II. In der orientalischen Akademie 1789–1799.

[22] Das Resultat des absolvierten Präparandenkurses war die Aufnahme als Zögling in die orientalische Akademie. Meine Freude war unermeßlich, minder wegen des glücklichen Erfolges des Schuljahres, als wegen der Wiederkehr ins väterliche Haus für die sechs Wochen der Ferien. Es war das letztemal für neun Jahre, daß ich das väterliche Haus, meine Brüder und Schwestern wiedergesehen, denn damals war es noch nicht wie jetzt den Zöglingen erlaubt, in den Ferien ihre Eltern zu besuchen oder andere Lustreisen zu unternehmen. Die drei bis vier Wochen der Ferien der orientalischen Akademisten wurden in Weidling zugebracht, in einem der schönsten Täler der Umgebung Wiens.

Desto strenger war das Schuljahr geregelt. Um sechs Uhr ward aufgestanden und sogleich im Studiersaale das Morgengebet gemeinschaftlich verrichtet. Nach diesem hergeplapperten Gebete ward sogleich in die Messe zu den Dominikanern auf den Chor gegangen. Die Stunde von sieben bis acht war zur Vorbereitung zu den um acht beginnenden Lehrstunden bestimmt. Von acht bis neun war der philosophische oder juridische Vortrag, von neun bis zehn Zeichenstunde, namentlich Situationszeichnen und Zivil- und Militärarchitektur. Von zehn bis elf orientalische Lehrstunde, von elf bis zwölf französische, von zwölf bis eins dreimal die Woche Schreibstunde, die anderen dreimal der Tanzmeister und für Erwachsene die Reitschule. Um eins das Mittagmahl, fünf Speisen zu Mittag und drei des Abends, davon freilich nicht alle eßbar. Die Stunde von zwei bis drei war frei und konnte zu musikalischem Unterricht[22] verwendet werden. Von drei bis vier Lehrstunde der Philosophie, nämlich Mathematik, Logik, Physik, oder des juridischen Kurses, von vier bis fünf Geographie oder Geschichte, von fünf bis sechs orientalische Sprachen, von sechs bis sieben Privatstunde des Orientalischen, von sieben bis acht Wiederholung der Geographie und Geschichte, von acht bis neun Erholungsstunde, um neun das Nachtmahl, dann der Rosenkranz und das Nachtgebet.

Mein Beichtvater war der helldenkende Franziskanerpater Mecerlaien, ein echter Weiser unter der Kutte, ein philosophischer Kopf, welcher Kant predigte, ein liebevoller Freund der Jugend, den ich bis zu seinem spät in meinem männlichen Alter erfolgten Tode eifrig verehrte. Ihm und Bruck als meinen geistlichen Freunden und Beratern im Beichtstuhle und außer demselben stand mein geistlicher vorgesetzter Direktor Hoeck als der typische Bigotte in schneidendem Kontrast gegenüber. Der Präfekt, welcher unter dem Direktor die Sittlichkeit überwachte und zugleich Lehrer der Mathematik und des Italienischen, das er als geborener Görzer besser aussprach als Hoeck das Türkische, war der Abbé Buja, ein Schützling des Grafen Cobenzl und sowohl hierdurch, als weil er an Geist und Fähigkeiten dem Direktor weit überlegen, ein Gegenstand der Eifersucht Hoecks.

Wenn der Direktor Hoeck als Lehrer der Anfangsgründe des Türkischen, Arabischen und Persischen kein Wort gehörig auszusprechen vermochte, so war der Professor dieser drei Sprachen, dessen Unterricht den Zöglingen erst in den letzten Jahren des auf fünf beschränkten Lehrkurses zugute kam, der geborene Perote Chabert, um so mehr der reinsten Aussprache des Türkischen und Persischen wie des Französischen und Italienischen Meister.

