nichts tun können.

Staatsanwalt: Herr Kommissar, ist es nicht eine bekannte Tatsache, daß auch die Zuhälter fest zusammenhalten, ja, daß sie geradezu in Bezirken organisiert sind und sich gegenseitig herauszuhauen suchen?

Zeuge: Das ist richtig, dafür spricht ja am besten der Umstand, daß, wie Klein erzählt hat, die Zuhälter gesammelt haben, um Berger einen Verteidiger zu stellen; erst als sie die Tatsache von dem Korbe hörten, stellten sie die Sammlung ein.

Staatsanwalt: Es ist also der Polizei bekannt, daß unter den Zuhältern eine förmliche Organisation existiert, um sich gegenseitig herauszuhauen?

Zeuge: Jawohl. Der Zeuge bekundete im weiteren Verlauf: Der Einfluß der Zuhälter auf die Dirnen sei so groß, daß selbst der Hinweis, sie müßten ihre Aussage vor Gericht beschwören, sie nicht vor einer falschen Aussage abhält. Ich sagte einmal zu der Liebetruth: Ich glaube, Berger wird doch noch gestehen. Da versetzte die Liebetruth: »Da kennen Sie den Menschen nicht, Berger hat einen so verstockten Charakter, der gesteht nie und nimmer.« Berger wird immer als harmloser Mensch geschildert. Mir fiel es auf, daß Berger nicht einmal ein Taschenmesser besaß. Als ich Klein darauf aufmerksam machte, sagte dieser: Berger hat ein Taschenmesser, er steckt es nur niemals zu sich, weil er sich kennt. Sowie der Kerl besoffen ist, macht er davon gefährlichen Gebrauch.

Kriminalkommissar Wehn sagte noch: Die Ermahnungen des Lehrers und der Mutter haben zweifellos auf das Kind ihren Einfluß nicht verfehlt. Daher erklärt es sich auch, daß, als der Mörder es sittlich angriff, es sich heftig gesträubt und geschrien hat.

Kriminalschutzmann Siegel: Es sei ihm aufgefallen, daß, als er am Abend des 11. Juni in der Liebetruthschen Wohnung gewesen, der Fußboden sauber aufgewaschen war.

Frau Gottschall machte eine ähnliche Bekundung.

Fräulein Seiler: Die Liebetruth habe ihr erzählt, sie habe ihr, als sie in das Gefängnis nach der Barnimstraße ging, die Schlüssel ihrer Wohnung geben wollen. Da habe Berger gesagt: »Was, der Seiler[54] willst du die Schlüssel geben, traust du mir die Schlüssel nicht an?« Daraufhin habe die Liebetruth dem Berger die Schlüssel gegeben. Am Donnerstag, den 9. Juni, nachmittags, habe sie an die Liebetruthsche Wohnung geklopft, um zu sehen, ob der Hund heruntergelassen worden sei, es sei ihr aber nicht geöffnet worden.

Frau Schreiber: Sie wohne über der Liebetruthschen Wohnung. Am Abend des 9. Juni gegen 8 Uhr habe sie an der Liebetruthschen Wohnung geklopft, sie wollte der Liebetruth etwas sagen. Es sei ihr aber nicht geöffnet worden.

Vors.: Berger behauptet, er sei bis 10 Uhr abends zu Hause gewesen. Sie wissen aber genau, daß Sie vor 10 Uhr geklopft haben?

Zeugin: Ich glaube, es war nicht später als 8 Uhr.

Ein weiterer Zeuge war Handelsmann Streichhahn. Der Vorsitzende forderte den Zeugen auf, seine Vorstrafen anzugeben.

Zeuge: Dann bitte ich, zunächst die Öffentlichkeit auszuschließen. (Allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Das ist gesetzlich nicht zulässig. Ich bin leider genötigt, Sie aufzufordern, Ihre Vorstrafen anzugeben.

Zeuge: Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.

Vors.: War es sechs- oder achtmal?

Zeuge: Es können auch siebenmal gewesen sein, so genau weiß ich es nicht. (Heiterkeit.)

Staatsanwalt: Ich bemerke, daß sich der Zeuge geradezu zur Zeugenschaft gedrängt hat.

Zeuge: Das ist nicht richtig, ich habe an den Herrn Verteidiger bloß einen Brief geschrieben. Hätte ich gewußt, daß ich deshalb als Zeuge geladen werde, dann würde ich mich gehütet haben, den Brief zu schreiben.

Der Vors. hielt dem Zeugen aus den Personalakten vor, daß er wegen gemeinschaftlichen Hausfriedensbruchs, vorsätzlicher Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeugs, Bedrohung, Kuppelei, schweren Diebstahls, gewerbsmäßigen Glücksspiels usw. bestraft worden sei. Der Zeuge bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Berger habe sich einmal mit »Hasen-Hermann« in Gegenwart der Liebetruth geprügelt. Da habe Berger gesagt: »Es fällt mir nicht ein, die Liebetruth zu heiraten, dann hätte sie mich ja ganz.«

Frau Krakow: Sie wohne dem Hause Ackerstraße 130 gegenüber, Sie habe oftmals wahrgenommen, daß in dem Hause Ackerstraße 130 des[55] Nachts viele Leute aus- und eingingen.

Staatsanw.: Sie haben früher gesagt: Sie hätten in der Nacht vom 10. zum 11. Juni einen Menschen mit einem Korbe aus dem Hause Ackerstraße 130 herauskommen sehen, das halten Sie heute nicht mehr aufrecht?

Zeugin: Nein.

Es wurde darauf nochmals Johanna Liebetruth als Zeugin hervorgerufen. Sie bestätigte vollinhaltlich die Angaben des Kriminalkommissars Wehn. Sie habe zu dem Kommissar gesagt: Selbst wenn Berger es gewesen ist, wird er es nie und nimmer gestehen, dazu ist er ein zu verstockter Charakter.

