9.

[23] Mein Vater führte uns in die Kirche zur Belohnung für unser gutes Betragen. Ich erinnere mich noch meiner unaussprechlichen Freude, da ich zum erstenmal in den Dom gieng. Ich verließ den Prediger nicht mit meinen Blicken, und das Innere des Tempels erfüllte mich mit einem heiligen Schauer; als ich nach Hause kam, wußte ich den Zusammenhang der ganzen Predigt, und sagte sie meinem Vater, der Freudenthränen vergoß über meine Aufmerksamkeit auf Gottes Wort und mein gutes Gedächtniß. Diese rührenden Zeugnisse seiner Zufriedenheit spornten meinen Eifer an; ich wurde immer gelehriger, und niemals hat mein Vater, oder sonst einer meiner Erzieher, sich gezwungen gesehen, mich zu strafen oder auch nur zu tadeln. Die Zufriedenheit in den Mienen meiner Lehrer und[24] Vorgesetzten, war für mich so etwas süßes, daß ich nach und nach mich blos von dem Wink ihrer Augen unterrichten ließ, weil Worte oder Befehle mir schon zuviel waren, und mich fast beschämt haben würden. Meine Mutter allein hatte niemals Freude an mir, niemals äußerte sie mir ein Wohlgefallen. Oft, wenn ich ruhig bei meinen Spielen saß, nahm sie meine zweite Schwester auf den Schoos, liebkoßte ihr, und verwünschte mich dabei, weil ich meinem Vater ähnlich sah. Ich weiß es noch, daß ich bei solchen Reden verwundert nach ihr hinsah, da ich aber mein Gesicht nicht kannte, und mein Betragen immer so war, daß es von niemand getadelt wurde, so war ich mir auch nichts Böses bewußt; und obgleich mir die Rede befremdend war, so dünkte mir es doch im Herzen, als könnte sie mich gar nichts angehen, denn ich hatte meine[25] Mutter lieb, und so dachte ich nicht, daß sie aus Haß, und im wahren Ernst, so von mir sprechen könnte. Doch wurde meiner Schwester Gemüth durch diese Reden gegen mich verstimmt, und ihr Betragen gegen mich wurde täglich kälter; dennoch war ich ihr gut, und begegnete ihr mit Liebe.

Dies Kind, von meiner Mutter so vorgezogen, und worin sie ihr einziges Glück setzte, starb im vierten Jahre; ich beweinte sie herzlich, und mußte doch noch anhören, wie meine Mutter das Schicksal verwünschte, das ihr das liebste Kind genommen, statt sie von dem verhaßten zu befreien.

Quelle:
[Klencke, Karoline von]: Leben und Romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt a. M. 1805, S. 23-26.
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