Die Erstürmung der Bastille fiel in das erste Jahr des orientalischen Kursus des eben mannbar gewordenen Jünglings; dieses Eintreten der folgenschwersten Exzesse der neueren Geschichte in mein fünfzehntes Jahr war für mein ganzes Leben durch den Einfluß auf meine geistige Entwicklung und die Richtung meiner politischen Denkweise entscheidend.[23]

Näher als die französische Revolution lag den Wienern und besonders den nach der Türkei bestimmten Zöglingen der orientalischen Akademie der nach dem schmachvollen Rückzuge im Banat endlich auf den Flügeln des Sieges und der Eroberung wieder zur militärischen Ehre Österreichs unter dem Feldherrntalent Laudons sich erhebende Feldzug wider die Türken. Den Jubel, mit welchem die Eroberung Belgrads die Kaiserstadt überflutete, konnten wir in derselben nicht teilen, da wir schon in Weidling waren; aber gerade am ersten Tag desselben führte uns der Direktor selbst nach dem Cobenzlberg, wie damals der in dem Besitze des Grafen Philipp Cobenzl befindliche Reisenberg genannt wurde, um dem Vizestaatskanzler, dem besonderen Gönner und Schützer der Akademie, auf seinem Landsitze aufzuwarten. Er empfing uns mit demselben Interesse und reinem Anteile an unseren Ferien, den er während des Schuljahres unseren halbjährigen Prüfungen, denen er immer beiwohnte, betätigte. Die im folgenden Jahre über die Türken bei Fokschan und Martinischtje erfochtenen Siege nahmen die Teilnahme der orientalischen Akademiker weit mehr in Anspruch als andere wichtige Begebenheiten des In- und Auslandes, als der Fortgang der französischen Revolution, der Tod Kaiser Josefs und die Unruhen, welche, für das Heil der Monarchie bedenklich, in Ungarn auszubrechen drohten und in den Niederlanden bereits ausgebrochen waren.

Im ersten Jahre mußte ich die sogenannte Philosophie, das ist ein lateinisches Kompendium der Logik, Ontologie, Kosmologie und natürlichen Theologie, Wort für Wort auswendig lernen, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen. Im nächsten Jahre (1790) sollte ich der eingeführten Schulordnung nach Physik hören, allein da drei Jahre hintereinander Zöglinge aufgenommen wurden, so würden sich die orientalischen Lehrstunden gekreuzt haben, und es ward von mir bestimmt, daß meinem Kameraden Meiller und mir, ehe wir in die Physik aufsteigen, noch ein Jahr Mathematik von Abbé Buja gelehrt werden sollte. So war von Logik und Metaphysik keine Rede mehr, sondern nur von Mathematik, Geographie und Geschichte. Meine Prüfungen bestand ich in den beiden Jahren gut und bereitete mich auf sie besonders[24] durch schriftliche Übersetzungen vor, welche ›ex diligentia‹ hießen.

Der Zahnarzt der Akademie war der Hofzahnarzt Dr. Laveran, ein freimütiger Auvergnate, dessen Hilfe ich sehr früh und oft bedurfte. Er und seine erste Gattin, die viel älter war als er, hatten mich liebgewonnen und eröffneten mir mit Gastfreundlichkeit ihr Haus, so daß ich an Sonntagen manchmal bei ihnen, manchmal bei meinem vorigen Kostherrn, dem Hausinspektor von St. Anna, und manchmal bei der Schwester des Direktors, der Frau des Kaufmannes Teimer, zu Mittag aß.

Das Jahr 1790 war durch die außerordentlichen Begebenheiten des durch den Mangel aller herzlichen Volkstrauer bis zur Unanständigkeit fröhlichen Leichenbegängnisses Kaiser Josefs und durch die Volksfeste zur Huldigung Kaiser Leopolds ausgezeichnet, bei welchen noch auf dem Graben Würste und große Laibel ausgeworfen wurden und neben den Fontänen roter und weißer Wein floß.

