Erstes Kapitel

Aus der Jugendzeit (1777–1792)

Mein Vater war ein sehr gelehrter Mann; sein langer Aufenthalt in Italien hatte ihm eine gründliche Kenntnis der dortigen Kunstschätze, der Literatur und Sprache verschafft, er fühlte die Schönheit jenes Landes mit all der Wärme, die so viele lebenslang im Busen tragen, die dort heimisch gewesen sind. Diesen Umständen verdankte er den Vorzug, daß die wegen ihrer Geistesbildung und anderer erhabener Eigenschaften allgemein verehrte Herzogin Anna Amalia von Weimar ihm die Verwaltung ihrer Bibliothek übergab, und es gehörte zu seinen Verbindlichkeiten, jeden Morgen mit der Herzogin italienische Schriftsteller zu lesen. Seine eigenen Werke in dieser Sprache sind bekannt, und sein italienisches Wörterbuch galt für das beste, das vorhanden war. Übrigens hatte er nicht die Gabe, noch den Trieb, sich geltend zu machen, sein Schreibtisch war seine Welt. Er konnte recht fröhlich sein in einem kleinen Kreise von geistreichen Leuten, die der Zufall mit ihm zugleich damals in Weimar vereinigte. Einfach in seinen Sitten und Neigungen, strebte er nie nach Dingen, um derentwillen er sich hätte schmiegen müssen; sein Geschäft und seine Kin der, auch ein kleiner Garten am Hause waren seine Freude. Meine Mutter war die Tochter eines Arztes aus Schwabach im Ansbachischen. Mehr eine gelehrte als praktische Erziehung durch eine Mutter, die vermöge ihres wissenschaftlich ausgebildeten Geistes mit gelehrten und berühmten Literaten teils umging, teils in schriftlicher Verbindung stand, hatte sie mit ungewöhnlichen Kenntnissen und dem Sinn für alles Gute und Schöne ausgestattet. Eine große Weichheit des Gemüts, verbunden mit warmer Religiosität, hatte ihr Herz zum Sitz der Wohltätigkeit und Menschenliebe gebildet, und eine äußerst rege Phantasie ließ sie alles mit Heftigkeit ergreifen und empfinden. Und doch verstand sie mit allen diesen vorzüglichen Eigenschaften nicht, glücklich zu sein; sie wußte so viel, sie faßte so leicht, nur das Leben in der wirklichen Welt hatte sie nicht begriffen. Meine Eltern schienen in meiner allerfrühesten Kindheit ein[27] recht angenehmes häusliches Leben zu führen; wir sahen zuweilen kleine Zirkel von Bekannten bei uns, und ich erinnere mich recht wohl, daß bei den heiteren Gesprächen, die unter ihnen stattfanden, mein Vater und meine Mutter auf eine Art Anteil nahmen, die von innerer Zufriedenheit und kummerfreiem Herzen zeugte. In der Einrichtung unseres Hauses herrschte Ordnung und sogar etwas Luxus, von dessen großer Bescheidenheit man freilich in den jetzigen Tagen keinen Begriff hat, der aber in der damaligen einfachen, glücklichen Zeit dennoch seine Rolle spielte. Es ging ruhig und friedlich zu in unserem kleinen Familienkreise. Das änderte sich auf einmal, es traten Mißverständnisse ein, die immer ernster wurden, zuletzt lebten meine armen Eltern in ganz unglücklicher Ehe. Soweit ich zurückdenken kann, waren sie stets bemüht, uns mit den Begriffen von Religion auch vieles durch Gespräche und Erzählungen einzuprägen, was der Jugend gewöhnlich erst später in Schulen oder durch Lehrer beigebracht wird, dann aber nicht selten dem Gedächtnis entschwindet, wenigstens nicht so tiefe Wurzeln faßt, als wenn es der Kindheit zur Unterhaltung dargeboten wird. Wenn meine Mutter jede Gelegenheit benutzte, uns Liebe und Vertrauen zu Gott einzuflößen, kleine Talente in uns zu wecken, so machte es meinem Vater Freude, uns in den Abendstunden, in denen er die Feder wegzulegen pflegte, zu erzählen, was Großes, Edles und Gutes aus der alten und neuen Zeit geeignet war, von uns verstanden und begriffen zu werden. Ich mochte wohl mein sechstes Jahr zurückgelegt haben, als mir und meinem Bruder die Blattern inokuliert wurden. Bei ihm kamen sie zum regelmäßigen Verlauf, bei mir aber warf sich das Gift auf beide Achseln und ging in fürchterliche schmerzliche Geschwüre über. Ich lag, ohne mich rühren zu können, ein ganzes Vierteljahr zu Bette; zweimal des Tags kam der Chirurg, mich zu verbinden, doch das Übel wurde immer ärger, der Knochen lag bloß und entzündet, ich stand entsetzliche Schmerzen aus. Meine arme Mutter erschöpfte sich in allen Mitteln, mir mein Leiden vergessen zu machen; als aber der Wundarzt die Besorgnis äußerte, daß mir die Arme abgenommen werden müßten, ward er als Ignorant verabschiedet und der geschickte Leibchirurgusder Frau Herzogin angenommen, der eigentlich nicht in der Stadt praktizierte, weil er reich war und sich entsetzlich vornehm vorkam. Die erste Dosis Balsam, die er in meine Wunden goß, tut mir heute noch in der Seele wohl; der erste Chirurg hatte mir täglich zweimal die schrecklichsten Schmerzen gemacht, jetzt fühlte ich mich wie im Himmel. Ich wurde nun bald besser, nur war ich außerordentlich schwach geworden und konnte wenig schlafen. Wenn der Tag zu grauen anfing, stand ich, um meine Mutter im Nebenzimmer nicht zu wecken, ganz sachte auf und wurde abermals meiner Einbildungskraft, die immer aus wenig viel zu machen wußte, den verbindlichsten Dank schuldig, denn sie gestaltete die geringfügigen Ereignisse in unserem Hof, in den mein Fenster ging, zu den zeitvertreibendsten Unterhaltungen. Den Hauptstoff lieferten die Katzen, die, wie es schien, den Raum dieses Hofes zu ihrem Versammlungsort gewählt hatten, und wenn ich mich endlich nach dem Tage sehnte, so war es der Hahn, der mir aus unserem Hühnerhause Trost und Hoffnung zukrähte. Das Lesen hatte ich beinahe vergessen, doch ging es mit der Wiedererlangung dieser Wissenschaft so gut wie mit den Fortschritten in meinen Kräften, die nach einigen Wochen vollkommen wiederhergestellt waren.

