Gesamteindruck der Freiheitsberaubung.

[170] Fassen wir nun noch einmal kurz alles zusammen, was die Freiheitsberaubung bei Verhängung der Untersuchungshaft für einen Eindruck auf den Inhaftierten hervorruft, so muß zuerst das moralisch niederdrückende Gefühl berücksichtigt werden, das jeden anständigen Menschen unausbleiblich ergreift, wenn er sich auf einmal aus den Reihen der Ehrbaren ausgestoßen, hinter Schloß und Riegel gesetzt sieht.

Sollte es hier nicht möglich sein, zu individualisieren, nicht jeden irgendwie Verdächtigen gleich einzusperren, der gar nicht daran denkt, sich seiner Vernehmung, vielleicht seiner Rechtfertigung, der Wiederherstellung seiner Ehre durch die Flucht zu entziehen? Aber auch selbst da, wo schwere Verdachtsmomente vorliegen, wo man mit Verschleierung der Tatsachen, mit versuchter Umgehung einer etwaigen Bestrafung rechnen muß, auch dann wird zumeist gerade durch Unterlassen der Inhaftierung bei dem Delinquenten ein Gefühl der Sicherheit erzeugt, was keinen Fluchtgedanken aufkommen läßt.

Die Fälle sind gar nicht selten, daß lange in Haft Befindliche leicht bestraft oder ganz frei gesprochen wurden, während man ihren nicht inhaftierten Komplizen schwere Strafen zudiktierte. Eines Falles erinnere ich mich, wo der Häftling und der[170] auf freiem Fuße befindliche Angeklagte gleiche Strafe erhielten. Letzterer, ein Mann aus den gebildeten Ständen, war wegen geringerer Belastung freigelassen worden. Zur Hauptverhandlung erschien er hoch elegant, augenscheinlich seine Freisprechung erwartend. Aber schon während der Beweisaufnahme verdichteten sich die Belastungsmomente. Das Wetter zog sich mehr und mehr über seinem Haupte zusammen, bis ihn schließlich der Urteilsspruch wie ein Blitzstrahl traf.

In sichtlicher Todesangst bat er den Vorsitzenden des Gerichts, ihn doch erst noch einmal nach Hause gehen zu lassen, da er unbedingt noch etwas Geschäftliches zu ordnen habe. Er müsse seine Frau noch informieren.

Natürlich wurde dieser Bitte nicht stattgegeben.

»Da kann Ihre Frau herkommen.«

Mit diesem kategorischen Bescheid fertigte der Gerichtspräsident den Verurteilten ab, der sicher die Absicht hatte, sich den ihm zuerkannten eineinhalb Jahren Gefängnis durch schnell ins Werk gesetzte Flucht zu entziehen.

Hier war es entschieden gerade die Belassung auf freiem Fuße, die den Mann sicher gemacht hatte. Und solche Fälle kommen häufiger vor, als man denkt.[171]

Der allgemeine Eindruck oft unverdienter Beschämung wird aber noch wesentlich verschärft durch die Behandlung, die dem Untersuchungsgefangenen zwar nicht sowohl im Gericht, als vielmehr im Gefängnis widerfährt.

Die Einkleidung in Sträflingssachen war natürlich das ärgste, die bitterste Demütigung, die den Untersuchungshäftlingen begegnen konnte. Sie bestand ja später nicht mehr, hatte bei den männlichen Gefangenen wohl überhaupt nicht bestanden. Sie ließ sich lediglich auf eine Eigenmächtigkeit der damaligen Oberaufseherin zurückführen. Dennoch gab es auch außerdem noch genug Bitteres und Beschämendes zu ertragen.

Schon die Weglassung jeglichen Prädikats ist, so geringfügig dieser Umstand bei oberflächlicher Betrachtung scheinen mag, für den daran Gewöhnten immerhin eine Erniedrigung. Freilich dürfte sie kaum zu umgehen sein, macht aber auf die Inhaftierten umsomehr den Eindruck, daß sie nicht mehr zu den ehrbaren Menschen gehören. Weiter verstärkt sich dieser Eindruck durch die Einschließung in der engen, kahlen Gefängniszelle, durch die strengen Verordnungen, überhaupt durch alles, was mitunter untrennbar mit der Inhaftierung verbunden, zuweilen aber auch willkürliche Maßnahme einzelner Vorgesetzten ist.

Zu diesem moralischen Einfluß der Untersuchungshaft[172] auf den Gefangenen, der in allen Fällen ein durchaus ungünstiger genannt werden muß, gesellt sich der praktische, die Beschränkung der Bewegungsfreiheit, die Hinderungen der Rechtfertigung und einer geeigneten Klarlegung der tatsächlichen Geschehnisse, sowie der Tatmotive, wie sie mit der Hast meist unabweislich verknüpft sind, was spätere Beispiele noch beweisen werden.

Ziehen wir das Fazit, so wird und muß es jedem einleuchten, der sich dieser Einsicht nicht geflissentlich verschließen will, daß die verhängte Untersuchungshaft einen höchst ungünstigen Eindruck auf Geist und Körper des Häftlings hervorbringt und daß sie im Verhältnis zu den damit verbundenen Kosten von ziemlich geringem Wert für die Untersuchung und in den meisten Fällen vollständig entbehrlich ist.[173]

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 170-174.
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