Im folgenden Jahre reisten nach Abschluß des Sistowaer Friedens die vier ältesten Zöglinge nach Konstantinopel unter dem Titel ›Sprachknaben‹, welcher jetzt in den richtigen von ›Dolmetschgehilfen‹ verwandelt ist. Diese waren: Brenner, heute als Freiherr von Felsach Hofrat und ordentlicher Referent bei der Staatskanzlei; der Sohn des Grenzdolmetschen Klezl, welcher unter Aufsicht des Hofrates Jenisch und mit Beihilfe des Professors Chabert und der älteren Zöglinge der Akademie die Arbeit der neuen Ausgabe des Meninskschen Wörterbuches leitete und als Dolmetsch zu Konstantinopel starb; Fleischhackl, hernach mit dem Prädikate von Hackenau geadelt und als Agent in der Walachei mit dem Leopoldsorden pensioniert; Stöckl, der als Direktor des Paßwesens in der Internuntiatur zu Konstantinopel starb.

Ein für die türkischen Sprachübungen der jüngeren Zöglinge höchst günstiges Jahr war das folgende (1792), wo infolge des zu Susak geschlossenen Friedens die außerordentliche türkische Gesandtschaft, die aus mehr als hundert Köpfen bestand, nach Wien kam und die Zöglinge bei allen Gelegenheiten zur Aushilfe im Dolmetschdienste herangezogen[25] wurden. Das erstemal bei der Audienz, welche der Gesandte Ebu Bekr Kahib beim Staatskanzler, dem Fürsten Kaunitz, hatte. Es war das erste und einzige Mal, daß ich diesen Veteranen der österreichischen Diplomatie, in aller durch seine bekannte Förmlichkeit zur höchsten Potenz gesteigerten Würde seines hohen Amtes und hohen Alters im Lehnstuhl sitzend, von den Staatsreferendaren und den Hofräten der Staatskanzlei umgeben, in einem von den ausgezeichnetsten Personen des diplomatischen Korps und den zur Audienz zugelassenen Ausgewählten des türkischen Gesandtschaftsgefolges vollgedrängten Saale anstaunte. Unter den Zuschauern erblickte ich zum erstenmal den um die nähere Kenntnis des Osmanischen Reiches so hochverdienten Armenier, den schwedischen Ritter Mouradgea d'Ohsson, in seiner orientalischen Kleidung, aber mit europäisch frisiertem Kopf und Zopf. Sein Anblick und der des Fürsten Kaunitz beschäftigte mich weit mehr als der des Türken des Gefolges, dem ich zur Begleitung beigegeben war.

Eine desto feierlichere Veranlassung war der Tag der kaiserlichen Audienz, an welchem die ganze Gesandtschaft, die unterste Dienerschaft ausgenommen, an einer großen Tafel, deren Länge den ganzen kleinen Redoutensaal füllte, vom Hofe bewirtet ward. Statt der Weine stand Limonade und Mandelmilch auf der Tafel.

Eines der glänzendsten Ereignisse, welches die orientalische Akademie während der Anwesenheit der türkischen Gesandtschaft erlebte, war der mit einer großen Anzahl physikalischer Versuche gefeierte Besuch derselben. Die Vorbereitung und Erklärung der Experimente traf mich. Das Haupt- und Glanzexperiment war die gleichzeitige Explosion von 24 an der Wand aufgestellten elektrischen Pistolen, welche untereinander und mit der aus 24 Flaschen bestehenden Batterie durch Messingdrähte verbunden waren. Der Gesandte belobte mich am Schlusse auf das schmeichelhafteste und schloß mit den Worten: ›Du wirst ein großer Mann werden‹ – eine leider nicht in Erfüllung gegangene Vorhersagung. Ebu Bekr Kahib war ein Mann von großem politischen Talent und großem Ehrgeiz; er erwartete, bei[26] seiner Rückkehr zum Reis-Efendi befördert zu werden. Er wurde auch wirklich dazu ernannt, aber schon nach einigen Monaten durch seine Feinde, an deren Spitze der durch seine Gemahlin, die Sultana, einflußreiche Kapudan-Pascha Kutschuk Hussein stand, gestürzt und nach Rhodos verbannt. Seiner Beschützerin, der damals allmächtigen Sultanin Valide, gelang es, von ihrem Sohne, dem Sultan Selim, die Zurückberufung ihres Schützlings und seine Erhebung zum ersten Posten des Reiches, zum Großvezier, zu erwirken. Der Überbringer des sultanischen Siegels war bereits nach Rhodos eingeschifft, als des Kapudan-Paschas Einfluß die Ernennung zum Großvezier in einen Hinrichtungsbefehl verwandelte und den Beauftragten mittels eines Schnellseglers dem Überbringer des Siegels nachsandte. Unglücklicherweise kam jener einige Stunden früher an als dieser, und als der Kommissär der Verleihung der Großvezierschaft landete, war der Ernannte eine Leiche.

