Die Reaktion und die politischen Parteien.

[15] Endlich ein letztes Motiv, das mich in die Sozialdemokratie hineingetrieben: die innere politische Situation. Sie wird mit einem einzigen Worte erschöpfend charakterisirt: Reaktion. Wie ein verderbenschwangeres Gewitter liegt diese über unserem Vaterland. Und uch wer diese bekämpfen will, kann es mit Erfolg heute nur noch als Sozialdemokrat thun.

Ich muß und kann mich bei der Beweisführung über diesen Punkt kurz genug fassen. Jeder, der Augen hat zu sehen, sieht allenthalben dies Gespenst der Reaktion. Denken wir an das letzte Jahrzehnt des politischen Lebens, das noch in treuester Erinnerung hinter uns liegt: als es begann, im Jahre 1890, war noch das Sozialistengesetz in Kraft; als es schloß, im vergangenen Jahre, rang man mühsam ein andere Ausnahmegesetz, die Zuchthausvorlage, zu Boden. Und dazwischen – welche Kette reaktionärer Anschläge, reaktionärer Siege! Nur einige Glieder dieser Kette seien wenigstens stichwortartig genannt: die Umsturzvorlage aus 1895, die preußische Vereinsgesetznovelle von 1897, die Ersetzung des allgemeinen Wahlrechts durch das Dreiklassenwahlrecht in Sachsen, die Angriffe auf die Arbeiter-Konsumvereine; und aus der allerletzten Zeit: Löbtau und Magdeburg, die systematische Unterdrückung aller sozialistischen Versammlungen in Mecklenburg und Sachsen-Weimar-Eisenach, Fleischbeschaugesetz und lex Heinze, die Maßregelung des Privatdozenten Arons und die Verhinderung eines Portalbaues für den Friedhof der Märzgefallenen durch die Stadt Berlin, der Plan eines drakonischen Strafgesetzes zur Unterdrückung jeglicher Koalitionsneigungen der Landarbeiter in Preußen und Anhalt, die preußische Waarenhaussteuervorlage und die Einführung wichtiger Bestimmungen aus der Zuchthausvorlage in Lübeck auf dem Wege einer einfachen [15] Polizeiverfügung des dortigen Senats – eine Wolke der Reaktion wälzt sich über unser Vaterland herauf. Und die Wolkenschieber sind die Konservativen, vor allem die ostelbischen Agrarier. Hinter dieser Wolke gedeckt heimsen sie Vortheil um Vortheil, gewinnen sie, die in den 70er Jahren schon politisch erdrückt schienen, von Neuem Macht um Macht.

Und Niemand ist außer der Sozialdemokratie, der ihnen und ihren Verbündeten prinzipiell, unbedingt, zäh' und erfolgreich Widerstand entgegen setzte. Der bürgerliche Liberalismus nicht – er ist längst dem Greisenthum verfallen, in vier schwache Gruppen zersplittert, die sich heftiger befehden als den gemeinsamen Feind; ja er paktirt schon selbst, wo immer es ihm nützt und seine stechen Kräfte zu stärken scheint, mit diesem Agrarierthum. Und auch das Zentrum widersteht nicht mehr. Nachdem es im Vorjahre noch einmal die Zuchthausvorlage verscharren geholfen hat, ist es seitdem in unaufhaltsamem Marsche nach Rechts, den ausgebreiteten Armen der Reaktion entgegen. Denn seitdem hat es, von seiner Haltung in der Marineangelegenheit einmal noch ganz abgesehen, drei der reaktionärsten Eisen ins politische Feuer mit legen helfen und wacker daran geschmiedet: das Fleischbeschaugesetz, die lex Heinze und die preußische Gemeindewahlreformvorlage. Ueber ein Kleines – und die protestantischen Konservativen, die katholischen Zentrumsleute und der größte Teil der bürgerlichen Liberalen, sie werden die eine reaktionäre Masse sein, von der die Sozialdemokratie immer schon prophetisch geredet.

Und nur diese, die Sozialdemokratie, gefolgt von den kleinen Schaaren aufrecht und wahrhaft freisinnig gebliebener bürgerlicher Männer, wird dann den Kampf gegen die Reaktion kämpfen, wie sie ihn bisher schon unentwegt gekämpft hat. Damit sie ihn in Zukunft schließlich auch siegreich durchficht, dazu braucht sie jeden Mann und jeden Groschen, dazu kann sie auch mich gebrauchen, da ich, wie jeder Sozialdemokrat, die Freiheit liebe und die Gebundenheit hasse, den Fortschritt fordere und allen Rückschritt verachte. Und so drängt nicht nur mein Christenthum, nicht nur mein Patriotismus, auch nicht nur die imponirende, stetig wachsende Macht des Sozialismus, so drängt mich auch mein Freiheitssinn in die Reihen der sozialdemokratischen Partei hin.

Von nun an gehöre ich ihr unlöslich an, von nun an marschiere ich bei ihr in Reihe und Glied. Und wahrlich: es soll nicht das letzte Glied, es soll die vorderste Reihe sein, in der man mich künftig finden mag.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 15-17.
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