Die Bibliothek der Frau Herzogin war mir ein Heiligtum, welches ich mit meinem Vater zuweilen betreten durfte, wenn er mich belohnen oder beglücken wollte. Dort fand ich in den schönen Kupferwerken und anderen Gegenständen aus dem Kunstgebiete Ideale für die Bildung meines Geschmacks, Nahrung für den Kunstsinn, der sich unverkennbar in mir regte, auch suchte mir mein Vater zuweilen etwas zu lesen aus. So verging mir die Zeit, während er seines Geschäftes waltete, unterhaltend und belehrend zugleich, und ich verließ die klassische Stätte nie, ohne irgendeinen Gewinn für meinen Kopf mit hinwegzunehmen. Ich war damals sieben Jahre alt und wußte schon recht viel, konnte etwas Klavier, war nicht unbekannt mit der Geschichte und Mythologie, hatte meinen Katechismus gut gelernt und war dabei ein sehr fröhliches Kind. Mein Bruder war dreieinhalb Jahr jünger als ich; zuweilen wurde er in einen kleinen Wagen gepackt, und nun[31] ging's fort zu unserer alten ehemaligen Kinderfrau, die nahe am Tore ein kleines Häuschen besaß, wo uns entweder eine gute Milchsuppe oder das große Fest bereitet war, den alten Himbeerstrauch abzuleeren, die einzige Zierde des kleinen Raumes, der Garten hieß, aber eigentlich nichts war als ein großer Schutthaufen, auf dem seit fünfzig Jahren eine Menge Gestrüpp, auch manche bunte Blume nach Gefallen wucherte. Farrenkraut und Rittersporn schauten neugierig und keck von ihrer stolzen Höhe über die niedere Fensterbrüstung des altertümlichen netten Stübchens, in dem die gute Alte beschäftigt war, uns zu bewirten. Ganz am Ende der Stadt lag das kleine Häuschen, in die alte Stadtmauer gebaut, vom Himbeerstrauche aus mit unumschränkter Fernsicht, von der andern Seite mit dem Blick auf den weiten Ettersberg. Zuweilen sah ich, wenn ich die Frau besuchte, einen jungen blassen Menschen von etwa achtzehn Jahren, mit sanftem, freundlichem Wesen, still einherwanken und sich entfernen, weil wir ihm zu laut werden mochten. Es war der jüngste Sohn der lieben Frau, den sie statt Friedrich »Friede« nannten. Als wir wieder einmal hinkamen, war er gestorben, und die Mutter nannte ihn den »seligen Frieden«; sie zeigte ihn uns im Sarge, die erste Leiche, die ich sah, und der Gedanke an den Tod ist seitdem bei mir stets von der Erinnerung an den seligen Frieden begleitet.

Im Sommer befand sich die Frau Herzogin auf ihrem Landhaus in Tiefurt, eine halbe Stunde von Weimar. Meinen Vater führten seine Geschäfte alle Wochen ein- oder zweimal dorthin, wo er den Tag zubrachte und bei der Fürstin speiste. Gewöhnlich gingen wir ihm abends mit meiner Mutter entgegen. Welch ein Jubel, wenn wir ihn von weitem am Ende der Allee erblickten, denn wir freuten uns nicht allein des Wiedersehens, wir wußten auch, daß die gütige Fürstin beim Dessert an uns gedacht hatte. Bei solchen kleinen Familienszenen reichten sich die Eltern wohl einmal freundlich die Hände, sonst aber wurde es immer trauriger in unserer Häuslichkeit. Das Unglück einer mißvergnügten Ehe lastete auf mir, so jung ich war, denn ich litt mit meiner Mutter, die ich unendlich liebte, und wahrscheinlich deswegen behandelte[32] mich mein Vater mit Mißtrauen und oft mit Härte. Doch welchen Kummer trägt die Kindheit lange in der Brust! War der Sturm vorüber, dachte ich nicht weiter daran und gehorchte gern jeder Aufforderung meines heiteren Gemütes.

Die öffentlichen Maskeraden waren in Weimar ein beliebtes Wintervergnügen und eigentlich was man »bal en masque« nennt, denn die Gesellschaft war gewählt und der Hof zugegen. Am Geburtstage der regierenden Frau Herzogin fand gewöhnlich eine solche Redoute statt und gab Gelegenheit zu allegorischen Aufzügen. Meine Eltern besuchten einst solch ein Fest, und ich durfte sie begleiten, gar zierlich und nett als Spanierin schwarz und rosa angeputzt. Meine Toilette flößte meinem kleinen Bruder solchen Respekt ein, daß er mich Sie nannte und mir mit einem tiefen Bückling die Hand küßte. Ich hatte weißglacierte Handschuhe an und ein kleines Schnupftuch in der Hand, mit Eau de lavande begossen, und als ich zum Spiegel emporgehoben ward, um auch des Glückes teilhaftig zu werden, mich bewundern zu können, war mir sehr feierlich zumute. Mit Staunen sah ich manche von den großen Schöngeistern von Weimar, die es nicht verschmähten, sich unter die Sterblichen zu mischen, Goethe als Orest, Einsiedel als Orpheus, Musaeus als Janus, Bode als Dorfschulmeister mit einer Stutzperücke und einem großen Buche unter dem Arm. Für den Hof war eine drei Stufen hohe Estrade angebracht, mit Fauteuils besetzt, die Rückwand mit großen Spiegeln behangen. Im Saale schwebten die Herren in Dominos und hohen Schwungfedern auf dem Hute an der Seite der Damen auf und ab, und, obgleich die Redoute eigentlich noch nicht begonnen hatte, trieb hier eine Maske ihr rätselhaftes Spiel, verfolgten dort ganze Gruppen einen Pierrot, der seine Hände, auf die es besonders abgesehen schien, unter die langen Ärmel versteckte, oder ein Rudel Zwerge stürzte mit schrillen Tönen unter die friedlich Dahinwandelnden. Da wurden auf einmal die Türen weit geöffnet, der Hofmarschall trat herein, und das Schmettern der Trompeten und das Wirbeln der Pauken kündigte die Ankunft des Hofes an. Als die beiden Fürstinnen ihren Platz eingenommen hatten, bildete sich ein weiter Kreis, und eine Schar kleiner Engel in schneeweißen[33] Gewändern mit goldenen Flügeln an den Schultern kam geflogen und legte Blumen vor ihren Füßen nieder. Ich zitterte schon, daß sie ebenso plötzlich wieder verschwinden möchten, aber nein, sie trieben sich im Saale herum und verzehrten mit größtem Behagen Mustörtchen, die ihnen zum Lohne ihres Wohlverhaltens verabreicht wurden. Nur ein Engelchen schien mir noch nicht entzaubert; wie ein Genius an eine freundliche Frau geschmiegt, nickte es zu der kleinen Spanierin herüber und winkte ihr, worauf ich so lange an meiner Mutter zog, bis wir der Gruppe gegenüberstanden. Es war Luise v. Koppenfels und ihre Mutter; unsere Eltern waren bekannt, die Freundschaft wurde rasch geschlossen.

Luise war eine ideale Erscheinung, obwohl gleichfalls erst acht Jahre alt, doch von einer außerordentlichen Festigkeit des Charakters; ich strebte ihr ähnlich zu werden, um des Gefühls der Minderwertigkeit überhoben zu sein, sie ward mein Vorbild in allem. Mit beispielloser Gewissenhaftigkeit huldigte sie der Wahrheit, begnügte sich nicht, zu gestehen, wenn sie gefragt wurde, sondern kam dem freiwillig zuvor. Auch mich zog sie zuweilen vor den Richterstuhl ihrer Mutter, die mit einer kleinen Strafpredigt das Vergehen rügte, aber mit Lob die Aufrichtigkeit belohnte, das beste Mittel, junge Herzen zur Beharrlichkeit in der Tugend zu erziehen. Wir waren selten einen Tag voneinander fern, unsere Unterhaltungen aber ganz eigener Art, ohne Puppenspiel und dergleichen. Wenn abends die Sterne am Himmel heraufzogen, sahen wir in die Winternacht hinaus und fragten die, welche uns am freundlichsten zuzublinken schienen:


Was lächelst du, Sternchen, mich freundlich an?

Sprich, hab ich dir etwa was Liebes getan?