Ein paar Tage später war ich in der Hofbibliothek, wo ich auf das vom ersten Kustos Denis an den Direktor der orientalischen Akademie gestellte Ersuchen ein Titelverzeichnis der orientalischen Handschriften verfertigte. In dem inneren Gemach stand den beiden Fenstern gegenüber ein langer, mit der Wand parallel laufender Tisch; am unteren Ende des Tisches arbeitete ich. Als ich mich diesmal niedersetzte, sah ich am anderen Ende des Tisches einen ältlichen, durch hohen, gepuderten Haarschmuck ausgezeichneten Herrn, der aus einem Buche Auszüge machte. Ich erkundigte mich bei einem Bibliotheksdiener und erfuhr, es sei der Prince de Ligne. Die Freude, einen so ausgezeichneten großen Herrn und schönen Geist zu sehen, begeisterte mich zu französischen Versen, die ich niederschrieb, einem in glattes Leder gebundenen orientalischen Buche einverleibte und das Buch vom untersten zum obersten Ende des wohlgebohnten Tisches durch einen geschickten Stoß hinaufsandte. Der Prince de Ligne blickte auf, als ihm die Sendung an die Hand flog, las die Verse, schrieb auf ein anderes Blatt die Antwort und sandte das Buch an den Sender zurück. Nachdem ich die Verse gelesen, ging ich zu ihm hin und machte nun auch die mündliche Bekanntschaft des[27] genialen und liebenswürdigen Fürsten. Zehn Jahre hernach, als ich aus England zurückkam, erneuerte ich sie und genoß seine geistreichen, stets Funken des Witzes sprühenden Gespräche bis zu seinem Tode, an seiner Tafel, in seinem Abendkreise oder im Salon der Gräfin Rzewuska. (Beil. 1.)

Ich war im folgenden Jahre mit der mir anvertrauten Klassifizierung und Ordnung der zahlreichen und schätzbaren Sammlung der sogenannten Diwan-Briefe, das sind türkische Briefe, Fermane, Urkunden und Staatsschriften, beschäftigt, welche aus den durch den Frieden wieder eröffneten Quellen des Verkehrs mit der Türkei durch des Direktors beständige Fürsorge von allen Seiten reichlich zuströmten. Dieselben wurden, so oft eine hinlängliche Menge vorhanden war, von den Zöglingen auf Pappendeckel mit Mehlpapp aufgekleistert, getrocknet und dann nach dem von mir aufgestellten Einteilungssystem in die hierzu bestimmten Kisten eingeordnet.

Den Platz meines als Sprachknaben angestellten Vordermannes Brunebarbe erhielt mein Bruder Alois; er hatte, wie ich beim Hausinspektor von St. Anna in Kost, die Präparandenschule durchgemacht und blieb, zu Ende des Kurses aufgenommen, vier Jahre in der Akademie. Bei Gelegenheit des Aufgebotes von 1797 trat er aus und ergriff wie der zwischen uns geborene Bruder Johann die militärische Laufbahn.

