Neue Verbote

[33] Es besteht kein Zweifel, daß die alten, ursprünglichen Tabus im Lauf der Zeiten gelockert worden sind. Kein Mensch sieht sich um, wenn jemand heute zum Beispiel ein Fäkalwort gebraucht. Man hat sich aber zu fragen, ob es nicht auch neuere Restriktionen, also neue Wort-Verbote gibt, die die alten in gewissem Maße ersetzt haben. Es gibt sie, obwohl man normalerweise annimmt, die Sprache werde immer freier von Restriktionen. Nur darf man sie nicht mehr als Tabus bezeichnen, denn sie beruhen nicht auf den alten magischen, sondern auf neueren human-aufklärerischen Vorstellungen.

Ältere Menschen, die an ihren früheren Sprachgewohnheiten festhalten, beginnen zu bemerken, daß sie mit einer Anzahl ihrer Wörter Anstoß erregen. Da hat einer jahrelang von »Neger« oder »Nigger« gesprochen, von »Dienstmädchen« und »Tippmamsell«, von »Krüppeln«, von »Irrenanstalten«. Nun muß er erleben, daß er Protest erntet und zudem als hoffnungslos veraltet gilt. In der Tat darf man heute eher »Scheiße« sagen, als diese Wörter benützen. Sie sind im allgemeinen Sprachgebrauch durch andere ersetzt worden: »Schwarze«, »Hausangestellte«, »Schreibkraft«, »Behinderte« »psychiatrische Kliniken«.

Was haben diese neuen Restriktionen gemeinsam? Sie beziehen [33] sich alle auf bestimmte Minderheiten und verlangen, daß diese nicht durch verächtlich klingende oder traditionell mit Unterdrückung assoziierte Wörter diskriminiert werden. Menschen sollen nicht mit Wörtern bezeichnet werden, die ihre Rasse, ihr Geschlecht, ihren Beruf und gewisse körperliche oder geistige Schäden negativ hervorheben. Dies ist, wie gesagt, eine aufklärerische Forderung: die sprachliche Konsequenz dessen, daß alle Menschen a priori als gleichwertig anzusehen seien.

Neben den vielen generell verbotenen Wörtern gibt es auch Wörter, die einem Menschen von einem anderen von Fall zu Fall verboten werden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß mit der Lockerung der »offiziellen« Restriktionen eine gewisse Verschärfung der rein persönlichen Verbote einhergeht. Wir haben diese individuellen Sprachverbote, da sie häufig bei Paaren vorkommen, im Kapitel über »Sprache und Liebe« behandelt (siehe Seite 166). Dort nehmen wir als Beispiel den Liebesroman »Fear of Flying« von Erica Jong (1974), der so freizügig erzählt ist, daß darin scheinbar alle Tabus gebrochen sind: Sowohl die Autorin als ihre Personen gebrauchen laufend tabuierte Ausdrücke. Ganz unvermittelt erscheint dann aber eine persönliche und individuelle Sprachrestriktion: der Liebhaber der Heldin verbietet ihr den Gebrauch gewisser Wörter. Dieses Beispiel besagt zweierlei: Einmal, daß man über den allgemeinen Restriktionen die persönlichen nicht vergessen darf, und zweitens, daß es sprachliche Restriktionen überall gibt; nicht nur, wie man meinen könnte, in puritanischen oder sonstwie gehemmten Kreisen, sondern auch in solchen, die sich von allen Fesseln befreit glauben.


[34] ZU BEACHTEN


Die Tabuierung gewisser Wörter ist uralt.


Heute darf man die alten Wort-Tabus brechen, wenn man folgende Regeln beachtet:


1. Zurückhaltung, wenn das Gespräch Gruppengrenzen überschreitet.

2. Gegenüber Frauen keine mechanistischen »Sex-Wörter«.

3. Tabu-Wörter: im Affekt: ja, gewohnheitsmäßig: nein.

Eigennamen nie vergessen oder verdrehen.


Ältere Menschen sollen die neuen Restriktionen beachten.

Fußnoten

1 Für weitere Details und Literaturangaben siehe Ernst Leisi: »Paar und Sprache«, 3. Auflage, Heidelberg 1990, S. 27 ff. und Anmerkung 23.


2 Dieser Versuch ist durchgeführt in dem an guten Tips reichen Handbuch von Michael Swan: »Practical English Usage«, Oxford 1980, wo unter dem Stichwort »Taboo Words« eine Reihe solcher Wörter angeführt und – fast wie im Baedeker – je nach Saftigkeit mit einem oder gar mehreren Sternen versehen sind: das Wort »damn« erhält nur einen Stern, »shit« dagegen vier.


3 Der Begriff Silly Fool im Slang einer englischen Schule, Schweizer Anglistische Arbeiten 106, Bern 1982


4 Ein kleines aber streitbares Buch einer Frau zum Thema Männersprache ist Karin Huffzky: »Wer muß da lachen? – Das Frauenbild im Männerwitz«, Darmstadt, Luchterhand 1979.


5 Man vergleiche die Kapitel I bis III in Freuds »Psychopathologie des Alltagslebens«.


6 Über die Namensmagie von Liebespaaren siehe Leisi: »Paar und Sprache«, S. 23 ff.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993.
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