Vert.: Sie haben bisher gesagt: Sie trauen Berger einen Mord nicht zu?

Zeugin: Das ist richtig. Aber als ich den Korb mit dem Blut sah, da wurde ich eben anderer Meinung.

Vert.: Sie haben hier unter Ihrem Eide gesagt: Sie trauen Berger einen Mord nicht zu.

Zeugin: Jawohl, man kommt doch aber schließlich auf andere Gedanken.

Vors.: Sie waren der Meinung, Berger habe den Korb einem Mädchen geschenkt?

Zeugin: Jawohl, zunächst glaubte ich das, später wurde ich stutzig.

Vors.: Weshalb wurden Sie stutzig?

Zeugin: Ich wurde stutzig, als mir der Korb mit dem Blut gezeigt wurde.

Der Angekl. bemerkte: Wenn die Liebetruth fortging, habe sie am Bett usw. Zeichen gemacht, um bei ihrer Rückkehr zu sehen, ob Veränderungen vorgekommen seien. Wenn nun die Liebetruth zurückkam und ihrer Meinung nach etwas nicht so war, wie sie glaubte, daß es bei ihrem Verlassen gewesen ist, dann machte sie mit mir Skandal und sagte mir auf den Kopf zu: du hast ein Mädchen hier gehabt.

Vors.: Fräulein Liebetruth, ist das wahr?

Zeugin: Jawohl, das war meine große Eifersucht.

Die Zeugin erzählte ferner auf Befragen, daß der als Zeuge vernommene Instrumentenmacher Bollert vor vielen Jahren dem Berger ihretwegen einmal ein paar derbe Ohrfeigen gegeben habe.

Zeuge Bollert: Herr Präsident, das ist doch nichts Auffälliges; ich war in früheren Jahren im Norden Berlins meiner Körperkräfte wegen eine ganz bekannte Persönlichkeit. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Die Liebetruth bemerkte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei Abonnentin der »Berliner Morgenpost«.

Kriminalkommissar Wannowski:[56] Bekanntlich wurden den die Leichenteile in der »Berliner Morgenpost« eingewickelt gefunden. Ich habe nun zunächst festgestellt, daß die »Berliner Morgenpost« in der Liebetruthschen Wohnung gehalten wurde. Ferner habe ich im Bureau der »Morgenpost« festgestellt, daß diejenigen Nummern bzw. Teile der »Morgenpost«, in denen die Leichenteile eingewickelt waren, in der Liebetruthschen Wohnung sich nicht vorfanden, während die übrigen Nummern fast sämtlich vorhanden waren. Noch ehe der Korb aufgefunden wurde, suchte ich dem Berger an der Hand des Strafgesetzbuches klarzumachen, daß kein Mord, sondern nur ein Sittlichkeitsverbrechen, in Verbindung mit einer vorsätzlichen Körperverletzung mit tödlichem Ausgange, vorliege. Berger hörte sehr aufmerksam zu und weinte. Ich hatte dabei das Gefühl, daß Berger ein Geständnis ablegen wollte.

Vors.: Nun Berger, ist das richtig?

Angekl.: Jawohl, es ist richtig, aber ein Geständnis wollte und konnte ich nicht ablegen, weil ich eben den Mord nicht begangen habe.

Vors.: Weshalb weinten Sie?

Angekl.: Herr Präsident, wenn man als vollständig unschuldiger Mensch des Mordes beschuldigt wird, da ist es doch kein Wunder, wenn man schließlich weint.


Ein Blick in die Berliner Zuhälterwelt.

Darauf wird nochmals der Untersuchungsrichter Landrichter Maßmann vernommen: Berger hat mit Entschiedenheit bestritten, daß er Zuhälter war, er gab aber schließlich zu, daß er sich 17 Jahre lang von der Liebetruth habe ernähren lassen. Aus seinen Äußerungen entnahm ich, daß er während der 17 Jahre niemals gearbeitet hat; im Falle der Not hat er mit Taschentüchern gehandelt. Auf meine Frage, wie es gekommen sei, daß er bisweilen größere Summen besessen habe, sagte Berger: Die Zuhälter haben all eine Passion, das ist das Spiel. Die Zuhälter frönen fast ausnahmslos dem gewerbsmäßigen Glücksspiel. Dadurch kommt es, daß Zuhälter bisweilen größere Summen besitzen, die sie von ihren Dirnen nicht erhalten können. Durch das Spiel kommen die Zuhälter vielfach mit Verbrechern in Berührung. Als ich dies protokollieren wollte,[57] bat mich Berger, anstatt »Verbrecher« zu schreiben: »bestrafte Personen«. Auf meine Frage, was ein Zuhälter macht, wenn er von der Dirne hinausgeschmissen wird, antwortete Berger: das kommt äußerst selten vor. In diesem Falle findet aber ein Zuhälter, wenn er einigermaßen manierlich aussieht, sofort eine andere Dirne. Berger sagte mir ferner: Die Dirnen in Berlin haben fast sämtlich das Bestreben, einen Mann zu haben, den sie mit Haut und Haaren besitzen wollen. Diejenigen Zuhälter, die neben ihrer Zuhälterei arbeiten wollen, werden von den Dirnen verlacht und verhöhnt. Solche Kerls können die Dirnen nicht gebrauchen. Deshalb reden die Dirnen diesen Zuhältern so lange zu, bis sie das Arbeiten einstellen. Die Dirnen wollen eben den Mann vollständig besitzen, und ihn auch vollständig unterhalten. Als ich dem Berger den Korb zeigte, sagte er: solchen Korb hat allerdings die Liebetruth gehabt. Da aber in dem Korb Blutspuren sind, so kann es nicht der Korb der Liebetruth sein. Ich sagte zu Berger: Nehmen Sie an, es wäre doch der Korb der Liebetruth und anstatt Ihrer stände ein anderer Mann unter dem Verdacht des Mordes, würden Sie alsdann nicht sagen: Das ist der Mörder? Darüber kann ich nichts sagen, versetzte Berger, es kann der Korb der Liebetruth nicht sein, denn ich habe den Mord nicht begangen.