Und flogen die Wolken stürmisch am herbstlichen Nebelhorizont vorüber, sangen wir uns mit dem Erlenkönig und anderen schauerlichen Dichtungen in Angst und Grauen und empfanden dabei mit doppeltem Wohlbehagen die Sicherheit der warmen Stube. Mein größtes Glück war, wenn ich die Familie auf ihr Landgut Rohrbach begleiten durfte, wo Luisens Geburtstag alljährlich gefeiert wurde; die jüngeren Leute aus dem Dorfe waren alle eingeladen und kamen, mit Bändern[34] geschmückt, den Abend zu tanzen und fröhlich zu sein. Amelie, die zweite Tochter des Hauses, machte die Honneurs mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit, und ihre Teilnahme an dem ländlichen Vergnügen verschönte das anspruchslose Fest. Sie war fünfzehn Jahre alt und stand dem Hauswesen auf dem Lande vor, während ihre ältere Schwester von achtzehn Jahren bei ihrem Vater in der Stadt blieb, da ihn seine Geschäfte als Kanzler am Landaufenthalt verhinderten. Oft, wenn des Sonntags früh Luise und ich dem Schlafe noch fest in den Armen lagen, weckte uns Ameliens heiterer Gesang; wir schlugen die Augen auf, und vor uns stand die anmutige Gestalt wie die Göttin der Jugend, in blendend weißem Kleide, einen frischen Rosenkranz in den dunkelbraunen Locken. Schnell zogen wir die weißen Kleider an, die schön geglättet bereitlagen, und betraten im Rosenschmuck den Kirchenstuhl, angestaunt von den gutmütigen Untertanen der guten Herrschaft.

Luise war etwas exaltiert, glaubte an übernatürliche Erscheinungen und ging ungern allein des Abends ohne Licht aus dem Zimmer. Von dieser Schwachheit wollte man sie heilen und gab uns beiden den Auftrag, in der zunehmenden Dämmerung etwas aus dem Saale zu holen. Als wir in die Mitte gekommen waren, regte sich etwas mit so gespenstischem Aussehen, daß wir zu Tode erschraken und ich zurückwich, während Luise dem rätselhaften Dinge entgegenging. Da traten Mutter und Schwester ein, Luisens Mut und meine Furchtsamkeit angesichts des sich seiner Hülle entledigenden Gespenstes zu beleuchten. Dieses kleine Ereignis blieb nicht ohne Eindruck auf meinen Charakter, denn Beispiele wirken auf junge Gemüter alles. Auch ein anderes Rohrbacher Vorkommnis haftet in meinem Gedächtnis. Der Verwalter erkrankte an einem gefährlichen Nervenfieber, und als ich eines Tages mit Luise die Treppe herunterging, glaubte ich ihn zu sehen, wie er mit eingefallenen starren Augen, schweißtriefenden Haaren und blassen Wangen Bouteillen in den Keller trug. Ich freute mich der wiederkehrenden Gesundheit und wollte über den Hof in sein Haus springen, als mir Amelie zuflüsterte: »Der Verwalter ist vor wenig Augenblicken gestorben.« Als ich mein neuntes Jahr zurückgelegt hatte, reiste ich mit[35] meiner Mutter nach ihrem Geburtsort Schwabach, wo sie eine kleine Erbschaftsangelegenheit zu erledigen hatte. Eine Erholung war ihr zu gönnen, denn die häusliche Disharmonie hatte ihre Gesundheit und ihr Gemüt angegriffen; ihre Verwandten und Freunde nahmen sie herzlich auf, und auch meiner kleinen Person kam man so freundlich entgegen, daß ich den Umgang mit meinesgleichen nicht vermißte. Ich fühlte mich in dem Hause meines Großonkels, des Geheimen Rats Greiner, sehr behaglich, obwohl die Haushaltung still und einförmig war, und Sohn und Tochter sich schon dem reiferen Alter näherten. Mein Großonkel, der die erste Würde in der Stadt, die eines Stadtrichters, bekleidete, trug auch im Äußeren seiner Stellung Rechnung. Ein scharlachroter Rock, mit schmalem Gold besetzt, schwarzsamtene Unterkleider, weißseidene Weste und Strümpfe, hohe Schuhe mit vergoldeten Schnallen, feine breite Manschetten, schneeweiße Perücke, das Hinterhaar mit schwarzseidenem Bande zusammengebunden, dessen Enden sich in dem Jabot verloren – dieser Anzug, den er auf dem Rathause trug, gab der hohen, vom Alter noch ungebeugten Gestalt ein imposantes Ansehen, und die ein öffentliches Amt bekleideten, hielten auf die äußeren Formen. Seine Kinder und die ganze Stadt begegneten ihm mit Liebe und Ehrfurcht, und deshalb schmeichelte seine liebevolle Behandlung meiner Eitelkeit. Auch ein Herr v. Knebel, Dechant an der protestantischen Kirche, zu dem ich mit meiner Mutter oft eingeladen wurde, bereitete mir viel Vergnügen. Er war ein alter, unverheirateter Herr, der den größten Teil seines Lebens in Paris am Hofe Ludwigs XV. zugebracht, mit den Schöngeistern jener Zeit verkehrt hatte und in diesem Geschmacke weiterlebte. Er machte ein sehr angenehmes Haus, pflegte die gediegene Eleganz des französischen Rokoko und ergoß seine Satire am liebsten über deutsches Lustspiel und deutsche Sprache. Er zitierte ganze Stellen aus französischen Komödien und stellte ihnen die deutsche Übersetzung als Parodie gegenüber, was mich alles höchlich interessierte, obwohl er mich vor allem mit französischen Kupfer stichen zu unterhalten suchte – als ich Abschied von ihm nahm, schenkte er mir die illustrierte Ausgabe von Lafontaine.[36]

So gingen meine Tage recht vergnügt dahin, hätten nicht Briefe von Hause zuweilen unseren Frieden gestört. Ich hatte von frühester Kindheit an Freude und Kummer mit meiner Mutter geteilt, zuweilen ihre Tränen getrocknet, ehe ich recht verstand, warum sie flossen. Nun teilte ich auch das Mißgeschick, das ihr das Leben verbitterte, indem ich mit ihr den Unwillen meines Vaters ertrug, der sich mit den Jahren vermehrte. Zu Hause trafen wir die Verhältnisse trostloser als je, meine Schwester vernachlässigt und krank; übelwollende Menschen hatten die Abwesenheit meiner Mutter benutzt, um meinen Vater noch mehr gegen sie einzunehmen. Mein Trost und mein Spielgefährte war mein guter Bruder Ferdinand, der unterdessen geistig mir nähergerückt war; seine Galanterie hatte er beibehalten und erzeigte mir noch immer kleine Artigkeiten. Als ich an einem heißen Nachmittag auf dem Sofa eingeschlafen war, fühlte ich eine Bewegung in meiner Nähe und empfand eine erfrischende Kühle, die mich wie Rosenduft umfloß; beim Erwachen sah ich mich über und über mit Rosenblättern bestreut und ein Körbchen mit Rosen neben mir, während mein Ferdinand eilig zur Tür hinausschlich.

