6.

[12] Die ersten Triebe, welche ich empfand, waren Liebe und Schaam. Beide fanden sich unzertrennlich in meinem Wesen, und[12] blieben auch so durch das ganze Leben gegen alle Stürme innig mit einander verbunden. Ich liebte meine Mutter sehr; ich fühlte, wie grausam ihr Schicksal war durch den Unfrieden und die Dürftigkeit, die in ihrem Hauswesen herrschten. Ihr poetisches Talent erwarb ihr thätige Freunde, deren Kräfte jedoch nicht zulänglich waren; sie theilte uns alles mit, was sie vom Zufall erhielt, und ward dennoch gemißhandelt; dies rührte mich, und mein Herz hieng ganz an ihr. In den glücklichen Jahren der Kindheit merkte ich wenig auf die Aeusserungen ihres Hasses, und ich glaubte immer, ich könnte keinen bessern Schutz haben, als meine Mutter. Indessen wurde ich aufmerksamer auf das, was sonst um mich her vorgieng. Ob ich gleich immer mit einsamen Spielen meine Zeit füllte, war ich doch sehr zufrieden. Selten mischte ich mich unter die Nachbarskinder,[13] die auf dem großen grünen Hofe, hinter unserm Hause, sich versammelten, weil mir ihre Spiele zu rauschend waren. Spielten sie Hochzeit, so war ich mit Freuden dabei, und empfand bei dem Namen Braut etwas so innig Angenehmes, daß ich in mir selbst beschloß, wenn ich einmal Braut würde, so wollte ich es sieben Jahre lang bleiben, weil ich mir gar nichts Schöners denken konnte, als eine Braut zu seyn.

Quelle:
[Klencke, Karoline von]: Leben und Romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt a. M. 1805, S. 12-14.
Lizenz: