§. [159] 119.

So gewiß jede Pflanzenart in ihrer äußern Gestalt, in der eignen Weise ihres Lebens und Wuchses, in[159] ihrem Geschmacke und Geruche von jeder andern Pflanzen-Art und Gattung, so gewiß jedes Mineral und jedes Salz in seinen äußern sowohl, als innern physischen und chemischen Eigenschaften (welche allein schon alle Verwechselung hätten verhüten sollen) von dem andern verschieden ist, so gewiß sind sie alle unter sich in ihren krankmachenden – also auch heilenden – Wirkungen verschieden und von einander abweichend99. Jede dieser Substanzen wirkt auf eine eigne, verschiedene, doch bestimmte Weise, die alle Verwechselung verbietet, und erzeugt Abänderungen des Gesundheitszustandes und des Befindens der Menschen100.[160]


99

Wer die so sonderbar verschiednen Wirkungen jeder einzelnen Substanz von den Wirkungen jeder andern, auf das menschliche Befinden, genau kennt und zu würdigen versteht, der sieht auch leicht ein, daß es unter ihnen, in arzneilicher Hinsicht, durchaus keine gleichbedeutenden Mittel, keine Surrogate geben kann. Bloß wer die verschiedenen Arzneien nach ihren reinen, positiven Wirkungen nicht kennt, kann so thöricht sein, uns weiß machen zu wollen, eins könne statt des andern dienen und eben so gut, als jenes, in gleicher Krankheit helfen. So verwechseln unverständige Kinder die wesentlich verschiedensten Dinge, weil sie sie kaum dem Aeußern nach, und am wenigsten nach ihrem Werthe, ihrer wahren Bedeutung und ihren innern, höchst abweichenden Eigenschaften kennen.

100

Ist dieß reine Wahrheit, wie sie es ist, so kann fortan kein Arzt, der nicht für verstandlos angesehen sein, und der sein gutes Gewissen, das einzige Zeugniß ächter Menschenwürde, nicht verletzen will, unmöglich eine andre Arzneisubstanz zur Cur der Krankheiten anwenden als solche, die er genau und vollständig in ihrer wahren Bedeutung kennt, d.i., deren virtuelle Wirkung auf das Befinden gesunder Menschen er genugsam erprobt hat, um genau zu wissen, sie sei vermögend, einen, dem zu heilenden, sehr ähnlichen Krankheitszustand, einen ähnlichern, als jede andere, ihm bekannt gewordene Arznei, selbst zu erzeugen – da, wie oben gezeigt worden, weder der Mensch, noch die große Natur vollkommen, schnell und dauerhaft anders als mit einem homöopathischen Mittel heilen kann. Kein ächter Arzt kann sich fortan von solchen Versuchen, vorzüglich an sich selbst, ausschließen, um diese Kenntniß der Arzneien, die am nothwendigsten zum Heilbehufe gehört, zu erlangen, diese von den Aerzten aller Jahrhunderte bisher so schnöde versäumte Kenntniß. Alle vergangenen Jahrhunderte – die Nachwelt wird es kaum glauben – begnügten sich bisher, die in ihrer Bedeutung unbekannten und in, Absicht ihrer höchst wichtigen, höchst abweichenden, reinen, dynamischen Wirkung auf Menschenbefinden nie geprüften Arzneien so blindhin in Krankheiten, und zwar meist mehrere dieser unbekannten, so sehr verschiedenen Kräfte in Recepte zusammengemischt zu verordnen und dem Zufalle zu überlassen, wie es dem Kranken danach ergehen möge. So dringt ein Wahnsinniger in die Werkstatt eines Künstlers, und ergreift Hände voll, ihm unbekannter, höchst verschiedener Werkzeuge, um die dastehenden Kunstwerke, wie er wähnt, zu bearbeiten; daß sie von seiner unsinnigen Arbeit verderbt, wohl gar unwiederbringlich verderbt werden, brauche ich nicht weiter zu erinnern.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 159-161.
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