Der ausgezeichnetste meiner Jugendfreunde, dessen Bekanntschaft ich durch Chabert gemacht, war der höchst unterrichtete, witzige, dabei aber auch lebenskluge und schwermütige Freiherr Josef von Krufft, damals schon Landrat, der seine Laufbahn, zu früh für seine Freunde und den Staat, als Appellationsrat zu Klagenfurt beendet hat.

Mit dem Jahre 1794 hatte ich den akademischen Kurs vollendet. Da derselbe in der Regel nur auf vier Jahre berechnet ist, war die Zeit des meinen ohnedies durch das willkürlich eingeschaltete Jahr mathematischer Studien verlängert worden. Aber auch jetzt, da ich der Ordnung nach mit der gewöhnlichen Anstellung als Sprachknabe hätte austreten sollen, ward dieser Austritt hinausgezogen, weil gerade an der Internuntiatur kein Platz leer war und der[28] fortwährende Krieg außerordentliche Sparsamkeit in allen Anstellungen forderte. So geschah es, daß ich noch zwei Jahre in der Akademie verziehen mußte, bis ich als Sprachknabe nach Konstantinopel kam.

Auf diese Weise habe ich statt fünf Jahre zehn in der Akademie zugebracht, ein Fall, der weder vor mir noch nach mir stattgefunden und oft meinen Nachfolgern, welche nach absolvierten fünf Jahren dringend um Austritt und Anstellung baten, als erbauliches und tröstliches Beispiel vor Augen gehalten worden ist. In der Tat war durch diesen verlängerten Aufenthalt außer den paar Dienstjahren nichts für mich verloren, indem ich die von obligaten Lehrstunden freien Jahre auf das eifrigste zu freiwilligen Studien und zu meiner weiteren Ausbildung für den Dienst in der Levante benützen konnte.

Um mir auch von Seite der Direktion und Staatskanzlei geregelte Beschäftigung vorzuschreiben, trug mir Stürmer auf, aus dem großen bibliographischen und enzyklopädischen Wörterbuche Hadschi Chalfas, dessen Ankauf die Hofbibliothek soeben eingeleitet hatte, die enzyklopädischen Artikel der Wissenschaften, von denen er selbst mehrere aus einem Exemplar Mouradgea d'Ohssons ausgezogen, abzuschreiben und zu übersetzen. So ward die Grundlage zu meinem ersten wissenschaftlichen Werke, der ›Übersicht der Wissenschaften des Orients‹, gelegt, welches erst neun Jahre später, und dennoch so unvollständig, ans Licht trat.

Von da an datierten meine eigentlichen Studien arabischer, persischer und türkischer Literatur, deren weites Feld mir Hadschi Chalfas Wörterbuch eröffnete.

In den letzten Monaten dieses oder in den ersten des folgenden Jahres sollte mir die Bekanntschaft und zugleich die innigste Freundschaft des Mannes werden, der am meisten auf meine wissenschaftliche Ausbildung Einfluß genommen und meine besten Kräfte der Literatur zugeführt hat: Johannes von Müllers. Er arbeitete damals in der Staatskanzlei an der Seite von Jenisch und Stürmer, jedoch vom damaligen Minister der auswärtigen Geschäfte, dem Freiherrn von Thugut, so wenig politisch beschäftigt, daß er auf der Kanzlei die Byzantiner las und auszog.[29]

