Nun kommt ein Rückblick.

[48] Ich kann keine Auskunft geben, wo sich des Vaters Brüder, der Alban und »der Schwarz«, während der letzten 15 Jahre aufgehalten haben. Im Jahre 1803 finde ich den ersteren in Heidelberg, wo er sich mit Hilfe unseres Vaters, welcher seinen letzten Heller für seine Brüder hergegeben hätte, als Kaufmann etabliert hatte. Vorher war Alban – ich weiß nicht, ob als Patient oder als Handlungsreisender – auch im Bade Lenk gewesen. Das Kurhaus war auch dieses Mal sehr mit Gästen angefüllt, und Alban mußte in dem nämlichen kleinen Zimmer sein Quartier nehmen, in welchem Marie Künzle gewohnt hatte. Er las die Inschriften an den Wänden und darunter auch das Gedicht der A. Marie Künzle aus Gossau, welches ihm besonders gefiel. Als er nun von den Leuten hörte, daß die Verfasserin ein sehr schönes, liebenswürdiges Mädchen, die Tochter des Landammannes von Appenzell sei, beschloß er, sich auf den Weg zu machen und sie aufzusuchen.

Im Jahre 1803, an einem schönen Sommerabend, saß der Landammann Künzle nebst Frau und Tochter vor seinem Haus, da kam des Weges daher ein freundlicher, angenehmer junger Herr, der sprach, er sei in Lenk gewesen und habe viele Grüße von dort auszurichten. Er wurde gastfreundlich von unserem Großoheim aufgenommen, die Tochter gefiel ihm, und er gefiel hinwieder der Tochter, und in wenig Tagen waren sie Braut und Bräutigam. Wie erstaunte Klementine Pfister, als sie von der Verlobung ihrer Kusine Nachricht erhielt; sie hätte sich, wie sie mir sagte, schier zu Tode geweint. Unsere Mutter nahm alles sehr schwer, so wie unsere Schwester Rosa. Nach einiger Zeit ging die Hochzeit vor sich, bei welcher unsere Mutter natürlich als Brautjungfer beteiligt war. Die jungen Leute zogen von dannen, unsere arme Mutter aber erkrankte am Gallenfieber; zu ihrer Erholung durfte sie eine Reise nach Heidelberg machen, und sie reiste hin – aber nicht mehr her. – Und nun ist der Rückblick vorüber, und unser lieber Vater wieder auf dem Wege nach Heidelberg zur Kindtaufe. Er bestieg in Speyer einen Nachen, fuhr hinab nach Ketsch, schlenderte ein wenig im Schwetzinger Schloßgarten umher, nahm ein frugales[49] Mittagsmahl ein und fuhr dann in einem Einspänner auf der zwei Stunden langen, schnurgeraden Chaussee nach Heidelberg.

Ich weiß nicht, ob die Taufe noch am nämlichen Tage war, oder am folgenden; die Vermutung spricht für den nämlichen, weil unser Vater nicht gerne Zeit verlor. Bei der Taufe wurde ihm die Gevatterin: »das Bäsel« vorgestellt. Dasselbe war hübsch und hieß Klementine Pfister. Der Vater hatte immer großes Interesse für Kinder, aber bei dieser Taufe scheint ihn das Bäsel mehr interessiert zu haben als der Täufling, denn als nach der Kindstaufe ein Spaziergang auf das Schloß gemacht wurde, da sprach der Vater: »Bäsel, wollen Sie mich heiraten?« Und das Bäsel sagte wenigstens nicht »Nein«. Am andern Tag, ehe er wieder nach Speyer zurückkehrte, fragte er noch einmal: »Nun Bäsel, ist es Ihr Ernst, wollen Sie mich heiraten?« und das Bäsel sagte »Ja«, es sei ihr Ernst. »Nun so schreiben Sie an Ihre Eltern um deren Einwilligung, sowie um Ihre Papiere; für alles übrige will ich sorgen.«

Onkel Alban und Tante Marie waren hocherfreut über diese Verlobung, obgleich ihnen dadurch ein Erbonkel entzogen wurde, und das Bäsel schrieb an seine Eltern. Wo aber diese sich aufhielten, davon habe ich keine Ahnung; vielleicht war die Großmutter bei ihrem Manne in Bordeaux. In diese Zeit fällt ein sehr trauriges Ereignis, nämlich die Gefangennahme des Onkels Pepi, einzigen Bruders unserer Mutter, welcher das Unglück hatte, sich beim Korps des Generals Dupont zu befinden, das dieser feiger oder verräterischer Weise an die Spanier überlieferte.

An ihre Eltern also schrieb die Mutter um die Erlaubnis, den Vater heiraten zu dürfen, und es mag nun die Erlaubnis hergekommen sein aus Süd, Nord, Ost oder West – hergekommen ist sie und wurde nebst den übrigen Papieren von der Mutter selbst, in Begleitung ihrer Verwandten nach Speyer überbracht.