In Weimar gab es lange Jahre ein interessantes Institut, die Zeichenschule des Rats Melchior Kraus, die ich eine Zeitlang besuchte, da ich Lust und Anlage zur bildenden Kunst hatte. Das Lokal bestand, angenehm und zweckmäßig für die verschiedenen Klassen, in einem Saale und kleineren Galerien von einem der altertümlichsten Gebäude der Stadt, dem Schlosse, das in den ältesten Zeiten den Herrschern von Weimar zur Wohnung diente, ehe noch das Residenzschloß gebaut war. Diese Räume vereinigten die jungen Damen aus den ersten und mittleren Ständen, die einiges Talent für die Zeichenkunst zu besitzen glaubten oder auch schon eine gewisse Virtuosität darin erlangt hatten; zugleich boten sie Gelegenheit zum Plaudern, oft aber blieben durchreisende Fremde auch vor dieser oder jener Arbeit stehen, die bereits künstlerische Vorzüge aufwies. War die Zeichenstunde um zwölf Uhr beendet, ergingen sich die jungen Damen noch ein Stündchen in dem nahen Park, auf den grünen Matten und im Schatten der Bosquets verteilten sich die Erwachsenen in einzelne[37] Gruppen, in langen Reihen schlossen sich die Kleineren an und durchzogen lachend und spielend die Wiesen, ein anderer Teil zog vor, das Gemäuer des abgebrannten Schlosses zu durchwandeln, damals eine mit Wassergräben und Zugbrücken umgebene Ruine. In manchen Gemächern fand man an den von den Flammen geschwärzten Wänden noch Überreste von Malerei und Vergoldung, die Treppen zum oberen Stock besaßen aber keine Stufen, sondern waren eingerichtet, als ob man hinaufreiten oder fahren sollte. Allein und in den späten Nachmittagsstunden verweilte ich gern in den verfallenen Zimmern und verlor mich in die Vergangenheit. Da hing an einem halbverbrannten Balken ein eiserner Helm in einen kleinen Hof hinaus, der einst eine Kirche gewesen war – was mochte er für eine Bedeutung haben? Ich stand auf dem ehemaligen Fürstenstuhl: hier betete manche fürstliche Mutter für die in den Kampf gezogenen Söhne, und Lob- und Danklieder ertönten, wenn die Fürsten siegreich in die väterliche Burg zurückkehrten. Heute rauschten junge Birken, die aus dem Schutt der eingestürzten Fensterbrüstungen emporgewachsen waren, leise im Abendwinde, und die fahlen Strahlen der Sonne, die einst Glanz und Hoheit vergoldet hatten, beleuchteten wie treu gebliebene Freunde die Trümmer vergangener Größe. Und in der unterirdischen Gruft hatte sich der Sage nach etwas Grausenerregendes zugetragen, dessen lebendige Ausmalung an Ort und Stelle mir Luise geneidet haben würde. Der Herzog Ernst August, ein strenger und grausamer Herr, hatte erfahren, daß einer seiner Vorfahren das Geheimnis des Goldmachens besessen und in einer Schrift niedergelegt habe, die unter seinem Haupte im Sarge verborgen sei. Ein Herr v. Caumartin erhielt den Befehl, sie herbeizuschaffen; als er aber zurückkam, bestellte er sein Haus, weil er am dritten Tage sterben müsse, und wirklich traf man ihn nach einem ungeheuren Getöse um diese Zeit vom Schlage getroffen. Ich habe die Geschichte von alten Leuten, die Herrn v. Caumartin in seiner Kutsche Abschiedsbesuche machen sahen.

Seit mehreren Jahren spielte die Schauspielergesellschaft des Herrn Bellomo, eines Italieners, in Weimar. Meine Eltern besuchten zuweilen das Theater, gestatteten auch mir und[38] meinem Bruder öfters, sie dahin zu begleiten, besonders wenn Opern gegeben wurden, oder wenn eine kleine Actrice spielte, die für uns Gegenstand des größten Interesses und der Bewunderung war. Ihr Vater, einer der ausgezeichnetsten Schauspieler der älteren Zeit, hieß Neumann, sie Christiane, ward aber in der ganzen Stadt Neumanns Christel genannt. Aus den gehörten Opern, besonders aus der »Entführung aus dem Serail«, führten wir, mein Bruder und ich, Szenen auf oder gaben, was wir sonst von der Musik behalten hatten, in lauten Tönen in unserem kleinen Hausgarten oder im Hofe von uns, so daß die ganze Nachbarschaft davon profitieren konnte. Diese Kunstleistungen brachten ganz verschiedene Wirkungen hervor: der sehr talentvolle Sänger des Theaters, Grave, der bei uns im Hause wohnte, lauschte mit Wohlgefallen meiner klangreichen Stimme, während sich auf der entgegengesetzten Gartenmauer ein alter Herr mit drohendem Zeigefinger sehen ließ, der uns mit Donnerstimme zur Ruhe verwies, gerade wenn wir im besten Zuge waren. Das war der Legationsrat Kirms, der später ein großer Verehrer meines Gesanges wurde, ihn aber im Keime am liebsten erstickt hätte, weil er die Mittagsruhe störte, die er in seinem Garten zu halten liebte. Der Sänger aber proponierte meinen Eltern, mich zunächst in den Anfangsgründen der Gesangskunst zu unterrichten und, wenn er von Italien zurückkäme, weiter zu fördern. Er war ein sehr schöner Mann von etwa achtundzwanzig Jahren, ein sehr guter Schauspieler und großer Favorit des Publikums, besonders der Damen. Ich machte bald merkliche Fortschritte, und als Grave nach Italien gegangen war, gab es kein Musikfest in Weimar, bei dem mir nicht, obgleich ich erst elf Jahre alt war, die bedeutendsten Partien übertragen wurden. Ich sang sogar in einer Kirchenkantate eine große Arie zum Erstaunen der Zuhörer und zur Zufriedenheit des Komponisten, des damaligen weimarischen Kapellmeisters Wolf. Nach und nach ward es mein heißester Wunsch, mich ganz dem Gesange zu widmen; meine Eltern hofften, mich dereinst als Kammersängerin bei der Herzogin Anna Amalia angestellt zu sehen, und ich konnte die Zeit bis zur Rückkunft meines Meisters nicht erwarten.[39]

Ich spreche hier zum letzten Male von Luise v. Koppenfels, die ich innig liebte, aber mit der Zeit immer weniger sah. In meinen kleinen Verhältnissen hatte die Zeit schon die frühere Einfachheit verdrängt und unser Beisammensein eingeengt; auch waren neue Bekanntschaften hinzugekommen, unter anderem Amalie v. Imhof, deren Umgang mir sehr interessant war, obgleich ich sie nicht liebte. Sie war ganz das Gegenstück von meiner guten und einfachen Luise, verwachsen in ihrem Innern, intrigant, berechnend würde ich sagen, wenn sie besser verstanden hätte, ihre Schattenseiten zu verbergen. Uns beiden treuherzigen Seelen war nicht wohl mit ihr zumute, aber sie brauchte uns auch nicht, benützte nur Zeit und Ort, um sich auf ihre Art zu unterhalten, und trank die Milchschokolade gern, mit der meine gute Mutter sie zu regalieren pflegte. Luise aber hat uns bald auf immer verlassen, kehrte in ihre wahre Heimat, den Himmel, zurück, der sie der Erde nur auf kurze Zeit geliehen hatte. Die Mutter sah in mir ein Andenken der geliebten Tochter und hat mir ihre Zuneigung bewahrt bis an ihren Tod, der viele Jahre nach dem Hinüberscheiden unserer Luise erfolgte. Unterdessen entfaltete Amalie v. Imhof ein Talent von so entschiedenen Anlagen, daß die künftige Dichterin und Malerin nicht zu verkennen war. Wir malten zusammen die Dekorationen und Figurinen zu den Komödien, die wir aufführten und sie zumeist erfunden hatte, während mein Bruder als Farbenreiber und Handlanger angestellt war. Auch in mir waren verschiedene Talente aufgekeimt. Ich zeichnete nicht ohne Geschick, was mir vorkam, Köpfe und Bäume, hatte auch eine Passion für den Scherenschnitt. Zu Anfang kopierte ich die ziemlich steifen Rosenbuketts auf der Wachstuchtapete in meines Vaters Studierzimmer, immer dieselben, bis sie zur Feinheit gediehen; dann ging ich zu Schöpfungen meiner Phantasie über, sowohl in Blumen als Landschaften, und lieferte allmählich Gutes, da ich das Mechanische überwand und vermöge meines bißchen Zeichnens einen malerischen Schwung erreichte. Außerdem hatte all mein Spiel einen künstlerischen Anflug, ich beschäftigte mich eifrig damit, aus Moosen und Gräsern Landschaften zusammenzusetzen, und von der Näh- und Stricknadel[40] floh ich zu immer neuen Versuchen und Experimenten. Wenn ich mich in meine Kindheit zurückversetze, so muß ich erstaunen über die Fülle von Gaben, von denen der größte Teil heute noch ungebraucht und unentwickelt in mir liegt, nicht ruht, sondern sich oft genug bewegt. Aber es ist nun einmal so, beim Menschen wie in der Pflanzen- und Tierwelt, daß nicht alle Blüten Frucht tragen, vieles verkümmern muß, damit eins erstarke.