Mein erster Empfang durch Müller in der Staatskanzlei, wo mich ihm Stürmer aufführte, war anständig und feierlich, wenn auch das unbehilfliche Äußere der kleinen, dicken Figur und der stark schweizerische Dialekt, womit Müller Deutsch sprach, mir nicht zu der Idee, die ich mir vom Äußeren des großen Geschichtsschreibers gemacht, passen wollten. Er war damals mit der Vollendung seiner 24 Bücher allgemeiner Geschichte beschäftigt und erbat sich von Jenisch und Stürmer die Erlaubnis, daß ich dreimal in der Woche ein paar Nachmittagsstunden in seiner Wohnung mit ihm zubringen dürfe, um mit ihm die Abschrift zu kollationieren. Dies wurde unbedenklich erlaubt, denn damals hatte man noch nicht den geringsten Verdacht von Müllers griechischer Liebhaberei, deren Übermaß ihn sieben Jahre später Wien zu verlassen zwang. Mir war schon beim ersten Besuche die wiederholte Umarmung auffallend und unangenehm. Gar bald konnte ich an der widerlichsten Zärtlichkeit von Müllers wiederholten Umarmungen nicht zweifeln; ich brach schnell das Eis durch meine ganz unumwundene Erklärung meines ganz antigriechischen Geschmackes und verbat mir, wenn ich meine Besuche wiederholen und meine Bewunderung und Dankbarkeit für das mir geschenkte literarische Zutrauen sich nicht mindern sollte, alle weiteren Annäherungen. Er gab das Versprechen, hielt es aber erst dann unverbrüchlich, nachdem ich die sich unanständig verirrende Hand des Meisters mit tüchtigen Schlägen eines eisernen Lineals abgewehrt hatte.

Von dem Augenblicke an blieben wir die besten Freunde fürs Leben. Ich machte ihn zum Vertrauten aller meiner bisherigen platonischen Liebesgeschichten und ließ mir sogar Übertreibungen des Punktes, zu welchem sie gediehen waren, zuschulden kommen, bloß um meinen Freund recht lebhaft zu überzeugen, wie vergeblich alle Mühe wäre, mich zu seinem Geschmack, den er mir als den klassischen anpries, zu bekehren.

Müller hatte schon im Mai dieses Jahres an Wieland geschrieben und ihm meine Übersetzung eines türkischen Gedichtes ›Von den letzten Dingen‹ zur Aufnahme in den ›Deutschen Merkur‹ auf das wärmste und erfolgreichste[30] empfohlen. Auf diese Art ward ich auf Müllers Empfehlung durch Wieland und Böttiger, der schon damals größtenteils den ›Merkur‹ redigierte, in die Arena der Öffentlichkeit eingeführt, denn das zum Geburtstage des Kaisers unter dem Titel ›Das Fest des zwölften Februar‹ gedruckte Gedicht, welches ich dem Kaiser in besonderer Audienz überreichte und welches auch zum Verkauf angekündigt ward, ist nicht außer Wien und selbst in diesem kaum bekanntgeworden. Dies ist auch der Fall mit dem gleichzeitig mit dem Gedicht im ›Merkur‹ in Wien gedruckten ›Aufrufe an die Freunde der Literatur‹, einer alcäischen Ode, welche zur Erforschung und Bearbeitung der Schätze morgenländischer Dichtung aufrief. Dieser Aufruf war ein Angebinde zum Namensfeste meines Chefs und Gönners, des Hofrates von Jenisch.

Die aufmunternde Note des damals in Wien in allen Journalgesellschaften gelesenen ›Deutschen Merkur‹ machte meinen Namen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Wien zum erstenmal bekannt. Ich danke meinen nacheinander im ›Merkur‹ erscheinenden Erstlingsversuchen von Übersetzungen und Gedichten (wie der Friedensrede auf die Präliminarien von Leoben, der Trauerklage auf den Tod von Sir William Jones usw.) mehrere Bekanntschaften, deren vorzüglichste die des edlen Menschenfreundes, des Grafen Carl Harrach, der, damals im vollen Studium der Medizin begriffen, seine Kenntnisse noch nicht als Hausarzt des Spitals der Elisabethinerinnen, aber schon am Krankenbette hilfsbedürftiger Armer ausübte. Er nahm nicht nur keine Bezahlung, sondern sorgte auch für die Arzneien, Nahrung und Kleider seiner Patienten, er hatte erheiternden Witz und Humor und große Vielseitigkeit im Gebiete der Wissenschaften, regstes Interesse für alle Veränderungen von außen und innen, für alle Neuigkeiten des Tages, seien sie politischer, seien sie literarischer Natur, für alle Ereignisse in Stadt und Land. In seiner Lebensweise ein großer Sonderling, verkehrte er die Nacht zum Tage, mied alle Salons und besuchte kein Haus als das seines Bruders, des Majoratsherrn. Er war der einzige in Wien, welchem mein Aufruf an die Freunde der Literatur Lust zum Studium einer[31] orientalischen Sprache einflößte. Er bat mich, mit ihm einige Abende der Woche Persisch zu studieren, was ich gern tat und wozu ich auch die Erlaubnis der Direktion der Akademie erhielt.