Am 18. Juli 1805 wurden unsere Eltern zuerst im Rathause zu Speyer von dem Bürgermeister – maire – dann in der Jesuitenkirche – jetzigen Reitschule neben dem Dom – im Beisein des Bezirksgerichtspräsidenten Dick, des Advokaten Heddäus, des Gerichtsschreibers Boll, und des Schreibers unseres Vaters, Ilgen, getraut und lebten in dieser Ehe bis zum 22. Oktober 1833, also 28 Jahre, 3 Monate und 4 Tage. – Die größte Sorge hatte die[50] Mutter wegen des Vaters Gesundheit; sie selbst war, obgleich sie das, weiß Gott, nicht beneidenswerte Schicksal hatte, 17 Wochenbetten durchmachen zu müssen, immer gesund geblieben, solange der Vater lebte. Erst nach seinem Tode, welcher ihre geistige Kraft brach, verloren sich auch ihre körperlichen Kräfte überraschend schnell, und ihr Lebensquell versiegte. Und sie sollte nicht einmal auf dem nämlichen Kirchhof begraben werden wie der Vater. Der Vater liegt mit den Großeltern und sieben seiner Kinder auf dem nun verlassenen Kirchhof zu Speyer. Die Mutter aber, welche am 30. Mai 1837 starb, liegt begraben auf dem außerhalb Berghausen gelegenen Kirchhofe. Um das Grab des Vaters und um jenes der Mutter haben wir zwar Geländer machen lassen, aber unsere Entfernung und die Wogen der Zeit haben längst jede Bezeichnung dieser Gräber verwischt. In unserer unverlöschlich dankbaren Erinnerung aber blühen die schönsten Blumen für unsere geliebten Toten, deren Andenken von Jahr zu Jahr von uns nur noch höher verehrt und inniger gepflegt wird, je mehr wir erkennen, was wir in ihnen verloren. Der größte Schmerz, welcher unseren Eltern gemeinschaftlich beschieden war, ist der Tod ihrer drei erstgeborenen Kinder und später noch zwei jüngerer gewesen. Ich glaube, der Vater hätte ohnehin am liebsten alle 16 Kinder beieinander gehabt. Er bedauerte oft, daß ihnen keine Zwillinge beschieden waren, was ihm gut gefallen hätte.


Folgende waren und sind die Loewschen Kinder in chronologischer Folge:


1. Kamillus Leonidas, geb. zu Speyer im August 1806, gest. daselbst im Juni 1807.

2. Marie Rosa Klementine, geb. am 10. Oktober 1807, gest. 4 Jahre alt.

3. Gustav Alban, geb. im Dezember 1808, gest., 4 Jahre alt.

4. Johanna Amanda, geb. am 28. Januar 1810 (Patin Urgroßmutter) gest. zu Bamberg am 13. März 1864. War verheiratet an Ober-Appelgerichtspräsident Max von Dall'Armi.

5. Maria Magdalena Amalia, geb. zu Speyer am 24. Februar 1811, heiratete den Fürsten Karl Theodor Wrede.

6. Johann Josef, geb. und gest. zu Speyer im Jahre 1812. Wurde 7 Monate alt.

7. Friedrich, geb. und gest. zu Speyer im Jahre 1813.

8. Titus Johann, geb. zu Speyer am 6. Januar 1815.

9. Anton Georg Wilhelm Ludwig, geb. zu Worms am 4. April 1816, gest. zu Speyer am 2. März 1838.

10. Johann Klemens, geb. zu Speyer am 21. März 1817. Pate der Großvater. 11. Guido, geb. zu Speyer am 18. Mai 1813. Pate der Großvater.

12. Jakob, geb. zu Berghausen, 13. August 1819.

13. Rosina Franziska Josepha, geb. zu Berghausen, 30. November 1821.

14. Eugen Georg Franz, geb. am 14. März 1823 zu Berghausen.

15. Klementine Amanda Amalia Rosa, geb. zu Speyer am 6. Januar 1828, gest. daselbst am 4. November 1837.


NB. Im Jahre 1818 wurde ihnen noch ein fremdes Kind vor die Tür gelegt, das sie als eigenes annahmen und nach dem Fundort: Katharina Weidenberg nannten. –[51]


Der Rest des Jahres 1805 ging für unsere Eltern in stillem, häuslichem Frieden vorüber. Die einzigen unangenehmen Tage waren die, wenn sie Einquartierung hatten, und diese fürchterliche Last hörte damals selten auf. Es war in unserem Hause obenauf ein eigenes großes Zimmer eingerichtet, »die grüne Stub'«, für die Offiziere, die wir ins Quartier nehmen mußten; die Bedienten trieben im unteren Stockwerk ihr Wesen. Sonst hatte die Politik keine so große Aufregung mehr für die Rheinlande, die letzten zwanzig Jahre hatten mit allem vertraut gemacht. Der Vater brachte alle freie Zeit im Garten zu und legte viele Spargelbeete an; die Mutter füllte ihre Mußestunden mit Spinnen aus, und sie spann sehr schön und sehr fleißig; sie spann aber nicht am Spinnrad, sondern an der Spindel. Ich glaube, unsere Eltern hatten gar keinen geselligen Verkehr und kamen fast gar nicht aus dem Hause. Nur wenn Komödianten dagewesen sind, da ist die Mutter gewiß öfters ins Theater gegangen; sie sah für ihr Leben gern Komödie spielen, gerade wie ihre Kinder. Einen Kummer hatte aber die Mutter immer noch, nämlich den ewigen Hader mit der Theres, der von früher her im Hause befindlichen ehemaligen Haushälterin des Vaters. Die Großmutter spann noch schöner als die Mutter, unter anderem auch Nesseltuch für unseren Vater zu einem Hemde; das Hemd hatte ein Spitzenjabot, und der Vater trug es bei festlichen Gelegenheiten. In späteren Jahren, als die Rheinpfalz schon wieder bayrisch war, gewann die Mutter einmal bei einem landwirtschaftlichen Feste den ersten Preis im Spinnen; es war ein silberner Gedenktaler in einem roten Etui.