Der Angeklagte gab diese Bekundung im wesentlichen als richtig zu.

In der vorletzten Sitzung wurde der Obermeister der Berliner Korbmacherinnung Scheffer als Sachverständiger vernommen. Dieser begutachtete: Ein alter, schon etwas wackeliger Korb wird im Wasser etwas fester. Der eingedrückte Deckel wird jedoch, dadurch daß er ins Wasser gelegt wird, nicht wieder gerade. Man sieht auch heute noch eine gewisse Einsenkung des Deckels an dem aufgefundenen Korbe. Die geringste Veränderung, die man an einem Korbe vornimmt, kann dahin führen, daß der Laie sein Eigentum nicht mehr wiedererkennen kann. Es kommt nicht selten vor, daß eine Dame, die einen Korb zur Reparatur gebracht hat, sagt: Das ist ja mein Korb. Dabei weist die Dame auf einen ganz neuen Korb. Solche Körbe, die zu den Massenartikeln gehören, werden nicht[58] in Berlin, sondern außerhalb, zumeist in Fürstenberg, Provinz Brandenburg, angefertigt.

Der Verteidiger wies darauf einen ganz ähnlichen Korb vor, den er bei Wertheim in der Rosentaler Straße gekauft habe. Er berufe sich unter Umständen auf das Zeugnis des Herrn Wertheim, der bekunden werde, daß in seinem Geschäft jährlich etwa 4000 solcher Körbe verkauft werden.

Es wurden alsdann die chemischen Sachverständigen vernommen. Auf dem Zeugentisch waren die Kleider des ermordeten Kindes, darunter der rotwollene Unterrock aufgestapelt.

Der Sachverständige, erster Assistenzarzt am Institut für Staatsarzneikunde an der Berliner Universität, Dr. Schulz, zeigte den Geschworenen, daß er im Innern des Korbes Blutkörperchen und rote Wollfaserchen gefunden habe. Hierauf zeigte der Sachverständige den Geschworenen unter einem Mikroskop in achtzigfacher Vergrößerung die in dem Korbe vorgefundenen fundenen Wollfasern und die aus dem roten Unterrock des ermordeten Kindes entnommenen Fasern. Auch den Mitgliedern des Gerichtshofes, dem Staatsanwalt, Verteidiger und endlich auch dem Angeklagten wurde das Mikroskop gezeigt.

Der Sachverständige Dr. Schulz bemerkte auf Befragen: Er könne nur sagen: Es spricht nichts gegen die Annahme, daß die im Korbe vorgefundenen Wollhärchen mit denen des Unterrocks identisch seien.

Chemiker Dr. Samuel Engel: Er habe doch bezüglich der Identität der Wollhärchen einiges Bedenken. Es sei nicht ganz sicher, ob die Fasern Wolle seien, da die Schuppen, das Hauptmerkmal von Wolle, fehlen. Man könne aber mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit sagen, daß es Wolle sei. Daß der Farbstoff den in dem Korbe vorgefundenen Fasern mit dem aus dem Unterrock entnommenen Fasern übereinstimmen, erscheine ihm zweifelhaft. Sein Ergebnis fasse er dahin zusammen: Er halte es nur 40 Prozent für wahrscheinlich, 60 Prozent aber für unwahrscheinlich, daß die Fasern identisch seien. Er neige aber mehr zu der Ansicht, daß die Fasern nicht identisch seien.

Es entspann sich hierauf eine längere Auseinandersetzung zwischen den Sachverständigen Dr. Engel, Dr. Schulz sowie zwischen dem Staatsanwalt und Verteidiger. Dr. Engel[59] bemerkte: Blutkörperchen in achtzigfacher Vergrößerung seien nur schwer zu erkennen. kennen.

Die Frage des Verteidigers, wie lange der Korb im Wasser gelegen haben mag, vermochten die beiden Sachverständigen Dr. Engel und Dr. Schulz nicht zu beantworten.

Gerichtschemiker Dr. Paul Jeserich führte des längeren aus: Nach menschlichem Ermessen bestehen die Fasern aus Wolle, sie können weder aus Seide, Baumwolle oder Leinewand bestehen. Andere Stoffe können nicht in Frage kommen. Der Sachverständige zeigte den Geschworenen das Zeitungspapier, in dem die Leichenteile eingewickelt waren, das deutliche rote Flecken habe.

Der Verteidiger bemerkte: Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß nur der Kopf in Zeitungspapier eingewickelt war.

Auf Befragen des Staatsanwalts sagte Dr. Jeserich: Er sei seit 27 Jahren Gerichtschemiker und habe sich vorwiegend mit forensischen Untersuchungen befaßt. Er habe monatlich mindestens 5 Blutuntersuchungen innerhalb der 25 Jahre vorgenommen. Er rechne nicht prozentualiter, er halte es aber für festgestellt, daß die Fäden Wolle seien, und Blutfarbstoff enthalten. Er schließe sich im weiteren dem Gutachten des Dr. Schulz an: Es spreche nichts gegen die Annahme, daß die Fasern im Korbe mit denen, die aus dem Unterrock genommen seien, übereinstimmen.