Währenddessen war der finstere Geist in unserem Hause fortgewandelt und hatte sein Werk vollendet; die unvermeidliche Katastrophe trat ein, und meine Eltern wurden geschieden. Meine Schwester, damals vier Jahre alt, und ich durften meiner Mutter folgen, mein Bruder wurde dem Vater zugesprochen; wir wanderten alle drei aus dem väterlichen Hause mit leichtem Herzen, das meinige wenigstens empfand nur die Wohltat, daß meine Mutter wieder froh sein würde. Wir bezogen ein freundliches kleines Logis in der Vorstadt mit dem Blick auf den schönen Ettersberg; in unseren einfachen Räumen war es licht und heiter, und wir fühlten uns in der ersten Zeit wirklich glücklich. Öfters gingen wir zu unserem Vater, der uns freundlicher empfing, als wir es unter seinem Dache gewohnt gewesen waren; es war gleichfalls bei ihm still und friedlich geworden, aber auch einsam und leer, und zuweilen mochte er sich nach uns sehnen. Mein Bruder durfte zu uns kommen, und sein Besuch bedeutete immer ein Fest; aber nach und nach traten Sorgen ein, bei dem geringen Einkommen von 150 Talern, das mein Vater uns jährlich gewährte, allzu begreiflich. Davon sollte gewohnt, gelebt, sollten Kleidungsstücke, Lehrstunden und die tausend namenlosen Ausgaben bestritten werden, kurz, der Himmel unserer stillen Zufriedenheit wurde mit neuen trüben Wolken überzogen. Bei seiner milden Stimmung half mein Vater durch kleine Gaben momentanen Verlegenheiten ab, aber er verheiratete sich wieder, mit einer Tante von Kotzebue, die in allem das Gegenteil meiner Mutter war, und nun nahm alles eine andere Wendung. Mein Bruder durfte uns nicht mehr besuchen, meine Mutter grämte sich darüber, die Entbehrungen wuchsen, und wenn die Aussicht auf eine bessere Zukunft, die mein[41] Talent uns verschaffen sollte, mich auch zuweilen stärkte, so stand sie doch noch in allzu weiter Ferne.

Die Herzoginmutter kam aus Italien ohne meinen Meister zurück (1790). Hatte eine übereilte Heirat seinen Ehrgeiz gelähmt, so war derselbe neu entzündet worden, als er auf Kosten der Herzogin nach Italien reiste; er nahm Unterricht bei den besten Meistern und durfte nach dem allgemeinen Urteil großen Erfolg von seinem Auftreten erwarten, für das Zeit und Rolle bereits bestimmt war. Als beides unter nichtigen Vorwänden abgesagt wurde, versank Grave, ein leidenschaftlicher Mensch, der seine Künstlerehre kompromittiert und sich der Früchte eines langen Strebens beraubt sah, in tiefen Schmerz und körperliches Leid, zu denen sich nach Kenntnisnahme der Intrige noch die Wut gesellte. Fräulein v. Göchhausen, die geistreiche Hofdame der Herzogin, die ein Vergnügen darin fand, störend in das Glück oder Vergnügen anderer einzugreifen, hatte nämlich den Impresario auf die Folgen aufmerksam gemacht, wenn Grave nach einem großen Beifall das Weimarer Engagement im Stich lassen sollte, und das war genug für den auf seinen Vorteil bedachten Italiener, seine Beihilfe zurückzuziehen. Die Frau Herzogin war mit ihrem Hofe nach Neapel gegangen (Januar 1789) und wollte eines Tages eine nahegelegene Villa in Augenschein nehmen; vorher besuchte sie mit Fräulein v. Göchhausen Grave, der sich nicht wohl fühlte und einen Vesikator hatte legen lassen. In großer Bewegung bat derselbe die Herzogin, für sein Kind zu sorgen, falls er sterben sollte; als aber Fräulein v. Göchhausen ihm den Trübsinn verscheuchen wollte, brach er in einen Strom von Verwünschungen aus, der sie aus dem Zimmer trieb. Dann hüllte sich Grave in seinen Mantel und warf sich aufs Sofa; als der Arzt nach dem Vesikator sehen wollte, fand er den Kranken blutüberströmt – er hatte sich das Federmesser ins Herz gedrückt. So verlor ich meinen Meister und mit ihm Trost und Hoffnung.

In der Kindheit stehen freilich Kummer und Freude nahe beisammen, und meine Mutter bot gern ihre schwache Hand, uns von letzterer einen Anteil zu verschaffen; sie vertauschte unsere bisherige Wohnung mit einem Gartenhaus, das zufällig[42] beispiellos billig zu vermieten war, und gab meinem angeborenen Frohsinn Gelegenheit zu neuer Betätigung. Um diese Zeit machte ich in Charlotte v. Seebach die Bekanntschaft einer gleichaltrigen Gespielin, um so erfreulicher, als ich an jugendlichem Umgang ganz verarmt war. Wir fanden bald Gefallen aneinander, gingen gern in die Komödie, wie man damals zu sagen pflegte, und wußten uns den Eintritt ohne Unkosten zu verschaffen, erfreuten uns aber ebenso gern der Natur in unserem schönen Garten. Am Fuße des Berges, auf dem er lag, rauschte ein breiter Wasserfall in die Ilm, die sich unter dem Brückenbogen durch hängende Weiden an üppig bewachsenen Ufern hinwand, bis hohe Erlen den Blick begrenzten. Im unteren Garten sprudelte inmitten eines Rasenplatzes ein klarer Quell, auf der Höhe zog sich um das kleine, aber bequeme Haus ein reichhaltiger Obstgarten mit breiten Sandwegen, und dahinter lag eine kleine Terrasse mit allerlei Blumenzier, behütet von den vier Jahreszeiten in Sandstein, kleinen Barockengeln mit dicken Gliedern und lächelnden Pausbacken. Mein Bruder, der sich von dem Verbot der Stiefmutter erfolgreich emanzipierte, besuchte uns Sonntags mit einigen Schulkameraden, und, waren es nun die goldenen Äpfel oder das günstige Spielterrain, was sie anzog, mit jeder Woche wuchs ihre Anzahl. Bald war eine kleine Armee beisammen, die sich in zwei Parteien teilte und gegeneinander zu Felde zog, an den Wochentagen Waffenstillstand hielt und am nächsten Sonntag mit verdoppelter Heftigkeit ausfiel. Lotte und ich sahen den Schlachten anfangs nur zu, bald aber konnten wir die mangelnde Kriegszucht und die ungerechte Behandlung der Helden nicht mehr ertragen und warfen uns zu Heerführern der wilden Rotten auf. Natürlich eigneten wir uns, was Napoleon uns später nachmachte, die höchsten Titel an, Lotte war Kaiserin Katharine von Rußland, ich Kaiserin Maria Theresia von Österreich; gekämpft wurde um einen alten Holzstall, und der Siegespreis bestand in meiner Schwester Marianne, die in einem Schubkarren apathisch ihr Schicksal erwartete. Bald hatte die eine Partei sie erkämpft und flog mit ihr über Stock und Stein, bald die andere sie erbeutet, um sie unter Siegesgeschrei zu entführen, sie wurde soviel[43] herumgeschleift, daß sie es müde wurde und durch einen Apfel oder eine Süßigkeit versöhnt werden mußte. Lotte und ich führten, das Schwert in der Hand, die Schlachtreihen an und waren stets im dichtesten Handgemenge zu finden, bis der Sommer zu Ende ging und wir die Winterquartiere bezogen. Neben ihren militärischen Talenten besaß Charlotte v. Seebach auch die Gabe, die verwickeltsten Geschichten aus dem Handgelenke zu erfinden und in fließendem Stile die überraschendsten Entwicklungen zu erzählen. Als Frau v. Ahlefeld hat sie bewiesen, daß ihre Phantasie mit den Jahren nicht gelitten hat, überhaupt könnte diese unbedeutende Kriegsgeschichte einen sehr ernsten Charakter bekommen, wenn ich das spätere Schicksal derer zusammenstellen wollte, die damals unter uns fochten; mein eigenes dürfte aber doch das auffallendste sein.