1806.


Im Laufe dieses Jahres gelang es der Mutter, die Theres los zu werden, und ich bin überzeugt, daß sie dieses mehr interessierte, als daß am 6. August Kaiser Franz die deutsche Kaiserkrone niederlegte – es war am Ende für sie auch wichtiger. Im August kam unser Bruder Kamill auf die Welt, und wie man ihm den Mund auswaschen wollte, bemerkte man, daß das Kind bereits einen Zahn habe. Zur Taufe kamen die »Heidelberger« herüber,[52] auch die kleine Emilie. Es machten aber Onkel Alban und Tante Marie unsern Eltern Eröffnungen, welche diese sehr betrübten. Es hatte nämlich der Onkel, weil die Tante sich in Heidelberg gar nicht eingewöhnen konnte, seine Handlung daselbst verpachtet und war im Begriff, nach Gossau zu ziehen, um dort ein neues Geschäft anzufangen, und sie zogen auch wirklich fort. Unsere Mutter hatte auch immer Heimweh, und dieses verbitterte ihr wahrhaft das Leben und dem Vater wahrscheinlich mit; denn er hätte für sein Leben gern die Mutter immer vergnügt gesehen. Aber wie konnte auch einer Schweizerin Speyer gefallen? Wir Kinder haben uns geärgert, wenn die Mutter ewig über Heimweh klagte, und wie fand ich ihre Sehnsucht gerechtfertigt, als ich zum erstenmal ein Stück von den Alpen sah! Der Vater war der rücksichtsvollste, aufmerksamste und liebenswürdigste Ehemann, den man sich denken kann, und was war er für ein zärtlicher Vater! Ich kann ihn ewig sehen und hören, wie er seine kleinen Kinder herumgeschleppt und ihnen vorgesungen hat. Aber der Vater arbeitete den ganzen Tag, und so war die Mutter viel allein und hatte Zeit, ihrer Sehnsucht nach der Heimat nachzuhängen; sie hatte das unglückliche Gemüt der Rosa – wenn sie nicht stets von außen angeregt wurde, verfiel sie in innerliches Brüten. Der kleine Kamill wird gewiß einen erheiternden Einfluß auf die Mutter ausgeübt haben. Der Vater hatte das unschätzbare Glück, immer heiteren Humors zu sein. Er selbst hatte fast gar keine Bedürfnisse, war immer zufrieden und gab der Mutter alles, was sie nur wollte. Der Vater war so einfach, wie ich niemanden sonst gekannt habe, und brauchte auch keine Bedienung. Im Sommer stand er oft um 2 Uhr, im Winter um 4 Uhr auf, um zu arbeiten; er machte dann selbst Feuer in dem Ofen und kochte sich seinen Kaffee. Die Mutter dagegen liebte es, soweit ich zurückdenken kann, morgens lange im Bett zu bleiben und im Bett ihren Kaffee zu trinken. Wenn die Köchin das Frühstück bereitet hatte, so richtete der Vater die Portion für die Mutter auf einem Servierbrett her, trug es in ihr Zimmer und rief: »Das Marktschiff kommt!« worauf die Mutter sich im Bett aufrichtete, um ihren Kaffee zu trinken, nachdem ihr der Vater noch vorher die Kissen aufgeschüttelt hatte.[53]


1807.


Unseres Vaters jüngerer Bruder Alban war also jetzt in Gossau, und wo war »der Schwarz«? Leider finden wir ihn in herabgekommenen Zustand im Hause seines Bruders, d.i. bei unserem Vater wieder, – er war ein Trunkenbold geworden. Da man ihn nicht wohl mehr in einer Handlung unterbringen konnte, so verwendete ihn der Vater, der eine große Praxis hatte, als Schreiber bei sich. Es war gut, daß der Vater soviel Geld verdiente, denn er hatte sehr viel Familienlast. »Der Schwarz« kam übrigens sehr gut mit der Mutter aus und redete ihr immer von seinen guten Vorsätzen vor, und wenn er dann wieder getrunken hatte, dann weinte er wie ein Kind. Unter anderem vertrank er auch des Vaters Uhr und gab vor, daß er sie aus Versehen in den Abtritt fallen ließ. Dieser Verlust wurde Veranlassung, daß die Mutter dann dem Vater jene goldene Repetieruhr zum Geschenk machte, welche der Vater bei seinem Tode als Andenken dem Eugen hinterließ. Im Juni 1807 starb unser kleiner Kamill, und auf unseres Vaters Geburtstag, am 10. Oktober, kam unsere Schwester auf die Welt; sie war das Entzücken unseres Vaters, wie er denn überhaupt eine Vorliebe für die Mädchen hatte und ein sehr galanter Mann war.

Es muß ungefähr um diese Zeit gewesen sein, daß unsere Mutter den Wunsch aussprach, eine Kuh zu besitzen; sofort kaufte ihr der Vater eine, dann zwei und zuletzt gar drei. Die Mutter fing einen kleinen Milchhandel an und hatte daran ungeheuere Freude, es war eine kleine Schweizerei.


1808.