Dr. Engel: Wenn die Erfahrung ins Gewicht gelegt werden soll, so müsse er sagen, daß er seit 1886 Chemiker an der Königlichen Charite sei und seit dieser Zeit als Vortragender, Untersuchender und Dozierender in Blutsachen dort fungiert habe. Er müsse aber an seinem Gutachten festhalten, es könne mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die Fasern aus Wolle bestehen, die Fasern angesichts des geringen Farbstoffs keine Blutspuren enthalten und daß eine Identität der Fasern, die im Korbe und denen, die aus dem Unterrock gefunden seien, nicht nachgewiesen sei.

Gerichtsarzt, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Straßmann schloß sich durchweg dem Gutachten seines Assistenten Dr. Schulz an.

Professor Dr. Wassermann: Er sei ordentlicher Professor an der Universität in Berlin und Direktor des Königlichen Instituts für Infektionskrankheiten. Wenn man aus einem Stoff Blut auswasche[60] oder den Stoff längere Zeit ins Wasser lege, gehe die Blutfarbe wohl aus, es bleiben aber gelbe Flecken zurück. Er sei daher der Meinung, daß in den gelb aussehenden Fasern Blut enthalten sei, obwohl keine Blutschollen vorhanden seien.

Gerichtschemiker Dr. Jeserich äußerte sich alsdann über die Blutspuren in der Liebetruthschen Wohnung. Das von ihm an den Wänden der Liebetruthschen Wohnung vorgefundene Blut sei Wanzenblut gewesen. Er habe außerdem die Dielen, das Bett, die Wasserleitung, die Vorhänge und so weiter untersucht, aber kein Menschenblut gefunden. Auch den Fingerschmutz des Lenz und des Berger habe er bald nach der Verhaftung untersucht, jedoch kein Blut gefunden. Er habe ferner den gefundenen Korb wegen Blut untersucht. Er habe in dem Korbgeflecht Papier und rotblaue Wollfasern gefunden. Er habe heute zum ersten Male gehört, daß die Herren Mediziner rote Wollfasern im Korbgeflecht gefunden haben. Er habe nun die Webung des Stoffes und den Farbstoff aufs genaueste untersucht und sei zu dem Ergebnis gekommen, daß die in dem Korb vorgefundenen Fasern genau von demselben Webstoff herrühren, wie der Unterrock der Lucie Berlin. Ob die Fasern mit voller Bestimmtheit von dem Unterrock herrühren, könne er nicht sagen, da ja ein solcher Unterrock nicht für die Lucie Berlin allein hergestellt worden sei. Auch das Gewebe der Tragbänder des Unterrocks stimme mit dem im Korbe aufgefundenen Partikelchen in Schuß und Wolle genau überein. Er habe auch den großen Korb, der in der Liebetruthschen Wohnung stand, untersucht. Dieser wies keine Blutspuren, dagegen Tintenflecken von sogenannter roter Kaisertinte auf. Er habe die Tinte genau untersucht und gefunden, daß die Tintenflecke am großen Korbe mit denjenigen am kleinen Korbe vollständig identisch seien. Da der kleine Korb in dem großen Korbe gestanden habe, so sei es jedem Laien einleuchtend, daß die vergossene Tinte auch auf den kleinen Korb fließen konnte.

Vert.: Die Liebetruth hat gesagt, daß sie niemals rote Tinte besessen habe.

Dr. Jeserich: Dann hat die Liebetruth vielleicht rote Schuhwichse gehabt.

Vert.: Kann denn rote Schuhwichse dieselben Flecken hervorbringen?

Dr. Jeserich: Jawohl.

[61] Der Sachverständige Dr. Jeserich hatte auch den Bindfaden untersucht, mit dem die Leichenteile verschnürt waren. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, daß der Bindfaden, der zur Verschnürung der Leichenteile benutzt war, mit dem in der Wohnung der Liebetruth vorgefundenen identisch sei.

Angekl.: Ich halte es für nötig, daß hierbei die Liebetruth als Zeugin dabei ist.

Vors.: Es handelt sich hier um richterliche Feststellungen, dazu ist die Anwesenheit der Liebetruth nicht erforderlich.

Angekl.: Er habe einmal die Schuhe der Liebetruth mit Tinte schwarz gemacht; bei dieser Gelegenheit ist Tinte auf den großen Koffer gekommen. Diese Tinte muß sich heute noch in der Liebetruthschen Wohnung vorfinden. Ich beantrage, die Tinte und auch die Bürsten sten zu untersuchen.

Die Liebetruth, die inzwischen an Gerichtsstelle erschienen war, bestätigte, nochmals als Zeugin vernommen, die Behauptungen des Angeklagten. Ob dabei Tintenspritzer auf den kleinen Korb gekommen sein können, vermöge sie nicht zu sagen.

Der Sachverständige Dr. Jeserich äußerte im weiteren: Er habe die Dielen der Liebetruthschen Wohnung aufreißen lassen und untersucht. Er habe hellblonde Haare gefunden. Er habe auch die Haare des ermordeten Kindes untersucht. Diese stimmten nicht mit denen auf den Dielen gefundenen überein, dagegen mit künstlichen Haaren, die zur Zeit die Liebetruth getragen hatte. An dem Messer des Angeklagten befanden sich rote und blaue Wollfasern, Da das Messer aber in dem roten Unterrock eingewickelt war, so sei es auch möglich, daß die Fasern davon herrühren.

Dr. Schulz gab alsdann eine längere Erläuterung über die im Korbe gefundenen Blutspuren. Der Sachverständige setzte in eingehender Weise auseinander, welche Untersuchung er mit dem im Korbe gefundenen Blut vorgenommen habe. Säugetierblut sei nicht kernhaltig, Menschenblut habe eine gewisse Trübung. Der Sachverständige zeigte den Geschworenen in Mikroskopen Menschenblut, Blut von Säugetieren, Blut von Vögeln und kam zu dem Ergebnis, daß das im Korbe gefundene Blut Menschenblut sei.