Die freie Zeit verwandte ich auf die wiederholte Lesung von Horaz und deutscher Klassiker. Der Direktor hatte meinem Vorschlag Gehör gegeben, nach Weidling eine kleine Sammlung deutscher Dichter zu stiften. Ich nahm es auf mich, die der ›Wiener Zeitung‹ beiliegenden Bücherankündigungen der Antiquare durchzusehen und die wohlfeilen Ausgaben zu kaufen. Auf diese Weise hatte ich den Bücherschrank des sogenannten Museums in ein paar Jahren mit fast einem Hundert nützlicher Bände gefüllt.

Die meisten Abende verbrachte ich im Hause der Freiin von Krufft, der Mutter meines Freundes, wo öfter Ignaz Sonnleitner die Gesellschaft durch Vorträge höchst witzig unterhielt, der jüngere Sohn, Nikolaus, mit selbstkomponierten Liedern, die er auf dem Fortepiano vortrug, Beifall erntete oder die jüngere Schwester Justine die Früchte ihrer lyrischen Muse vorlas.

Unter den jungen Leuten, die damals im Hause Krufft wohl aufgenommen wurden, befand sich auch mein Hausfreund Fladung. Unsere Freundschaft, die nun schon über ein halbes Jahrhundert alt, datiert aus jener Zeit und aus diesem Hause. Nie habe ich einen Menschen gekannt, der als Kanzleibeamter beim Hofkriegsrat mehr seinen Beruf verfehlt hatte als er, indem er durch seine Leidenschaft, Vorträge zu halten, durch die Klarheit und Deutlichkeit derselben und durch das Positive seines Tones, oft bei gänzlicher Unwissenheit, zum Professor geboren war. Freilich würde er es auch als solcher nicht weiter als in seiner Geschäftsbahn, auf welcher er als Protokollist mit vierzig Jahren pensioniert wurde, gebracht haben, da er fast nichts las und Gehörtes wiederholte. Männer scheute er als Zuhörer, trug immer nur Mädchen vor, für die er seine Physik und Mystik schlecht genug kompilierte.

Die Freundschaft mit Krufft bahnte mir den Weg zu meinem ersten Ausflug nach Triest, Venedig, Tirol und Salzburg, welcher im Jahre 1798 stattfand. Das Jahr vorher,[32] im neunten meines akademischen Lebens, war ich endlich am 5. Juli mit dem Gehalte von sechshundert Gulden und der Bestimmung, den als Hofkommissär nach Dalmatien ernannten Hofrat von Jenisch in der Eigenschaft eines Sekretärs dahin zu begleiten, angestellt worden. Mit dem Jubel eines Kadetten, welcher das erstemal die Offiziersuniform anzieht, bewillkommte ich die rote Uniform mit grünen Aufschlägen und den Degen mit goldener Quaste und flog nach meiner Vaterstadt, die ich seit neun Jahren nicht wiedergesehen, in die Arme meines geliebten Vaters.

Mir waren nur einige Tage des Aufenthaltes im väterlichen Hause vergönnt, denn wiewohl die Abreise des Hofkommissärs nach Dalmatien noch nicht bestimmt war, konnte sie doch täglich bestimmt werden, und ich mußte noch in derselben Woche nach Wien zurückeilen; Hofrat Jenisch gab mir die türkischen Traktate mit Venedig, welche die dalmatinische Grenze regelten, zum Abschreiben und Studieren.