Unterdes war die Zeit meiner Konfirmation nähergekommen, und meine Mutter mußte sich sorgen, die Kleidungsstücke zusammenzubringen, die für ein anständiges Erscheinen in den Versammlungen nötig waren. Dadurch wurde der Mangel in unserer Häuslichkeit immer größer, oft hatten wir kein Holz, noch öfter kein Brot und andere Lebensmittel; wohl hätten wir Platz bei unseren Verwandten finden können, aber unsere Mutter wollten wir nicht verlassen. Wie das so geht, kamen wir unter Kummer und Sorgen von einem Tag zum andern, aber ich habe doch gelernt, was es heißt, arm sein, hungern und frieren, und später verstanden, warum ich in so früher Jugend diese Erfahrung machen mußte. Wen der Wohlstand verläßt, den verlassen auch die Menschen, und so gaben mich die jungen Mädchen, die mit mir die Religionsstunden besucht und sich anfangs freundlich an mich angeschlossen hatten, bald genug auf, als ich ihre Feste und Partien nicht erwidern konnte. Wenn die fröhlichen Züge an unserer Wohnung vorüber nach einem Ausflugsorte wanderten, sah ich ihnen oft wehmütig hinter dem Vorhange nach und wischte mir die Tränen aus den Augen. Auch ich ging zuweilen diese Wege, um den armen Menschen, denen der Aufenthalt in der Stadt und das Betteln am Tore verboten war, Gaben unserer Armut an einem Orte zu übergeben, wo das mitleidlose Gesetz keine Macht hatte. Das brachte uns frohe Augenblicke,[44] aber ich wäre doch auch gern in der Art vergnügt gewesen wie die Mädchen, die mich in ihrem Glücke nicht vermißten. Inzwischen hoffte ich mit Zuversicht auf eine Zeit, in der ich mein Haupt wieder würde erheben können, ich fühlte in mir die Kraft, zu einem hohen Ziele zu gelangen, und das half mir, den Jammer der Gegenwart zu ertragen.

Den ersten Schritt zur Besserung der Verhältnisse brachte das Erscheinen eines Künstlerpaares, das vor etlichen Jahren bei dem Prinzen August von Gotha, einem großen Freund der Musen, Anstellung gefunden hatte, Herr und Madame Schlick, er ein berühmter Violoncellist, sie eine allerliebste, muntere Italienerin (geborene Strina Sacchi) und große Violinvirtuosin. Diese beiden interessanten Leute brachten zuweilen auf Einladung der Herzogin ganze Wochen in Weimar zu, wohnten im Palais und gewährten mit ihrem Kunsttalent und feinen Umgangsformen der Fürstin und ihrer Umgebung die angenehmste Unterhaltung. Durch meines Vaters Verhältnis zu diesem kleinen belebten Hof blieb ich der Madame Schlick nicht fremd, die meine Stimme so ausgezeichnet fand, daß sie sich vornahm, die Fürstin darauf aufmerksam zu machen, damit sie sich für die Ausbildung interessieren möchte. Es hielt jedoch schwer, sie zu meinen Gunsten zu stimmen, denn ein Feindchen von mir, der kleine August Herder, ein Liebling der Herzogin, die ihn, kinderlieb wie sie war, oft ganze Tage bei sich sah, hatte ihr eine üble Meinung von mir beigebracht. »Karoline«, erklärte sie, »ist ein ungezogenes wildes Mädchen, das mit Gassenjungen Soldaten spielt«; doch gelang es der guten Schlick, sie dahin zu bringen, daß sie mich hören wollte. An einem schönen Frühlingsmorgen machte ich mich auf den Weg nach Belvedere, wo eben die Frau Herzogin residierte. Unter alten herrlichen Kastanienbäumen gelangt man bis zu dem auf einer Höhe gelegenen Schlößchen mit seinen Pavillons, in deren einem den Eheleuten Schlick ihre Wohnung angewiesen war. Ich war so heiter wie der Morgen, nahm bald hier, bald da eine Blume auf meinen Weg mit und hatte die Überzeugung, daß ich mit meiner Bravourarie über alle Ränke triumphieren würde. Ich wurde in einen Salon geführt, wo mich Schlicks neben dem Flügel[45] erwarteten; die Fürstin, die es nicht über sich gewinnen konnte, mich freundlich zu empfangen, weilte im angrenzenden, halboffenen Zimmer. Herr Schlick akkompagnierte mich, und ich sang frischweg mit klarer Stimme, wennschon ohne besondere Kunst und den gehörigen Ausdruck. Die Fürstin rief mich zu sich und sagte mir, doch mit einiger Zurückhaltung, ich hätte eine gute Stimme, möchte aber fleißiger Musik lernen als Soldaten spielen, beschenkte mich mit Bonbons und erlaubte mir beim Abschied, ihre Hand zu küssen. Sie beschloß, etwas für mein Talent zu tun, und die Gelegenheit stellte sich zu meiner Freude rasch ein, als Herr und Madame Beck von Mannheim, er ein vortrefflicher Schauspieler und sie eine der ersten Sängerinnen ihrer Zeit, auf einer Kunstreise nach Weimar kamen und, besonders beim verwitweten Hofe, große Sensation machten. Es wurde beschlossen, mich nach meiner Konfirmation in Mannheim dem Unterricht der Madame Beck zu übergeben, während die Frau Herzogin und mein Vater sich in die Kosten teilten.