Vert.: Herr Sachverständiger, Ist Ihnen bekannt, daß der Gerichtsarzt Dr. Georg Struwe sagt, eine Färbung des[62] Blutes sei noch kein Beweis für Menschenblut?

Dr. Schulz: Ich habe ja bereits gesagt: Wenn man feststellen will, ob man Menschenblut habe, dann darf der Zusatz von Serum nicht zu groß sein; man bekommt sonst auch bei Tierblut eine gewisse Trübung.

Auf die Frage, daß sich zwei Autoritäten in der Medizinischen Wochenschrift gegen seine Schlußfolgerungen aussprechen, sagte der Sachverständige: Diese Aufsätze datieren aus dem Jahre 1901, man sei inzwischen zu anderen Anschauungen gekommen.

Der Sachverständige Dr. Engel suchte des längeren auseinanderzusetzen, daß die von Dr. Schulz angewandte Untersuchungsmethode nicht zweckentsprechend sei, um feststellen zu können, daß das im Korbe vorgefundene Blut Menschenblut sei.

Professor Dr. Wassermann führte unter eingehender Begründung aus: Die von Dr. Schulz angewandte Methode entspreche vollständig den neuesten Forschungen der Wissenschaft. Das Institut für Staatsarzneikunde sei durchaus befugt, Blutuntersuchungen vorzunehmen. Er halte es für zweifellos festgestellt, daß das im Korbe gefundene Blut Menschenblut sei.

Dr. Schulz bemerkte noch auf Befragen: Er halte es für ausgeschlossen, daß das im Korbe vorgefundene Blut Menstruationsblut sei.

Prof. Dr. Wassermann schloß sich dieser Anschauung an.

Am letzten Verhandlungstage waren der Oberstaatsanwalt am Kammergericht Dr. Wachler und Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel vom Landgericht Berlin 1 im Sitzungssaale erschienen: Nach Formulierung der Schuldfragen, die auf Mord und Sittlichkeitsverbrechen lauteten, nahm das Wort Staatsanwalt Dr. Lindow: M.H. Geschworenen! Selten hat wohl ein Verbrechen eine so furchtbare Erregung hervorgerufen, wie das gegenwärtige, das Sie volle neun Tage beschäftigt hat. Am hellen Tage, als die Kinder im Hofe nach den Klängen eines Leierkastens tanzten, wurde ein kleines achtjähriges Mädchen mißbraucht und ermordet. Zwei Tage darauf wurden an verschiedenen Stellen der öffentlichen Gewässer die zerstückelten Leichenteile des verschwundenen Kindes gefunden. Es war dadurch zweifellos festgestellt, daß das Kind in scheußlichster Weise ermordet worden ist. Als ich nach dem Auffinden der Leichenteile[63] nach dem Hause Ackerstraße 130 kam, da ging ein Schrei der Blutrache nach dem verruchten Mörder. Ja, die Hausbewohner verlangten geradezu den Kopf des Angeklagten Berger. Es ging ein Schrei durch das gesamte Publikum, ein Schrei der Entrüstung, der besagt: sagt: Wer wird das nächste Opfer sein, das in solch furchtbarer Weise abgeschlachtet werden wird. Wer schützt uns unsere Kinder, wenn es möglich ist, daß so etwas am hellichten Tage in einer belebten Straße Berlins geschehen kann, wenn es möglich ist, daß unsere Lieblinge in dieser Weise niederen Gelüsten zum Opfer fallen. Ihre Pflicht ist es, m.H. Geschworenen, durch Ihren Wahrspruch das Verbrechen zu sühnen, ein Verbrechen, das laut und vernehmlich nach Rache schreit. Die Meinung des Publikums kann und darf Sie selbstverständlich nicht beeinflussen. Sie haben auf Grund der Beweisaufnahme, die Ihnen hier in neuntägiger Verhandlung vorgeführt worden ist, aus freier Überzeugung auf Grund Ihrer Lebenserfahrungen Ihren Wahrspruch abzugeben. Wenn Sie auf Grund freier Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt sind, der Angeklagte ist der Täter, dann ist es Ihre Pflicht, dieser Ihrer Überzeugung in Ihrem Wahrspruch Ausdruck zu geben. Es haben sich allerdings in der Verhandlung große Schwierigkeiten ergeben. Es hatten sich, ganz besonders aus Anlaß der ausgeschriebenen Belohnung, viele Zeugen gemeldet, die Gehörtes von eigenen Wahrnehmungen nicht auseinanderzuhalten vermochten. Es kommt hinzu, daß die Verhandlung Sie in eine fremde Welt führte. Die Verhandlung hat Ihnen ein grauenhaftes Bild von dem Leben und Treiben der Berliner Dirnen- und Zuhälterwelt welt vor Augen geführt. Es konnte Ihnen auch nur ein Indizienbeweis geführt werden. Aber trotz alledem und trotz aller Schwierigkeiten hat die Verhandlung keinen Zweifel gelassen, wer das Verbrechen begangen hat.