Der Winter verging, ohne daß von der Reise des Hofrates von Jenisch nach Dalmatien weiter die Rede war. Ich mußte also auf eine andere Bestimmung geduldig warten, was mir um so leichter fiel, als meine Besoldung lief und ich in der orientalischen Akademie Wohnung und Tisch frei hatte, ohne weiter an die Disziplin derselben gebunden zu sein.

Bald darauf saß ich mit meinem Freunde, dem Freiherrn von Krufft, welcher mir angetragen, ihn auf seiner Reise nach Steiermark, Venedig, Tirol und Salzburg zu begleiten, im Reisewagen. Die auf dieser Reise geschriebenen und zwei Jahre hernach unter dem Titel ›Zeichnungen‹ bei Sander in Berlin erschienenen einundzwanzig Briefe sind an Freunde und Freundinnen gerichtet.

Ich kam von der Reise mit Ruhr behaftet zurück, die mich seit dem Gardasee begleitet und sehr geschwächt hatte. Sobald ich genesen, begann ich wieder meine Ausflüge in die schöne Umgebung Wiens und namentlich in die Gärten. Die Frucht dieser Wanderungen ist das in dem Buch Sartoris unter dem Titel ›Die Gärten Wiens‹ gedruckte längere Gedicht. Ungeachtet aller mündlichen und schriftlichen[33] Ermahnungen meines Freundes Müller, mich mit ernsten historischen Studien und Auszügen aus Handschriften der Hofbibliothek zu beschäftigen, trieb ich mich nur im Gebiet der Poesie herum. Ich antwortete ihm, daß zur vollständigen Kenntnis eines Volkes und seiner geistigen Entwicklung die seiner Poesie unerläßlich, daß ich vor allem die Dichter des Morgenlandes gründlich kennenlernen wolle und nachher mich den historischen Studien zuwenden würde. Mein Sinn stehe nicht bloß nach Auszügen, ich möchte lieber aus den Quellen ein Ganzes zu Tage fördern, dies aber erfordere Jahre des Sammelns und nähere Kenntnis von Volk und Land durch Selbstansicht.

Im Winter war ich fleißiger Besucher der musikalischen Abende bei Hofrat von Keess, dessen älterer Sohn mein Schulkamerad im Theresianum gewesen, wo sich ein gewählter Kreis musikliebender Männer und Frauen und einiger zwanzig Fräulein zusammenfand. Diesen letzten besang ich in einem für jede mehr oder minder schmeichelhaftem Gedichte, das ich die ›Kaaba der Mädchen‹ betitelte. Es ward nie gedruckt, wohl aber das auf ›Die musikalischen Gesellschaften bei Herrn Hofrat Franz Georg Edlen von Keess‹ in acht Strophen. Dieses wurde in der Gesellschaft verteilt sowie bei der ersten Aufführung von Haydns ›Schöpfung‹ bei Fürst Schwarzenberg meine darauf verfaßten und seitdem im ersten Jahrgang des musikalischen Taschenbuches ›Orpheus‹ aufgenommenen Verse. Mein letztes, unmittelbar vor meiner Abreise nach Konstantinopel, war die Ode in dreißig alkäischen Strophen ›Die Steiermark‹, die während des Ausfluges nach Graz, um meinen Vater vor meiner Abreise noch einmal zu umarmen, gedichtet und der Gräfin Saurau, der Mutter des Grafen Zeno, dessen Gutsverwaltung mein Vater leitete, gewidmet wurde. Ich nahm von meinem Vater unter Tränen Abschied, die um so mehr strömten, als er mir mit dem ausgesprochenen Gedanken, daß er mich nicht mehr sehen werde, das Herz schwer machte.

Die Anstellung nach Konstantinopel hatte in der Hälfte Mai stattgefunden, und am 29. Mai 1799 trat ich meine erste Reise dahin an.

Quelle:
Hammer-Purgstall, Josef von: Erinnerungen aus meinem Leben. 1774–1852. Wien und Leipzig 1940, S. 22-34.
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