Nachdem ich aus Herders Händen das erste Abendmahl empfangen hatte, sollte ich mich in wenig Tagen von meiner Mutter trennen, deren Vertraute, Trost und Schutz ich gewesen war. Meine Empfindung war zwischen ungeheurem Schmerz und Freude über das kommende Glück geteilt, von dem ich mir in absehbarer Zeit reichliche Unterstützung meiner Familie versprach, doch mit jedem Schritt, der mich von Weimar entfernte, flossen meine Tränen reichlicher. Mein Begleiter und Beschützer, ein alter Militär von martialischem Äußeren, mit pechschwarzem Schnurrbart und buschigen Augenbrauen, gab sich als Freund unseres Hauses viel Mühe, mich durch flotte Unterhaltung vom Kummer abzulenken, aber erst der Reiz der Neuheit und schönen Natur wies meinen Gedanken eine freundlichere Richtung. Jedes grüne Tal, jeder frisch betaute Busch erfreute mich, die Wartburg, hoch über den dunklen Tannen, weckte mein Entzücken, und als der Main, der erste große Fluß, den ich sah, sich vor meinen Blicken ausbreitete, kleine Nachen auf seinem Spiegel, schöne Landhäuser und herrliche Gärten an seinen Ufern, wurde mir, als müßte ich wie die Lerche in die frische Frühlingsluft hinaussingen.[46] Die erregte Phantasie zauberte mir eine schöne Zukunft vor, und mit ernstem Mut und gespannter Erwartung ging ich ihr freudig entgegen. Abends traf ich über rasselnde Zugbrücken, durch dunkle Festungswerke und über hellerleuchtete Straßen in Mannheim ein und begab mich von der Post zu dem Hause des Beckschen Ehepaares, das mich förmlich und kalt empfing. Auch Iffland ließ sein durchdringendes Auge teilnahmlos über mich hinwegschweifen, denn ich gehörte nicht zu den jungen Wesen, die durch den Ausdruck des Frohsinns beim ersten Anblick die Herzen gewinnen; die Sorge hatte die frische Farbe der Jugend auf meinen Wangen nicht aufkommen lassen, ich war ein kleines blasses Ding mit Sommersprossen und rötlichem Haar und mit meinen dreizehn Jahren ohne hervorstechende Merkmale. Herr Beck brachte mich zur Frau Kriegsrätin Heydel, meiner künftigen Pensionsmutter, die mich inmitten ihrer Kinder, eines Sohnes und einer Tochter ungefähr meines Alters, des Hausfreunds, Herrn Backhaus, und anderer Bekannten freundlich empfing. Zimmer und Mobiliar machten einen ärmlichen Eindruck, und ebenso enthielt mein Gemach, das an das der Frau Kriegsrätin stieß, nichts als ein Bett ohne Vorhang, zwei Rohrstühle und eine Kommode. Ich schluckte die Enttäuschung hinab, verdrängte mit raschem Entschluß meine phantastischen Erwartungen und schlief, müde wie ich war, unter tausend Tränen nach einem innigen Gebet für meine Mutter ein. Es wollte gar nicht wieder Tag werden, doch als ich die Fenster aufstieß, sah ich, daß eine hohe graue Kirchenmauer das Licht fernhielt und sich auf der einen Seite der engen Straße der Wall auftürmte, auf der anderen gerade soviel von einem schönen Platze sichtbar wurde, um unendliche Sehnsucht zu erregen. Jetzt war es um meine Standhaftigkeit geschehen, ich konnte mir nicht denken, daß ich es lange in dieser Umgebung aushalten würde. Dazu machten die Verhältnisse der Frau Kriegsrätin die strengste Sparsamkeit zur Pflicht, so daß nicht einmal der jugendliche Appetit genügende Befriedigung fand; so gut es meine Lehrerin mit mir meinte, schüchterte sie mich durch ihre strenge und stolze Behandlung ein, und ihr Gatte erbitterte mich durch seine kalte, vornehme Höflichkeit. Von[47] niemandem geliebt, fühlte ich mich unglücklich, zumal die Briefe meiner Mutter ausblieben, durch deren Klagen mein Vater das Studium gefährdet glaubte. Bei der entgegengesetzten Wirkung wurde die Maßregel aufgehoben, aber die Mitteilung, daß man der Armen auch meine Schwester genommen hatte, weil die Stiefmutter sparen wollte, war nur geeignet, mir neuen Kummer zu verursachen.

Inzwischen machte ich große Fortschritte im Gesang, aber für meine geistige Bildung geschah nichts und ebensowenig für meine Erheiterung. Nach der Meinung des Herrn Beck sollte ich keinen Umgang mit jungen Mädchen haben, meine einzige Zerstreuung bestand in Spaziergängen mit der Frau Kriegsrätin auf dem Walle, die mich aber nur veranlaßten, die Bürgerstöchter um ihre sorgfältige Kleidung und die liebevolle Behandlung seitens ihrer Mütter zu beneiden. In ersterer Beziehung war ich sehr mangelhaft ausgestattet, und in letzterer fühlte ich beständig, daß ich unter Fremden weilte; da aber die Jugend schließlich doch nach einem Anschluß verlangt, nahm ich an den Spielen der Heydelschen Kinder teil und wurde besonders dem Sohne bei der Dekorationsmalerei für sein Marionettentheater eine willkommene Gehilfin. Auch machte mich die Frau Kriegsrätin, die in Stickereien und feinen Näharbeiten sehr geschickt war und deshalb viel im Palais des Herrn Pfalzgrafen verkehrte, mit der Hofdame Gräfin Oynhausen bekannt, die mich trotz allen Standes- und Altersunterschiedes sehr lieb gewann. Meine Lebhaftigkeit, mein Talent und was sonst Gutes in mir lag, wußte sie zu schätzen und wurde meine Gönnerin; durch sie wurde ich dem Herrn Pfalzgrafen und seiner engelgleichen Gemahlin empfohlen und gewann deren unausgesetztes Interesse. Nachdem ich dreiviertel Jahr studiert hatte, war ich soweit gekommen, daß meine Meisterin beschloß, mich in einem der glänzenden Liebhaberkonzerte öffentlich auftreten zu lassen, in denen sich nur ausgezeichnete Künstler und Dilettanten produzieren durften. Der Herr Pfalzgraf, unerachtet des Anteils, mit dem er mich beehrte, mochte schlechte Erfahrungen im Punkte der jugendlichen Talente gemacht haben, denn er brach bei der Nachricht von meinem Auftreten in die Worte aus: »O weh,[48] man wird uns wieder eine junge Katze zu hören geben!« Man hatte mir diese Äußerung mitgeteilt, und ich freute mich in dem Gedanken, den gütigen Fürsten mit dem Gegenteil zu überraschen. Schon die Probe war für mich und meine Meisterin von Bedeutung, denn die Musiker in der Kapelle sind kompetente und strenge Richter. Noch niemand hatte mich gehört, alles war gespannt, da man von einer großen Meisterin wie Madame Beck annehmen durfte, sie würde keiner mittelmäßigen Schülerin erlauben, sich vor einem so verwöhnten Publikum, wie das Mannheimer damals war, hören zu lassen. Mein Gesang übertraf die Erwartung, es war nur eine Stimme zu meinem Lobe, man wünschte mir Glück und drückte meiner kleinen Person die Hand. Obgleich im vollen Fieber, feierte ich ein Fest, zumal wenn ich an den morgenden Abend dachte. Als er erschien, trat ich an der Seite meiner Lehrerin in den hellerleuchteten Saal und setzte mich zitternd und mit niedergeschlagenen Augen auf einen Stuhl. Endlich wagte ich aufzublicken, zwei Reihen vor uns saß der Hof und wandte sich mir freundlich zu, während der Pfalzgraf mir zurief, ich solle Courage haben. Das zog mich von meiner Angst ein wenig ab, als ich jedoch auf das um mehrere Stufen erhöhte Orchester stieg, klopfte mein Herz so stark, daß sich das große Rosenbukett auf meiner Brust im Takt bewegte. Die Frau Pfalzgräfin winkte mir mit ihren schönen Augen Mut zu, die gute Gräfin Oynhausen war in ängstlicher Spannung, das sah ich ihr an – o Gott, da begann das Ritornell. Nach dem ersten bebenden Ton erhob sich die Stimme und klang frei und stark, der Beifall hielt sich kaum in Schranken, bis ein passender Augenblick ihn erlaubte. Der Herr Pfalzgraf, wirklich so überrascht, wie ich gehofft hatte, war während der Arie dicht vor die Galerie getreten, die das Orchester umgab, und hatte mir wiederholt »Bravo« zugeflüstert; am Ende reichte er mir die Hand und führte mich zu seiner Gemahlin, die mich küßte und mir viel Erfreuliches und Ehrendes sagte. Meine Lehrerin umarmte mich, Herr Beck setzte seinen gewöhnten hohen Ton beiseite, Iffland seine bisherige Gleichgültigkeit, und beide sagten mir die freundlichsten Worte.

