Vor der Staatsanwaltschaft.

[174] Von meiner ersten Vorführung hatte ich bereits berichtet. Die zweite folgte ihr schon am nächsten Tage, und wenn sie auch bei weitem nicht einen solch geradezu vernichtenden Eindruck auf mich hervorrufen konnte als die erste, weil ich in der Kanzlei der Staatsanwaltschaft, wohin man mich nun führte, mit älteren, erfahreneren Beamten zu tun hatte, so war doch auch diese Vernehmung schmerzlich und niederdrückend genug.

Nachdem man mich über alle Einzelheiten meines »Falles« gründlich verhört hatte, las mir der Beamte nochmals den Haftbefehl vor, der besagte, daß meine Inhaftierung angeordnet worden sei, weil – die übliche juristische Floskel – wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe Fluchtverdacht vorliege.

»Gegen diesen Haftbefehl steht Ihnen das Beschwerderecht[174] zu,« sagte er in der gewohnten eintönigen Weise.

Jetzt kam wieder Leben in mich. Das sollte mir nicht umsonst gesagt worden sein. Die Hoffnung erwachte. Wußte ich doch noch nicht, daß das alles tote Formeln sind, öde Buchstabenregeln ohne inneres Leben, die nur auf dem Papier stehen, damit der Gefangene in dem Glauben gelassen werde, es stehen ihm alle Wege offen.

»Das werde ich dann sogleich tun«, erwiderte ich hoffnungsvoll.

Der Beamte sah mich durch die Brille fast ein wenig mitleidig an.

»Das nützt Ihnen gar nichts,« meinte er. »Wir müssen natürlich Ihre Beschwerde zu Protokoll nehmen,« fügte er etwas unmutig hinzu, als wollte er fragen, warum nur die Leute sich und uns die unnötige Mühe machen.

»Also was haben Sie gegen Ihre Inhaftnahme vorzubringen?« examinierte er, sich einen Bogen zurechtlegend.

Meine Personalien hatte er bereits aufgenommen. Jetzt schrieb er wieder, schrieb alles auf, was ich ihm sagte.

»Weiter nichts?« fragte er, als ich fertig war. »Das wird Ihnen gar nichts helfen,« fügte er hinzu,[175] als ich verneinte, und hieß mich das Schriftstück zu unterschreiben.

Ich war nun trotzdem sehr hoffnungsvoll. Die Behörde selbst gewährte dem Gefangenen das Beschwerderecht. Ich hatte davon Gebrauch gemacht. »Nun werde ich schon freikommen,« meinte ich naiv.

Bald aber sollte ich eines Anderen belehrt werden. Den zweiten Tag darauf geleitete die Aufseherin einen uniformierten Gerichtsdiener an meine Zelle, der ein im Kuvert verschlossenes amtliches Schreiben in der Hand hielt. Diese Art Schriftstücke lernte ich später noch vielfach kennen.

»Sie heißen H.?« fragte der Gerichtsdiener, der Form genügend.

Ich bejahte.

»Hier haben Sie die Antwort auf Ihre Beschwerde,« sagte er, mir das Schreiben überreichend.

Höchst erwartungsvoll entfaltete ich es, war aber nicht wenig erstaunt und enttäuscht, als ich die wenigen Zeilen überflog. Es war eine Ablehnung in schroffster Form. –

»Ich habe es Ihnen ja vorher gesagt, daß die Beschwerde nichts nützen wird,« meinte der Kanzleibeamte trocken, zu dem ich mich alsbald wieder vormeldete. »Da müssen Sie sich zum Herrn Staatsanwalt selbst melden,« setzte er hinzu, als ich bat, die Beschwerde erneuern zu dürfen. »Der kann Sie[176] sofort 'rauslassen, wenn er will. Aber ich glaube es nicht. – Wir können nichts mehr tun.«

»Bitte, wollen Sie mich nicht gleich melden?« drängte ich in meiner noch ungezügelten Ungeduld.

»Das kann ich nicht. Sagen Sie es nur morgen Ihrer Aufseherin. Die weiß schon, was sie zu tun hat. Der Herr Staatsanwalt ist jetzt Ihre vorgesetzte Behörde,« war die Antwort.

Aber meine Geduld sollte auf eine harte Probe gestellt werden. Obschon ich meine Bitte um Vormeldung gleich am nächsten Morgen vorbrachte, mich auch fortwährend erkundigte, ob ich gemeldet sei, so mußte ich doch noch mehrere Tage warten, bis ich endlich vorgeführt wurde.

Wieder ließ ich mich mit erwartungsvollem Herzklopfen hinausführen über Treppen und Gänge bis vor eine Tür, auf der der Name des Staatsanwalts stand, der meine Sache zu führen hatte.

Mein Begleiter öffnete die Tür, nannte meinen Namen und ließ mich eintreten.

Der Staatsanwalt befand sich allein in seinem Bureau. Er saß an seinem Schreibtisch, die Aktenstöße vor sich und schien mein Hiersein wieder vergessen zu haben. Umsonst hüstelte ich, um mich bemerkbar zu machen. Der Vielbeschäftigte sah nicht auf. Endlich wandte er sich um und hieß mich nähertreten.[177] Kaum aber wollte ich mein Anliegen vorbringen, da fuhr er mich barsch an:

»Ich habe Sie holen lassen, um Sie zu verhören, nicht Ihrer Beschwerde wegen. Die verwerfe ich. Sie bleiben hier!« –

Meine bescheidenen Einwendungen auf diese im strengsten Tone gehaltene Abweisung lies der Unbeugsame nicht gelten. Die Vernehmung gestaltete sich bei dem wenig liebenswürdigen Vorgesetzten zur wirklichen Qual. Als sie vorüber war, erlaubte ich mir meine Frage zu wiederholen, wurde jedoch ebenso schroff abgewiesen.

»Nein! Sie bleiben hier!«

»Wie lange kann es denn dauern?« fragte ich eingeschüchtert.

»Das kann sehr lange dauern,« entgegnete der Staatsanwalt mit grausamer Offenheit.

Er drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel an seinem Schreibtisch, worauf der Gerichtsdiener wieder erschien, um mich abzuführen.

In welcher Gemütsverfassung ich von dieser Vorführung in meine Zelle zurückkehrte vermag ich nicht zu beschreiben.

Nur einmal noch ließ mich der Staatsanwalt vorführen, ehe er meine Sache dem Untersuchungsrichter überwies. Und obwohl sich dieses Verhör etwas weniger hart gestaltete, so mußte ich doch während[178] der Zeit, wo ich unter sein Regiment gehörte, sehr schwer empfinden, der Staatsanwaltschaft zu unterstehen. Hat er mir auch keinen ankommenden Brief vorenthalten, so wurde doch mein erster erbetener Brief wie schon erwähnt bis zur Unverständlichkeit zusammengestrichen, ein anderer verweigert. Bei Vormeldungen ließ er erst nach dem Grunde zurückfragen, um dann meist abzulehnen, und bei den Vernehmungen ließ er nicht die geringste Milde walten.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 174-179.
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