Ich habe die volle Überzeugung, kein anderer als Berger ist der Mörder. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, m.H. Geschworenen, Sie werden den Angeklagten des Sittlichkeitsverbrechens und des Mordes schuldig sprechen. Der Staatsanwalt ging hierauf näher auf die einzelnen Vorgänge ein, er schilderte das Verschwinden des Kindes am 9. Juni und[64] die Auffindung der einzelnen Leichenteile. Die kleine Lucie Berlin, so etwa fuhr der Staatsanwalt fort, wurde sehr sorgfältig erzogen und behütet. Es wurde ihr von den Eltern und auch in der Schule eingeschärft: gegen jedermann zuvorkommend zu sein, aber gegen fremde Männer Mißtrauen zu beobachten. »Mit fremden Männern gehe ich nicht mit,« sagte das Mädchen, »diese schneiden mir Kopf, Arme und Beine ab und werfen mich ins Wasser.« Das Kind sagte das, weil ein solcher Mord gerade an den öffentlichen Anschlagsäulen angezeigt war, und kaum acht Tage darauf las man an denselben Anschlagsäulen die Ermordung der kleinen Lucie in genau derselben Weise.

Es entsteht nun für Sie die Frage: Wer ist der Mörder? der? Sie haben außer acht zu lassen, daß im Humboldthain ein Mann mit einem kleinen Mädchen in verdächtiger Weise gesehen worden ist, ebenso, daß im Schulhof in der Ackerstraße ein junger Mann in verdächtiger Weise gesehen worden ist, wie auch, daß Lenz verdächtig war. Sie haben nur zu prüfen: Ist der Angeklagte Berger der Täter? Lenz war nur deshalb verdächtig, weil er Zuhälter war und im Hause Ackerstraße 130 wohnte. Er war auch seit Monaten verschwunden, so daß die Gefahr vorlag, die Verhandlung werde vertagt werden müssen. Allein nachdem sich die Presse der Sache angenommen hatte, meldete sich Lenz sofort bei der Kriminalpolizei. Sie haben Lenz hier gesehen und gehört, Sie werden mit mir zweifellos die Überzeugung haben: es liegt gegen Lenz keinerlei Verdacht vor. Auch die Beobachtungen im Humboldthain und im Schulhof haben mit der Sache nicht das mindeste zu tun. Lediglich der Angeklagte Berger kann in Betracht komme. Die Tat kann nur ein vollkommen sittlich verkommener Mensch begangen haben. Ein solcher Mensch ist Berger. Er ist 18 Jahre Zuhälter, er hat seit 18 Jahren nicht ehrlich gearbeitet. Er hatte die Frechheit, dem Vater der Liebetruth zu sagen: »Sie denken wohl, ich werde arbeiten; Ihre Tochter ist ja ein hübscher Backfisch, von diesem lasse ich mich ernähren.« Berger ist ein wegen Gewalttätigkeiten wiederholt bestrafter Mensch. Seine Freunde haben uns gesagt: Wenn Berger betrunken ist, dann ist er wie ein wildgewordener Stier. Er[65] ist am 9. Juni von der alten Frau Müller mittags l Uhr mit der kleinen Lucie auf dem Flur, auf dem die Liebetruthsche Wohnung liegt, gesehen worden. Nach dieser Zeit ist die kleine Lucie nicht mehr lebend gesehen worden. Nachdem die Liebetruth aus dem Gefängnis zurückgekommen war und wegen des Fehlens des Korbes Skandal machte, da versprach Berger, sofort mit ihr aufs Standesamt zu gehen und das Aufgebot zu bestellen. Die Liebetruth wollte längst, schon seit Jahren geheiratet sein, Berger sträubte sich aber hartnäckig. Noch wenige Tage vorher sagte die Liebetruth zu einer anderen Dirne: »Meiner geht lieber ein paar Jahre ins Zuchthaus, ehe er mich heiratet.« Berger wußte, daß, wenn er die Liebetruth heiratet, dies nur eine leere Form ist. Sie wird nach wie vor ihrem schmutzigen Gewerbe nachgehen und wenn er dann wegen Kuppelei bestraft wird, er, da er Ehemann ist, ins Zuchthaus wandern. Jetzt mußte aber dem Angeklagten daran liegen, die Liebetruth zu heiraten. Einmal sollte sie wegen des Korbes schweigen und andererseits hatte sie, wenn sie eine Frau Berger, geborene Liebetruth, ist, das Recht der Zeugnisverweigerung. Wäre die Heirat zustande gekommen, dann hätte die Liebetruth zweifellos ihre Aussage verweigert. Der Angeklagte, der sich 18 Jahre von der Liebetruth, von deren Sündengeld hat ernähren lassen, hat mit ihr Kunsttouren durch alle Großstädte Deutschlands unternommen und ist dann mehrfach unter falschem Namen aufgetreten. In Altona ist er unter falschem Namen bestraft worden.

Der Staatsanwalt ging darauf näher auf die belastenden Umstände ein.

Das Hauptbelastungsmoment ist der Korb. Der Angeklagte sagt: er habe den Korb einem Mädchen geschenkt. Es sind öffentliche Aufrufe erlassen worden: das Mädchen solle sich melden. Es hat sich aber bis heute noch niemand gemeldet. Das Fehlen des Korbes fürchtete der Angeklagte sofort. War der Korb auch zunächst nicht vorhanden, so lag doch die große Gefahr vor, der Korb könnte aufgefunden werden. Und nach einigen Tagen wurde der Korb gefunden, und zwar in der Nähe der Stelle, wo die Leichenteile gefunden wurden. In dem Korb sind nicht nur Blutspuren, es ist von dem Gerichtschemiker Herrn Dr. Jeserich außerdem festgestellt[66] worden, daß in dem Korbe sich Wollfasern gefunden haben, die mit denen des rotwollenen Unterrocks übereinstimmen, und auch ein Farbstoff ist im Korbe gefunden worden, der mit dem der Tragbänder des Unterrocks übereinstimmt. Herr Dr. Jeserich hat aber außerdem festgestellt, daß der Bindfaden, mit dem die Leichenteile verschnürt waren, genau mit dem Bindfaden übereinstimmt, der in der Liebetruthschen Wohnung gefunden wurde. Ich muß allerdings hervorheben, daß Blutspuren in der Wohnung nicht gefunden wurden.

Der Staatsanwalt ging alsdann näher auf die Einzelheiten der Beweisaufnahme ein und kam zu dem Schluß: Ich habe die Überzeugung, m.H. Geschworenen, Sie werden keinen Zweifel mehr haben: Kein anderer als Berger ist der Mörder. Der Angeklagte kam am 9. Juni vormittags gegen 11 Uhr in etwas angetrunkenem Zustande nach Hause. Er sah die kleine Lucie auf dem Hofe mit seinem Hunde spielen. Da erwachte in ihm das Gelüste, sich an dem Kinde zu vergehen. Er hatte die beste Gelegenheit hierzu, die Liebetruthsche Wohnung stand ihm ungestört zur Verfügung. Und als das Kind vom Klosett kam, da lockte er es in die Wohnung, um es zu mißbrauchen. Das Kind hat sich aber zweifellos gesträubt, es schrie. Es entstand für Berger die Frage: was wird jetzt geschehen, wird das Kind schweigen? Dies konnte er nicht annehmen. Er mußte deshalb, um nicht entdeckt zu werden, sein Opfer beseitigen. Er brauchte nicht lange zu überlegen, wie er das Kind beseitigen solle. Ein Händedruck genügt, um das Kind zu erwürgen. Er ging alsdann an die Zerstückelung der Leiche, um sie unbeobachtet fortschaffen zu können. Es standen ihm alle möglichen Hilfsmittel, wie Decken usw., zu Gebote, so daß er sich nicht mit Blut zu besudeln brauchte. Daß ein Mensch wie der Angeklagte mit Überlegung gehandelt hat, werden Sie nicht bezweifeln. Ich habe die Überzeugung, Sie werden die schreckliche Tat mit Ihrem Wahrspruch sühnen, indem Sie den Angeklagten des Sittlichkeitsverbrechens und des Mordes schuldig sprechen.

Vert. Rechtsanwalt Walter Bahn: M.H. Geschworenen: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei, es ist eine grausige Tat, die uns hier neun volle[67] Tage beschäftigt hat, eine Tat, die die große Öffentlichkeit ungemein erregt hat. Allein der Richter darf sich von der öffentlichen Meinung nicht im geringsten beeinflussen lassen. Gewiß, das Publikum schreit nach Rache. Der Herr Staatsanwalt sagte: Die Bewohner des Hauses Ackerstraße 130 verlangten geradezu den Kopf des Angeklagten Berger. Der Richter hat aber nicht darauf zu achten, was das Publikum in der Ackerstraße fordert, er hat überhaupt nicht zu fragen, was das Publikum für eine Ansicht hat. Das Publikum hat schon vielfach den Kopf eines Menschen gefordert, und nachher hat sich seine Unschuld ergeben. Ihre Pflicht ist es, m.H. Geschworenen, sich weder durch derartige Gefühle noch durch die öffentliche Meinung irgendwie beeinflussen zu lassen, sondern lediglich zu prüfen, reichen die hier vorgeführten Beweise aus, um den Angeklagten zu verurteilen. Bei einem bloßen Indizienbeweis, noch dazu, wo es sich um den Kopf eines Menschen handelt, ist es doppelte Pflicht der Geschworenen, recht sorgfältig zu erwägen: ist der Angeklagte schuldig. So sehr erwünscht es ist, daß das Verbrechen eine Sühne findet, so ist es doch ebenso notwendig, darauf zu achten, daß der richtige Täter bestraft wird. Der Herr Staatsanwalt sagte: Die Tat kann nur ein sittlich verkommener Mensch begangen haben. Der Angeklagte ist seit 18 Jahren Zuhälter. Nur einem solchen Zuhälter ist die Tat zuzutrauen. Ich kann dem Herrn Staatsanwalt keineswegs beistimmen. Sittlichkeitsverbrechen werden keineswegs vorwiegend von Zuhältern begangen. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt, daß Sittlichkeitsverbrechen weniger von der Hefe des Volkes, sondern zumeist von den besitzenden und gebildeten Klassen begangen werden. Ich erinnere an den in diesem Saale geführten Prozeß Sternberg. Herr Sternberg gehörte zu der Elite der Gesellschaft, er war ein vielfacher Millionär, ein gebildeter Mann, er hat aber trotzdem zahlreiche Sittlichkeitsverbrechen gegen kleine Mädchen begangen1. Der Umstand, daß der Angeklagte ein alter Zuhälter ist, kann ihn noch nicht verdächtigen. In diesem Hause finden täglich[68] Prozesse wegen Sittlichkeitsverbrechen gegen Angehörige aller Gesellschaftsstände statt. Sie wissen, daß anfänglich sich der Verdacht mit voller Bestimmtheit auf Lenz gelenkt hat. Der aufgefundene Korb ist nicht ein solches Indizium, um den Angeklagten zu verurteilen. Der Angeklagte hätte wirklich nicht nötig gehabt, von einem Mädchen zu erzählen, er konnte ja sagen: das Mädchen, das mit dem »Mulatten-Albert« in der Liebetruthschen Wohnung war, hat mir den Korb gestohlen. Diese Artistin ist bis heute noch nicht gefunden worden. Ist es nicht möglich, daß das Mädchen, dem der Angeklagte den Korb geschenkt, einen Freier gefunden hat, der mit dem Mädchen in eine Weinstube gegangen ist und es aufgefordert hat, den Korb ins Wasser zu werfen. Es ist außerdem zu berücksichtigen, daß solche Körbe allein bei Wertheim in der Rosentaler Straße jährlich gegen 4000 verkauft werden.

Der Obermeister der Berliner Korbmacherinnung sagte: es kommen gerade bei Körben vielfach Verwechselungen vor. Eine Dame, die einen Korb zur Reparatur übergeben hat, bezeichnet bei der Abholung oftmals einen anderen Korb als den ihrigen. Der Verteidiger ging darauf des näheren auf die einzelnen Zeugenaussagen ein und fuhr alsdann fort: Ein so mangelhaftes, schlechtes Zeugenmaterial ist mir in meiner langjährigen Verteidigertätigkeit noch nicht vorgekommen. Ich erinnere nur an die widersprechenden Angaben des Fräulein Römer, an den Droschkenkutscher Krüger und an die Aussagen der Kinder. Die Liebetruth sagte: Ich war von der Unschuld Bergers überzeugt. Als ich aber den Artikel in den Zeitungen las, da wurde ich stutzig. Die Presse hat ja bisweilen sehr heilsam gewirkt, sie hat aber auch schon bisweilen zur Verwirrung beigetragen. Es ist doch klar, wenn die Liebetruth geschrien hätte: Der Korb ist verschwunden, du hast einen ähnlichen Mord begangen wie der von Radatus, dann wäre Berger sofort verhaftet worden. Das wollte Berger vermeiden, deshalb tat er alles, um die Liebetruth zum Schweigen zu bringen. Die Heiratsgeschichte war im übrigen nicht neu. Über die sittliche Qualität des Angeklagten will ich nicht sprechen. Der Angeklagte ist sicherlich kein Mensch, der[69] verdiente, in den Adelsstand erhoben zu werden. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Aber das muß ich sagen Nachdem die Liebetruth 17 volle Jahre lang, also von Kindesbeinen an, mit dem Angeklagten Leid und Freude geteilt hat, da hätte man erwarten sollen, daß sie weniger gehässig gegen ihn aufgetreten wäre, und daß sie nicht täglich mit ihrem jetzigen Zuhälter an Gerichtsstelle erschienen wäre, der sie und andere gegen den Angeklagten aufhetzte. Ich will davon absehen, daß die Liebetruth eine Prostituierte ist. Aber wenn ich die Liebetruth als bloße Zeugin betrachte, dann kann ich sie für glaubwürdig in keiner Weise halten, denn ein Zeuge ist nur dann glaubwürdig, wenn er Charakter hat. Ich will den hier vernommenen Polizeibeamten nicht zu nahe treten, aber ihrem gerichtlichen Zeugnis darf man nicht allzu großes ßes Gewicht beilegen. Die Strafprozeßordnung verbietet, polizeiliche Protokolle zu verlesen.

Die Polizeibeamten werden daher als Zeugen vernommen. Wenn man aber erwägt, daß die Polizeibeamten Gehilfen der Staatsanwaltschaft sind, so liegt es doch nahe, daß ihr Zeugnis getrübt ist. Der Verteidiger bemängelte ferner die Sachverständigen-Gutachten. Es sei nicht ausgeschlossen, daß nach 5-6 Jahren die Uhlenhut-Wassermannsche Methode, die jetzt soviel Aufsehen errege, sich als falsch erweisen werde. Es sei auch vom Staatsanwalt außer acht gelassen worden, daß der Angeklagte keinerlei Neigung zu kleinen Kindern gehabt habe. Endlich sei doch aber zu berücksichtigen, daß, obwohl der Angeklagte den Leichnam zerstückelt haben soll, keinerlei Blutspuren weder an seinen Kleidern noch in der Wohnung gefunden wurden. Auch sei kein Messer gefunden worden, das Blutspuren aufgewiesen habe. Der Verteidiger schloß: »Ich warne Sie, meine Herren Geschworenen, den Angeklagten deshalb zu verurteilen, weil der Schein gegen ihn spricht, weil er angeblich ein Mann ist, dem man die Tat zutrauen kann. Ihre Aufgabe ist es, lediglich zu prüfen: Ist die Tat dem Angeklagten nachgewiesen worden? Das können Sie aber nicht annehmen. Ich erinnere Sie daran, daß es sich um Tod und Leben handelt. Wenn ein Mensch hingerichtet ist, dann gibt es keine Remedur mehr. Vor Justizmorden muß man[70] sich aber um so mehr hüten, da diese das Vertrauen in unsere Rechtsprechung erschüttern. Ich erinnere nur an den Fall Ziethen. Jedenfalls ersuche ich, den alten juristischen Grundsatz zu beherzigen, der an der Wand jedes Gerichtssaales stehen sollte: ?In dubio pro reo?. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie den Angeklagten freisprechen werden.«

Nach noch sehr langer Rede und Gegenrede zwischen Staatsanwalt und Verteidiger sagte der Angeklagte, der den Plädoyers mit größter Ruhe und Aufmerksamkeit gefolgt war, auf Befragen des Vorsitzenden, ob er noch etwas anzuführen habe: »Meine Herren Geschworenen! Ich bin es nicht gewesen, ich bin vollständig unschuldig. Ich bin ebenso unschuldig wie Christus, als er vor den Pharisäern stand und Pilatus sagte: An diesem Manne ist keine Schuld. Gott ist mein Zeuge, daß ich unschuldig bin.«

Nach mehrstündiger Beratung sprachen die Geschworenen den Angeklagten schuldig des Totschlags und des Sittlichkeitsverbrechens unter Versagung mildernder Umstände. Darauf verurteilte der Gerichtshof den Angeklagten zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Stellung unter Polizeiaufsicht.[71]

1

Vgl. die ausführliche Schilderung dieses Prozesses in Bd. 2.

Quelle:
Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911-1921, Band 4.
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