Die Frau Kurfürstin von der Pfalz, Tante des Herrn Pfalzgrafen,[49] lebte in Mannheim, während ihr Gemahl in München residierte. Sie pflegte die Liebhaberkonzerte nicht zu besuchen, wünschte mich aber zu hören, so daß ich die Arie im Palais mit Klavierbegleitung wiederholen mußte. Ehe die Zuhörer versammelt waren, kam der Herr Pfalzgraf, um mich von den kleinen Vorschriften zu unterrichten, die ich der Frau Kurfürstin gegenüber zu beobachten hatte, daß ich ihr das Kleid küssen müßte, sie mir die Hand reichen werde usw., und als Madame Beck das Zimmer für den Gesang unvorteilhaft fand, griff der liebenswürdige Fürst selbst mit an, das Instrument in den Salon zu transportieren. Ich sang wieder gut; die Frau Kurfürstin lobte und umarmte mich, die Frau Pfalzgräfin schenkte mir schönen rosa Atlas zu einem Kleide. Unterdessen hatte die Frau Herzogin von Weimar auf Empfehlung des Kapellmeisters Reichardt eine Sängerin engagiert, und meine Aussichten an diesem Hofe gingen unter. Der Intendant v. Dalberg baute darauf die Hoffnung, mich für das Mannheimer Theater zu gewinnen, aber mein Vater hatte große Vorurteile gegen den Schauspielerstand, und nur mit Mühe gelang es den Vorstellungen des Herrn Beck und des Koadjutors v. Dalberg, der großen Einfluß auf meinen Vater hatte, ihm die Erlaubnis abzugewinnen. Am 6. Oktober 1792 spielte ich zum ersten Male den »Oberon« von Wranitzky und mit glänzenderem Erfolg als bei meinem Auftreten im Konzert. Ich ward am Ende hervorgerufen, eine Ehre, mit der man damals nicht so freigebig war wie heute, und dankte mit einer kurzen Rede, die mir Iffland hinter den Kulissen schnell zugeraunt und ich ihm, während das Publikum sich in Beifallslärm erschöpfte, ein paarmal nachgesprochen hatte. Die Kurfürstin, die eine Unpäßlichkeit vom Theater ferngehalten hatte, befahl die Wiederholung der Oper für nächsten Sonntag, und ein gleich großer Beifall des Publikums wie die schmeichelhaften Äußerungen der Frau Kurfürstin lohnten mein Bestreben. Bei meinen beiden andern Debüts ging es mir ebenso gut, und nun war mein Schicksal entschieden. Als ich der guten Gräfin die Nachricht meines bevorstehenden Engagements brachte, bezeugten die hohen Herrschaften die lebhafteste Zufriedenheit. Ihr Wohlwollen verschönerte meine Tage in Mannheim: die Fürstinmutter[50] blieb mir stets eine liebevolle Gönnerin, die Frau Pfalzgräfin, die den Himmel in den Augen trug, schenkte mir, wenn ich in einer hübschen Rolle auftrat, freundliche Blicke, die mich belebten und ermutigten, und Prinz Ludwig, der jetzige König von Bayern, nahm den regsten Anteil an meiner Sangeskunst. Wenn er, meist in Begleitung seiner Mutter, bei der Gräfin erschien, blickte er gewöhnlich schüchtern hinter der Tür des Kabinetts hervor, bis er auf Zureden erschien und sich seine Lieblingslieder von mir vorsingen ließ. Die Gräfin Oynhausen selbst blieb meine unbestechliche Beraterin und mein Trost in allen Herzensnöten, mit ihr durfte ich alles wie mit einer Mutter besprechen und ihr alles Leid wie einem Beichtvater klagen. Auch dankte ich ihr das Glück, die beiden jungen Prinzessinnen von Mecklenburg-Strelitz11 kennen zu lernen, reizende Erscheinungen, deren Glanz in meiner Erinnerung nicht verlischt. So unmöglich es ist, die Wärme der Sonnenstrahlen oder die Frische des Morgenwindes zu malen, so wenig läßt sich die Schönheit ihrer Gestalten und die Hoheit ihrer Blicke und Bewegungen beschreiben. Wer diese Himmelsblumen nicht gesehen hat, dem gibt kein Wort den richtigen Begriff, und wer sie sah, dem wird jedes Bild unzureichend erscheinen.

Solche Erlebnisse mußten mich schadlos halten, denn das Engagement, das nach all dem Beifall und Erfolg abgeschlossen wurde, war ein bewundernswert unvorteilhaftes: ich bekam das erste Jahr dreihundert, das zweite vierhundert und die zwei letzten Jahre sechshundert Gulden. Wieder hielten Entbehrung und Sorge bei mir ihren Einzug, daß ich meine Mutter gar nicht oder nur wenig unterstützen konnte, und der gänzliche Mangel an liebendem Zuspruch aus meiner nächsten Umgebung, die ernüchternde Kälte und der zurückstoßende Stolz meiner Lehrerin gewannen einen traurigen Einfluß auf mein Gemüt. Für meine Geistesbildung geschah auch weiterhin nichts, ich lernte nur Musik und Singen; in das wirkliche Leben wurde ich von niemandem eingeführt und mußte mir selbst Charakter und Grundsätze zusammensetzen. Mein Ideal waren die edlen Charaktere, die ich auf der Bühne darstellen sah; daraus und aus dem, was ich im elterlichen Hause[51] gehört und gelernt, was sich mir im Umgange mit Luisen eingeprägt, was der Druck des Schicksals in meiner Seele zurückgelassen hatte, bildete sich ein nicht gewöhnliches Ganzes. Hätte eine sorgsame Erziehung dasselbe geordnet und verfeinert, so wäre ein vorzügliches Resultat herausgekommen, so aber entstanden Extreme, die sich schroff gegenüberstanden und keine Verschmelzung erlaubten. »Entweder oder«, »ganz oder gar nicht« war mein Wahlspruch; der geringste Schein war mir zuwider. Ich übertrieb auch im Guten, Selbstverleugnung und Aufopferung für das Glück anderer war mir unbedingte Pflicht, Recht und Unrecht, Gut und Schlecht waren himmelweit getrennte Begriffe. Daß zwischen ihnen eine Tonleiter existiert, die den grellen Abstand mildert und versöhnend vom einen zum anderen hinüberführt, das hätte mich die Welt gelehrt, wenn ich sie hätte kennen lernen, so aber sind sie stehen geblieben, diese extremen Grundsätze, die oft das Beste anderer befördert, aber nie glücklich auf meinen eigenen Lebenslauf eingewirkt haben.

Quelle:
Jagemann, Karoline: Die Erinnerungen der Karoline Jagemann nebst zahlreichen unveröffentlichten Dokumenten aus der Goethezeit. Dresden 1926, S. 27-29,31-52.
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