Ich denke, es muß in diesem Jahre gewesen sein, daß die Albanschen wieder nach Heidelberg zurückgekommen sind; sie hatten in Gossau schlechte Geschäfte gemacht und die Handlung in Heidelberg wieder aufgenommen. Der Vater gab auch hier wieder seine Beisteuer. Im Dezember kam unser Bruder Gustel auf die Welt. Die Albans hatten auch wieder 2 Kinder mehr zurückgebracht und hatten jetzt drei Töchter: Emilie, Marie und Lilli; letztere wurde am 29. Februar 1808 geboren. Wenn die Heidelberger mit ihren drei Mädeln zu uns kamen, war ein großer Spektakel im Hause,[54] und »der Schwarz« und Vaters Sekretär, Herr Ilgen, hatten sehr viel zu tun, die Kinder in der Reihe zu halten.


1809.


Im Jahre 1809 kam zwar kein Kind auf die Welt, aber es kam doch eine neue und liebe Hausgenossin dazu, unsere liebe, interessante Großmutter. Wie es gekommen ist, daß die Großeltern sich wieder getrennt haben, weiß ich nicht; vermutlich machte es der unter Kaiser Napoleon unaufhörliche Garnisonswechsel den Offiziersfamilien unmöglich, dem Familienhaupt überallhin zu folgen. Die Großmutter hatte natürlich auch ihre unaussprechliche Freude mit ihren Enkeln. 1809 war das Christkindl schon sehr brillant, die kleine Ros' bekam aus der Schweiz viele schöne Sachen geschickt.


1810.


Für dieses Jahr muß ich mir eine frische Feder schneiden lassen, denn es kommt ein Knalleffekt. Am 28. Januar, abends 10 Uhr kam ein Mägdlein auf die Welt, welches durch seinen großen Mund und seine schwarze Haut zu den schönsten Erwartungen berechtigte. Da dieses Mädchen »Amanda« getauft wurde, so verbietet mir die Bescheidenheit, zu bemerken, daß sie hinter den kühnsten Erwartungen zurückgeblieben ist. Es mag sein, daß ich recht erschrocken bin, weil der Nachtwächter in dem Augenblicke blies, als ich auf die Welt kam, und daß ich mich deshalb mein ganzes Leben lang vor dem Nachtwächter gefürchtet habe. Die Urgroßmutter war aus der Schweiz hergereist, um mich aus der Taufe zu heben, und wahrscheinlich geschah es auf ihren Wunsch, daß ich den Namen ihrer verstorbenen Enkelin Amanda erhielt. Bei der Taufe hielt mich Urgroßmutter auf den Armen, und die kleine Ros' hielt eine Kerze. Auf dem Tische stand ein Kruzifix, welches nur einen Arm hatte, so daß Ros' den Herrn Pfarrer fragte: »Was ist denn das? Ist das der Storch?« Das Jahr 1810 hatte genug geleistet, als es mich zur Welt brachte, und man konnte ihm nicht mehr zumuten.


1811.


Das Jahr 1811 brachte nicht nur den großen Kometen, es brachte auch guten Wein und unsere gute Schwester Amalie, als[55] Kind »Male« genannt. Wir 4 Kinder: die Ros', der Gustl, die Male und ich, wir machten unseren 4 Kindsmägden, der Großmutter, der Mutter, dem »Schwarz« und Herrn Ilgen viel Plage; auch der Vater wurde in seinen freien Stunden beigezogen. Er ging mit uns im Zimmer auf und ab und sprach: »Äpfel und Biere, mit langem Stiele, Wendum!« oder er zog dem Buben den Kopf zwischen den Beinen durch und ließ ihn einen Purzelbaum machen; oder er spielte Papiermüller mit uns: »Holleho! Wer ist do? Der Papiermüller. Was macht er? Papier. Wie macht er's? So!« und mit welcher Herzenslust klopften wir da auf den Tisch! Aber wenn wir ungezogen waren, wie erschraken wir auch, wenn uns der Vater zurief: »Wart, ich will euch den Kopf zwischen die Ohren stecken!« – Gustl, welcher sich einmal an heißen Fleischkücheln den Mund verbrannt hatte, nannte diese fortan »Beißmichnicht«, welchen Namen sie im Loewschen Hause auch behielten. Ros' war, wie auch leicht begreiflich, der entschiedene Liebling des Vaters und Gustl der der Mutter; die Großmutter hing sich mit ganzer Seele an ihr kleines Patchen, an die Male, so daß ich leer ausging. Es müßte nur sein, daß der »Schwarz« und Herr Ilgen sich in mich geteilt hätten, wovon ich aber niemals etwas gehört habe. Der Vater zeigte mir auch den großen Kometen und konnte seinerzeit nicht begreifen, daß ich mich (10 Jahre später) nicht mehr daran erinnerte. Am 2. April 1811 wurde der Vater Juge suppléant in Speyer.


1812.


Das Jahr 1812, welches so viele Menschen unglücklich gemacht hat, war auch eines der unglücklichsten im Leben unserer Eltern. Im Anfange des Jahres bekamen sie einen Sohn, den Hänsel, nach 7 Monaten starb er, und 8 Tage nach ihm starb auch Gustl; Ros' war einige Wochen vor diesen beiden gestorben. Von diesen drei Geschwistern weiß ich aus eigener Erinnerung gar nichts mehr, als daß ich den Gustl als Leiche gesehen habe. Als Ros' und Gustl starben, setzte sich der Vater in den Kopf, sie hätten sich vergiftet. Es war nämlich in unserem Garten auch Sauerampfer gepflanzt, von welchem wir Kinder immer aßen, wenn wir in den Garten kamen. Inmitten dieses Sauerampfers fand man nun[56] auch eine Schierlingpflanze, und dieses gab Veranlassung zu obiger Annahme. Meine Wenigkeit erkrankte auch, ganz mit den nämlichen Symptomen, mit welchen die anderen erkrankt waren; aber es zeigte sich, daß ich den Scharlach hatte. Ich war 9 Wochen lang krank und dabei unaussprechlich ungezogen; zwang dadurch auch eine Magd, sich zu mir ins Bett zu legen, auf welche ich mich als glühender Balken querüber legte. Ich kam, Gott sei Dank, mit dem Leben davon, und da sie dann niemand mehr hatten, als die Male und mich, so werde ich nach meiner Krankheit besser in Ansehen gestanden sein als vorher; Male blieb vom Scharlach befreit. Nun waren von 6 Kindern nur noch 2 übrig, und die Mutter war am Schluß des Jahres auch noch unglücklich, wahrscheinlich infolge des vielen Schreckens, den sie durchzumachen hatte. Es wäre hinreichend gewesen, um schwer gebeugt zu sein, wenn auch nur das Unglück mit den Kindern allein gekommen wäre, aber es kam noch mehr. Als das französische Heer nach Rußland zog, kam der Großvater auf dem Durchmarsche zu uns; wir hatten ihn noch nicht gesehen und saßen eines Mittags bei Tisch, als ein hagerer blasser Mann in einer roten Uniform ins Zimmer schwankte, so leise, daß ihm kaum jemand hörte. Die Großmutter blickte von ihrem Teller auf und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Es war der Onkel Pepi, ihr Sohn, ihr durch die Gefangenschaft zugrunde gerichteter Sohn. Pepi hat sich in diesem Zustande des Elends malen lassen, und wir alle kennen das traurige, bleiche Bild. Am 23. Juli 1808 war nämlich die Kapitulation von Baylen abgeschlossen worden, und Onkel Pepi, der sich beim Korps des General Dupont befand, wurde jenen zugeteilt, die nach Cabrera kamen, wo sie die Engländer fast alle verhungern ließen. Die Gefangenen waren auf Cabrera ganz entsetzlich schlecht behandelt worden, nur im Anfang hatte man sie notdürftig mit Nahrung versehen, aber später waren sie ganz vergessen worden. Sie hatten nicht einmal alle Obdach, und außer einigem halbwilden Vieh gab es nichts Eßbares auf der Insel. Der größte Teil der Gefangenen ist buchstäblich verhungert; Pepi sagte, es sei im letzten Jahre ein einziges Schiff an der Insel gelandet. Viele der Armen ertränkten sich, und auch unser Onkel sprang mit dieser Absicht mehrmals ins Meer; aber da er schwimmen[57] konnte, so leitete ihn der Erhaltungstrieb immer wieder ans Ufer. Als man sich der armen Kriegsgefangenen nach 3 Jahren erinnerte, waren von den 300 Mann, welche die Engländer nach Cabrera gebracht hatten, noch 29 am Leben. Diese hatten sich in einem alten Turm eingenistet, dem einzigen Gebäude, welches sich auf der Insel befand. (Die Franzosen haben die Knochen in einen ungeheuren Haufen jetzt zusammengetan und ein Monument errichtet.) So hatte unser armer Onkel zwar seine Freiheit wieder, aber seine Gesundheit war unwiederbringlich verloren, er litt in hohem Grade an Epilepsie, alle Heilungsversuche scheiterten.

Der Großvater befand sich mit der großen Armee auf dem Marsche nach Rußland in Magdeburg und hatte Gelegenheit, eine gute Tat zu verrichten, welche ihm reiche Früchte trug. Er ging nämlich in einem Walde, nicht fern von der Landstraße, spazieren und hörte schreien wie Hilferufe, ging sogleich auf den Ort zu, woher dies kam, und fand einen umgeworfenen Reisewagen und eine Dame, welche jammernd daneben stand. Der Kutscher lag gebunden am Boden, und 3 Kerls waren beschäftigt, den Wagen auszuräumen. Der Großvater zog den Degen und stürzte auf sie los, so daß diese nach kurzer Gegenwehr die Flucht ergriffen. Er löste dann die Bande des Kutschers, half ihm den Wagen aufrichten und wieder packen, hob die Dame hinein und begleitete sie noch ein Stück Weges, bis sie ganz in Sicherheit war. Die Dame war natürlich voller Freude und Dankbarkeit.

In Speyer herrschte indessen große Betrübnis wegen Pepis traurigem Zustande, und dadurch verdoppelte sich die Angst und Besorgnis um den Großvater, der auch schon 58 Jahre alt war. Um nun diesem Jammer abzuhelfen, entschloß sich unser Vater, der immer lieb- und hilfreiche, dem Großvater nachzureisen und ihn womöglich zurückzubringen. Der Großvater war unendlich gerührt, als der Vater bei ihm eintraf.

Ich muß hier einschalten, daß der Großvater sein ganzes Leben lang, d.h. den ganzen Rest seines Lebens, von der innigsten Liebe und Dankbarkeit für den Vater erfüllt war. Er verehrte ihn so sehr, daß diese Verehrung an Anbetung grenzte. Wenn die Mutter den Vater manchmal ein wenig quälte, war der Großvater ganz entrüstet. Die Mutler quälte aber den Vater nur deshalb, weil[58] er sie zu sehr verwöhnt hatte. Wenn die Mutter weinte, suchte der Vater alles mögliche auf, sie zu beruhigen. Sie hatte einmal ausgesprochen, es gefalle ihr so gut in Baden-Baden, und nun ließ er sie jedes Jahr einen Aufenthalt dort nehmen. Sie durfte alles tun, was sie wollte, und der Vater wurde nur dann ungeduldig, wenn sie ihn in seiner Studierhöhle störte. Ich denke, der armen Mutter Nerven waren recht angegriffen durch die vielen Wochenbetten und den Kinderlärm. Der Großvater nannte den Vater immer »Herr Sohn«, und dieses »Herr Sohn« sprach er in einem Tone, welcher an Andacht grenzte.

Doch wir dürfen unsere beiden Herren nicht gar so lange in dem staubigen Magdeburg sitzen lassen. Der Großvater war nach fast 36 Dienstjahren nicht mehr sehr darauf versessen, den Feldzug nach Rußland mitzumachen, allein er zweifelte, ob er seinen Abschied bekommen werde. Der Vater verfügte sich zum Kommandanten, dieser aber wollte nichts von Abschied hören, so daß Vater und Großvater bereits alle Hoffnung aufgegeben hatten und in nicht sehr gehobener Stimmung einen Spaziergang auf dem Walle machten. Hier begegneten sie einem Herrn und einer Dame und erkannten in ersterem den Kommandanten, während letztere zu gleicher Zeit in dem Großvater ihren Retter aus Räuberhand erkannte und auf die lebhafteste Weise die Freude zu erkennen gab, ihn wiederzufinden. Jetzt kam auch dem Herrn General die Einsicht, daß der Großvater seine Pension wohl verdient habe. Er versprach, ihm dieselbe zu verschaffen, und erwirkte auch, daß der Großvater sogleich austreten und mit dem Vater heimreisen durfte. Der Großvater bekam zwar seine Pension niemals, aber er hat es gewiß nie zu fühlen gehabt, daß unser Vater sein Erhalter war. So hatte der Vater nicht nur seine Frau und Kinder im Hause, sondern auch die Schwiegereltern und den Schwager. Ein anderes Glied der Familie war leider während seiner Abwesenheit verschwunden, nämlich sein Bruder »der Schwarz«. Er war wieder betrunken gewesen, schämte sich sehr, weinte der Mutter einen ganzen Tag vor und war am anderen Morgen verschwunden, ohne jemals wieder zum Vorschein zu kommen. Der Vater gab sich alle erdenkliche Mühe, um seines Bruders wieder habhaft zu werden. Allein er hörte nichts mehr von ihm als ein dunkles Gerücht, er[59] habe sich in Frankfurt engagieren lassen; wahrscheinlich liegt er bei den Hunderttausenden, welche in Rußland den Tod fanden. Wir Kinder warteten fort und fort auf die Wiederkehr des »Schwarz« und machten uns über sein Schicksal die abenteuerlichsten Illusionen.


1813.


Unser Vater muß als Advokat sehr viel Geld verdient haben, sonst wäre es nicht möglich gewesen, diesen kostspieligen Haushalt durchzuführen und doch noch etwas zu erübrigen, wie dieses ja geschah. Er kaufte jetzt ein kleines Anwesen in Berghausen bei Speyer, ein Stück Land von 15 Morgen, ließ das darauf stehende Bauernhaus einreißen und ein anderes einfaches Häuschen nach seinem Geschmacke aufbauen. Berghausen hat eine gesündere Lage als Speyer, und der Vater bestimmte dieses Häuschen für die Großeltern und deren unglücklichen Sohn Pepi. Er hoffte, auf dem Lande werde er sich doch vielleicht erholen können. Allein seine liebevollen Bestrebungen sollten erfolglos bleiben; die Anfälle, denen der arme Onkel unterworfen war, wurden immer heftiger. Auf eigenen Wunsch des Patienten und auf Zureden der Eltern entschloß sich der Vater endlich, den Unglücklichen in das Militärspital nach Chârendon zu bringen. Als französischer Offizier hatte er das Recht, die Pflege daselbst zu verlangen. Wenige Monate später ist der Arme dort am Blutsturz gestorben; er war erst 33 Jahre alt.

Der Vater hatte mit den Heidelbergern auch wieder Sorgen. Albans gaben ihren Laden zum zweitenmal auf und zogen wieder nach Gossau. Zu Ende dieses Jahres bekam die Mutter einen Knaben, das Fritzel, welcher am 9. Tage schon starb. Während dieser ganzen Zeit hatte es immer Einquartierung gegeben, allein was geniert das Kinder? Male und ich hatten immer die größte Freude, wenn wir wieder neue Einquartierung bekamen. Unter anderem war auch einmal der spätere bayrische Rittmeister Koller bei uns im Quartier und setzte einmal mit seinem Pferde über das grüne Geländer, welches das Plätzl umgab, als andringende Russen gemeldet wurden. Dieser spätere Rittmeister Koller wollte mich, als ich 15 Jahre alt war, heiraten und meinte, ich solle[60] einen Fußfall vor dem König tun, damit er uns ohne Kaution heiraten lasse; ich hatte aber weder zu einem noch zu dem anderen Lust. Ich erinnere mich noch dunkel, wie sehr unsere Eltern und Großeltern in Aufregung waren, als die Schlacht bei Leipzig geschlagen wurde, hatte aber natürlich damals keine Idee von dem, was vorging.


1814.


Es kamen die Retirade der französischen Armee und dann die ihr folgenden Heere der Alliierten. Ich erinnere mich noch des Einzugs der Kosaken mit ihren langen Spießen, sowie des verheerenden Auftretens des Typhus in jener Zeit. Die Leichen wurden auf Leiterwagen nach dem Kirchhof gefahren. Arme und Beine hingen zu den Leitern heraus. Einmal konnte man sie abends nicht mehr einscharren, von einzelnen Gräbern konnte natürlich keine Rede sein, sondern man warf sie zusammen in eine große Grube, und als am andern Morgen der Totengräber auf den Kirchhof kam, um die Leichen mit Erde zu bedecken, war einer davon wieder zu sich gekommen und saß am Tor. Unser Arzt, Dr. Dukar, der unserem Hause nahe befreundet war, erzählte uns dieses und war zwei Tage darauf selbst eine Leiche.

Es gab in jener Zeit ganz entsetzliche Ereignisse und Einquartierung zum Überdruß. Am zuwidersten waren uns die unflätigen Russen, welche uns immer küssen wollten. Uns Kinder interessierten aber wenig diese Retirade, dieser Typhus usw., wohl aber beschäftigte sich mein Kopf mit der Kontroverse, ob es einen Osterhasen gebe. Male verklagte mich wegen dieser Gotteslästerung bei Herrn Ilgen. Dieser verstand es prächtig, auf die Ideen der Kinder einzugehen; er rief uns eines Morgens in den Garten und sagte zu mir: »Da sieh einmal, Amanda, der arme Osterhas'!« Ein Hase steckte im Buchs, welcher sich scheinbar mit einem Spahn gespießt hatte, und da noch einige Eier hinter ihm lagen, so waren meine Zweifel vollständig widerlegt, und Male und ich weinten bitterlich, weil der Osterhase nunmehr gestorben war.

Der Großvater und die Großmutter hatten den ganzen Sommer in Berghausen gewohnt und die Male auch mit hinausgenommen; es war aber sehr traurig für mich, meine Gesellschafterin zu verlieren,[61] und vermehrte noch mein träumerisches Wesen. Glückselige Tage waren die, wenn ich mit der Mutter nach Berghausen durfte und wir dann bei der Großmutter grüne oder Kässpätzle aßen. Manchmal kochte auch der Großvater. Er war in seinem bewegten Leben oft in die Lage gekommen, es praktisch üben zu müssen. Brod zur Suppe oder die Nieren recht fein schneiden, das waren ohnedies seine beständigen Aufgaben. Ein Gericht von übrigem Fleisch, Weck und Eiern bereitet, nannte er und wir ihm nach: »Katzeng'schrei«. Im Herbst kamen die Großeltern wieder in die Stadt. In diesem Jahr kam auch der Anfang eines langen, langen Kummers für uns alle. Der Vater hatte ein Gichtleiden im Fuß, was ihm der Arzt ungeschickterweise vertrieb, so daß sich der Krankheitsstoff auf die Brust warf. Unser lieber, guter Vater wurde brustleidend und blieb es sein Leben lang. Noch jetzt, wenn ich manchmal recht zerstreut bin, glaube ich den Vater husten zu hören, und es rieselt mir kalt über den Rücken. Wenn unser Vater nicht so regelmäßig und einfach gelebt hätte, hätte er nicht 62 Jahre alt werden können.


1815.


Jeden Abend saßen Male und ich in der oberen Kinderstube auf 2 kleinen Kinderstühlen und hatten zwei Teller Brei vor uns. Wir ließen den Brei stets eine Weile stehen, damit er eine Haut ziehe, und es war jeden Abend ein Gegenstand hohen Interesses, zu untersuchen, wer eine dickere Breihaut habe. Am Abend des 6. Januar 1815 mit einer solchen Vermessung beschäftigt, brachte uns die Großmutter die Nachricht: »Ihr habt e Brüderle kriegt«. Welches Erstaunen und welche Freude. Die Großmutter führte uns hinunter in die »braune Stub'«, wo das Brüderle eben gewaschen wurde. Male und ich waren ganz verklärt von Glück, besonders als das Brüderle wieder gewickelt war und wir es ein wenig auf den Arm nehmen durften. Das Brüderle wurde »Titus« getauft. – In diesem Winter lehrte mich der Großvater heimlich lesen und schreiben, und wir überraschten den Vater mit meinen errungenen Kenntnissen, welcher mich aus Freude darüber in einen Buchladen führte und mir Raffs Naturgeschichte kaufte. An dem ersten Kinde finden die Eltern alles wunderbar.[62]

Infolge der Kriegsereignisse kam ein Teil der deutschen Lande auf dem linken Rheinufer von Frankreich wieder an Deutschland; darunter war der spätere bayrische Rheinkreis. Hiervon war eine Folge, daß man sich um landeskundige tüchtige Männer umsah, welche die entfernten französischen Verwaltungsbeamten ersetzen sollten, und man machte auch unserem Vater Anträge, in die provisorische gemeinschaftliche Landesadministration als Rat einzutreten. Da die Anstrengung des öffentlichen Redens für das Brustleiden des Vaters bedenklich erschien, so nahm er die angebotene Stelle als Rat an, obwohl sie lukrativ weit hinter seiner Anwaltspraxis zurückblieb. Am 8. April 1815 erhielt er seine Berufung zur Kriegsschulen-Liquidationskommission, welche ihren Sitz zuerst in Kreuznach hatte, und am 1. Mai 1816 als Rat bei der Landesadministration, zuerst in Worms, dann in Speyer etabliert, wo die Herren Kurz, Boyé, Siegel und Fliesen seine Kollegen waren. Vermutlich war es dem Vater zweifelhaft, ob der Sitz der Administration in Worms bleiben werde, denn er nahm nicht gleich seine ganze Familie, sondern – um nicht ganz allein zu sein – nur mich mit nach Worms. Am Tage, an dem ich 5 Jahre alt wurde, befand ich mich mit dem Vater ganz allein in Worms, und er schenkte mir einen Dukaten. Zuerst wohnten wir bei Dabry auf dem Markte und dann in der Wallergaß bei einem Musikanten, welcher Alfutt hieß. Wir fuhren recht oft nach Speyer und besuchten die Mutter und in Berghausen die Großeltern; wir hatten damals 3 Haushaltungen: in Berghausen der Großvater, die Großmutter und die Male; in Speyer die Mutter mit dem Titus und seiner Bäwel, und in Worms der Vater und ich. Herr Ilgen war auch in Speyer und ordnete des Vaters Papiere.

Der Weg von Speyer nach Worms war mir immer sehr interessant, aber auch sehr schauerlich wegen des großen Waldes zwischen Speyer und der Rehhütte; namentlich war das Knoblaucheck ein gefürchterer Punkt, wo auch Regierungsrat Fliesen einmal von Schinderhannes angepackt worden sein soll.


1816.


Ich weiß nicht, ob ich im Jahre 1816 wieder mit dem Vater in Speyer war; jedenfalls war ich zu der Zeit dort anwesend, als[63] die Großmutter erkrankte, welche im Winter in die Stadt gekommen war. Sie starb nach ganz kurzer Krankheit infolge des Genusses von Schnecken am 2. Februar 1816. Infolge dieses unglücklichen Ereignisses durfte von da an in unserem elterlichen Hause nie mehr dieses Gericht zubereitet werden, welches bekanntlich ein Lieblingsgericht der Alemannen ist. Während die Großmutter krank war, waren wir bei unserem Nachbarn, Friedensrichter Ziegenhain, in Kost und Wohnung. Bei der Beerdigung fuhr die Mutter mit uns Kindern nach Heiligenstein, wo wir in einem Wirtshaus abstiegen und Kaffee tranken. Wir hörten aber doch das Grabgeläute, und als die Mutter weinte, weinten wir mit, ohne eigentlich zu wissen warum; denn wir hatten noch keinen Begriff vom Tode.

Etwas später wohnten wir alle in Worms, mit Ausnahme des Großvaters und des Herrn Ilgen, welche das Haus in Speyer hüteten. Wir bezogen in Worms eine größere Wohnung, in welcher es so viele Ratten gab, daß wir sie nur das Rattennest nannten. Lange wohnten wir nicht in diesem Rattenloche, denn schon im März wohnten wir in einem anderen hübschen, an die Stadtmauer angebauten Hause. In diesem wurde am 4. April unser lieber, unvergeßlicher Anton geboren. Es war eben Messe in Worms, und wie uns der Vater das Brüderlein zeigte, da sagte die Mutter: »Es ist mir nur leid, daß ich nicht mehr zum 10 Batzen-Mann gekommen bin; der hatte so hübsche Sachen.« Da erwiderte der Vater: »Sei nur ruhig, Alte, ich hole Dir etwas beim 10 Batzen-Mann« und ging und kaufte ihr die »Löwentasse«, welche ich noch habe. Der Vater bat die ganze Liquidationskommission, nämlich die oben genannten 4 Herren nebst ihren Frauen zu Gevatter.

Jetzt sind bereits alle tot: Vater, Mutter, Kind, die 8 Gevattersleute und die alte Bäwel, die treubewährte Amme. Nur die Tasse mit dem Löwen existiert noch, aber sie ist jetzt auch eine Ruine. In München wurde das Plättchen zerbrochen, und ich ließ nach den Scherben in der Porzellanfabrik ein neues dazufertigen, und nun hat auch die Bärentasse selbst einen Sprung. Sie hat diesen Sprung zwar bekommen, als die berühmte Frau von Buliowsky Tee daraus trank, allein es ist halt doch ein Sprung.

Es wurde eine große Kindtaufe veranstaltet, allein Male und ich durften nicht dabei zugegen sein, sondern wurden zu einer Frau[64] gebracht, welche hinter dem Dome wohnte und eine Strickschule hatte. Kaum wendete diese Frau den Rücken, so liefen wir nach Hause, um die Kindtaufe zu sehen. Im Vorzimmer stand ein Osterlamm von Zucker in einem Gebüsch von Rosinenzweigen. Es war das herrlichste, was eines Kindes Auge sehen konnte; wir blieben wie versteinert vor dem Lämmchen stehen. Da kam der Vater, schenkte jeder von uns einen Sechser und sagte: »Kauft euch etwas auf der Messe und bleibt dann in der Strickschule bis heute abend.« Wir liefen vergnügt davon und kauften uns rot lackierte Gießkännchen. Im Laufe der Zeit verzehrten wir das ganze Zuckerlamm; sein Wohlgeschmack war aber bei weitem nicht so groß, als sein Anblick schön gewesen war. Wir waren nun nicht mehr lange in Worms, denn der Vater wurde noch im Jahre 1816 Regierungsrat in Speyer.

Onkel Alban war jetzt abermals nach Heidelberg gezogen und hatte eine vierte Tochter: »Julchen« mitgebracht. Er gab dann aber den Laden, der gegenüber dem Schäferschen Kaffeehause lag, auf, den Louis Künzle, der Tante jüngerer Bruder, übernahm und der vielleicht noch in seinem Besitz ist.


Hier schließt Tante Amanda von Dall'Armi's Erzählung.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 48-65.
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